Opfer Patient. Dieter Wissgott
der Wirbelsäule, Querschnittslähmung nach Herzoperation, Sturz vom OP-Tisch – es kann manchmal an surrealistische Alpträume grenzen, was sich unter der sachlichen Bezeichnung des »ärztlichen Kunstfehlers« verbirgt. Dies sind nur drei Fälle aus einer umfangreichen Sammlung von Arztfehlern und ihrer juristischen Aufarbeitung, die in meiner Anwaltspraxis über die Jahre hinweg entstanden ist. Es sind keine Alpträume, sondern Begebenheiten, die sich wirklich ereignet haben – Unglücksfälle, die zu Rechtsfällen wurden und die Gerichte beschäftigt haben. Leider nur selten mit glücklichem Ausgang für die Geschädigten.
Ich habe aus meiner Sammlung 23 dieser Fälle ausgewählt. Sie sollen dokumentieren, welche Hürden- und Hindernisläufe, welche psychischen Belastungen und erneuten Verletzungen damit verbunden sind, wenn man, mit einem weiteren Allgemeinbegriff, seine »Rechte als Patient« wahrnehmen will. Das Thema wird längst kontrovers diskutiert. Die Öffentlichkeit wurde durch Medienberichte und Talkshows sensibilisiert. Die Politik hat ein neues Gesetz formuliert, das selbst wieder für Diskussionsbedarf sorgt. Ich habe in meiner Fallsammlung eine Reihe von Defiziten nicht nur im medizinischen, sondern auch im juristischen Bereich festgestellt, die sich immer wieder antreffen lassen. Sie sollten in dieser Diskussion berücksichtigt werden.
Das Buch richtet sich nicht gegen die Ärzteschaft, auch wenn es in manchen Teilen polemisch wirkt. Das liegt an den häufig empörenden Fällen. Ärztliche Kunstfehler sind selten, sie haben aber oft tragische Folgen. Ärzte sind, wie man sagt, »Halbgötter in Weiß«. Sie mögen deshalb unfehlbar sein. Aber eben nur halbwegs. Behandlungsfehler sind nie ganz zu vermeiden. Die hier dokumentierten Fälle machen allerdings deutlich, dass dabei nicht nur unverständliche Nachlässigkeit, sondern sogar Ignoranz mit im Spiel sein kann. Sie decken auch Fehler in den Strukturen auf, etwa die Behandlungsmisere an Sonn- und Feiertagen, die fehlende Kommunikation und Koordination, selbst in überschaubaren Kreiskrankenhäusern, oder die kaum bekannte Tatsache, dass Ärzte keine Berufshaftpflichtversicherung abschließen müssen – Fehler, die sich sehr wohl vermeiden ließen, wenn Politik und Berufsverbände dazu bereit wären, aus ihnen zu lernen.
Das Buch wendet sich genauso wenig gegen die Richterschaft, auch wenn manche der dokumentierten Urteile kaum weniger skandalös sind. Es kann aber auf Probleme in den juristischen Prozeduren aufmerksam machen, die sich zum Nachteil der Geschädigten auswirken. »Ärztepfusch« mag nie ganz zu vermeiden sein. Es wäre aber durchaus zu vermeiden, dass Richter ihre Kompetenz, über solche Fälle zu urteilen, mechanisch an ärztliche Sachverständige abgeben. Und dass deren Auswahl nach dubiosen Kriterien erfolgt, so dass manchmal der Bock zum Gärtner wird. Oder dass der Ablauf des Verfahrens dafür sorgt, dass das körperliche Leiden der Betroffenen zum seelischen wird.
Einige Lehren, die Patienten aus den dokumentierten Fällen entnehmen können, wenn sie sich zu einer Operation entschließen oder glauben, Opfer eines Kunstfehlers zu sein, habe ich am Schluss des Buches in Gestalt von »Zehn goldenen Regeln« formuliert.
Für die Geschädigten beginnen die Probleme in fast allen Fällen mit der Arroganz der Ärzte, ihrer beanspruchten Unfehlbarkeit. Unterstützt wird diese Haltung in unheiliger Allianz von den Berufshaftpflichtversicherern und – bei kommunalen Krankenhäusern – von kommunalen Versicherungseinrichtungen. Hier sind vielfach sogenannte Gesellschaftsärzte tätig, bei denen es sich zumeist um Ruheständler handelt. Sie können schon aus Altersgründen nicht mehr auf dem Stand der Wissenschaft sein und stärken oft die Argumentation der Versicherung – nach dem Motto: »Wes’ Brot ich ess, des’ Lied ich sing.«
Wer sich nicht einschüchtern lässt, ist mit der Aussicht auf einen jahrelangen Prozess konfrontiert. Der geschädigte Patient muss nicht nur Geduld haben, sondern auch Kraft – und eine Rechtsschutzversicherung. Wenn er die erheblichen Kosten für das Verfahren nicht aufbringen kann, hat er die Möglichkeit, eine staatliche Prozesskostenhilfe zu beantragen. Er muss aber darüber aufgeklärt werden, dass er trotzdem die Kosten für den Gegenanwalt aufbringen muss, wenn der Prozess verloren geht.
Die Richterschaft ist über Arzthaftpflichtprozesse nicht glücklich. Die Verfahren sind langwierig, schwierig und keineswegs immer von Verständnis für den geschädigten Patienten getragen. Zur Abkürzung solcher Verfahren hat der Gesetzgeber in die Zivilprozessordnung nachträglich eine Bestimmung eingeführt, die dem Gericht die Möglichkeit gibt, vorab das Gutachten eines medizinischen Sachverständigen einzuholen. Dieser soll den Streitstoff auf die nach seiner Auffassung wesentlichen Punkte fokussieren.
Der Sachverständige geht dabei, ohne Vernehmung von Zeugen, von der Richtigkeit der Eintragungen in der Patientenakte aus. Dabei wird nicht ausreichend bedacht, dass hier – was leider nicht selten ist – Aufzeichnungen fehlen können oder vielleicht so verfasst wurden, dass fehlerhafte Diagnosen oder Therapieleistungen nicht unbedingt zu erkennen sind. Wenn zum Beispiel eine beginnende Infektion nicht oder nicht rechtzeitig erkannt und therapiert wurde, in der Dokumentation aber eingetragen ist, dass der Stationsarzt den Wundbereich angesehen hat, geht der Sachverständige in der Regel davon aus, dass kein Diagnose- oder Behandlungsfehler vorliegt – weil er ja sonst dokumentiert worden wäre.
Solche Zirkelschlüsse scheinen für das Gericht häufig so zwingend zu sein, dass es sich durch später vernommene Zeugen kaum noch vom Gegenteil überzeugen lässt. Auch die formale Widerspruchsfreiheit des Gutachtens wird in manchen Urteilsbegründungen als Beweis für seine Richtigkeit angeführt. Die zur Abkürzung der Prozesse geschaffene Prozessbestimmung vorheriger Gutachtenerstattung erweist sich dann als nachteilig für den Geschädigten.
Ebenso fatal ist die häufige Praxis der Gerichte, die Bestimmung des medizinischen Sachverständigen den Ärztekammern der betreffenden Bundesländer zu überlassen. Die Ärztekammern verfügen über eine Liste von Sachverständigen mit den jeweiligen Fachgebieten. Die Auswahl trifft aber der bei den Kammern tätige Geschäftsführer, der zumeist als Jurist mit Verwaltungsaufgaben befasst ist. Jeder Richter könnte sich die entsprechende Kompetenz leicht selbst verschaffen, wenn er die einschlägigen Veröffentlichungen im Internet konsultiert. Er findet dort schnell eine Liste von Sachverständigen aus anderen Bundesländern – auf die er eigentlich zurückgreifen müsste, um eine regionale Nähe und persönliche Bekanntschaft unter Fachärzten zu vermeiden. Die Ärztekammern sind aber auf Länderebene organisiert und überschreiten selten ihre örtliche Zuständigkeit.
Es wäre also sinnvoll, dass jede Beauftragung eines Sachverständigen mit einem Fragenkatalog zu persönlichen und fachlichen Kontakten zu Arztkollegen gleicher Fachrichtung verbunden wird, bevor der Auftrag erteilt wird.
Ist schließlich ein Sachverständiger ausgewählt, dann muss der geschädigte Patient oft die Erfahrung machen, dass die vorgelegten Gutachten selten eine kritische Distanz zur Patientenakte erkennen lassen. Die berühmte Krähe, die der anderen kein Auge aushackt, ist – zurückhaltend formuliert – dem Oberlandesgericht Celle in einer Entscheidung von Oktober 1976 aufgefallen. Der Leitsatz lautet:
»Das Oberlandesgericht Celle hat in seinem Spezialsenat für Arzthaftpflichtsachen die Erfahrung sammeln müssen, dass Mediziner die Fehler, die in ihrem Fachgebiet anzutreffen sind, in Publikationen offener und objektiver beschreiben als in gutachterlichen Äußerungen, die sie im Haftungsprozess gegen ihre Standesgenossen abgeben und in denen sie sich nicht selten von kollegialer Rücksichtnahme leiten lassen.«
Man sollte dem Patienten also die Möglichkeit geben, die Zweitmeinung eines anderen Sachverständigen einzuholen. Das ist momentan nur unter fast unerfüllbaren Voraussetzungen zu erreichen – nur dann nämlich, wenn das Gericht das erstattete Gutachten für ungenügend erachtet. Um ein variables und wissenschaftlich ausgereiftes Gutachten zu gewährleisten, müssen sich medizinische Sachverständige zu Lehrmeinungen und deren Grenzen erklären und diese kontrovers diskutieren.
Schließlich ist auch die Höhe der zuerkannten Schmerzensgelder zu überdenken. Das Schmerzensgeld wird nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch als »billige Entschädigung in Geld« verstanden. Es soll »alle Umstände berücksichtigen, die dem Schadensfall sein Gepräge geben«. Zuletzt wurde es am 6. Juli 1955 höchstrichterlich vom Bundesgerichtshof bestätigt, ist also inzwischen 57 Jahre alt. Es geht aber nicht an, für den Verlust eines Auges 25.000 Euro zuzubilligen oder die Amputation eines Oberschenkels mit 40.000 Euro zu bewerten, wenn der Fürstin von Monaco weitaus höhere