Marx als Philosoph. Alfred Schmidt

Marx als Philosoph - Alfred Schmidt


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einem gewissen Hegelianismus verschanzt, meinte aber in Wahrheit etwas anderes, die Zeitläufe waren dem aber derart ungünstig, daß sich diese äsopische Sprache eben empfahl. Das geistige Klima jener Zeit angesichts des massiven Drucks von außen derart vergiftet, daß jeder, der Marx auch nur positiv erwähnte, riskieren mußte, als Stalinist abgetan zu werden. Daher wohl auch die äußerste Zurückhaltung, die sich die Vertreter der Kritischen Theorie in dieser Frage auferlegten.«20

      Offenbar war Schmidt selbst in der Lage, diese Zurückhaltung aufzugeben. Sein erhellender Blick zurück weiß noch andere Hindernisse zu markieren, die Schmidt nun aber als intellektuelle Herausforderungen selbstbewusst annahm: »Will man verstehen, welche gedanklichen Motive hinter der Marx-Dissertation stehen«, gibt er in einem Gespräch mit Matthias Jung und Norbert Seitz den heutigen Lesern zu bedenken, müsse man sich an die Ausgangslage der Diskussion erinnern, an die »Zeit, in der akademisch der Marx der Pariser Manuskripte von 1844 als der eigentliche Marx galt, als nicht zuletzt theologisch gerichtete anthropologische und existentialistische Marx-Interpretationen das Feld beherrschten.«21 Schmidt plädiert für einen anderen Weg der Marx-Aneignung. Er argumentiert gegen die damals und auch in heutigem Schrifttum immer wieder anzutreffende Trennung zwischen frühem und spätem Marx und stellt klar: »Von der Position des reifen Marx lässt sich erst ganz die Philosophie der Pariser Manuskripte beurteilen.«22 Der Clou seines Zugangs war es, »das Philosophische in Marx nicht nur dort zu suchen, wo er sich der traditionellen Sprache der Philosophie bedient. Es bot sich an, die ökonomischen Schriften auf philosophische Gehalte hin zu untersuchen.«23 Das so konzipierte Buch sei deshalb, so Schmidt im Manuskript des Vorwortes zur englischen Ausgabe, »seinerzeit eines der ersten, worin versucht wurde, die politisch-ökonomischen Schriften des mittleren und reifen Marx, insbesondere Das Kapital und den sogenannten Rohentwurf aus den Jahren 1857–1859 (erschienen unter dem Titel Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie) für eine ›philosophische‹ Interpretation des Marxschen Lebenswerks heranzuziehen.«24

      Gerade die Arbeit am bis dahin kaum ausgewerteten Rohentwurf trug für das Schmidtsche Vorhaben besondere Früchte, war mit ihm doch das missing link gefunden zwischen den Positionen der Marxschen Frühschriften und den Gehalten der entwickelten Kritik der politischen Ökonomie und damit der Nachweis erbracht, dass Philosophie und Ökonomiekritik sich nicht ausschließen, sondern im Marxschen Gesamtwerk selbst eine dialektische Einheit bilden. Helmut Reinicke kommt in seinem hier abgedruckten Nachwort zum selben Ergebnis. Er kennzeichnet zudem die beschriebene Schmidtsche Ausrichtung als »Hebammenarbeit«, und zwar in folgendem Sinn: Sie »verbindet die Kritische Theorie mit den Frühschriften und geht dabei verbindlich über jene hinaus. Von der angestammten Frankfurterei her kann man sagen, dass er ihr allererst ein marxistisches Legitimationspathos schuf.«25

      Wie dem auch sei, es war wohl die hierbei intensiv vorangetriebene Arbeit an den Quellen, die Schmidt dazu befähigte, im Anschluss an seine Dissertation und noch im Verlauf der sechziger Jahre weitere instruktive Beiträge zur Marx-Diskussion vorzulegen. So gelang es ihm, einer breiteren Leserschaft das Marxsche Ideologieverständnis darzulegen,26 die Arbeit an der Rekonstruktion des Marxschen Begriffs der Geschichte zu vertiefen,27 um sich gleichzeitig der Weiterentwicklung der Erkenntnisfrage zu widmen, wie sie mit dem zentralen Gegenstand Marxscher Forschung, der Kritik der politischen Ökonomie, gestellt ist. Zudem war Schmidt stets darum bemüht, die eigene Position mit andernorts entwickelten Ansätzen – etwa der französischen Marx-Auseinandersetzung (Henri Lefèbvre, Maurice Merleau-Ponty) – durch eigene Übersetzungen und Kommentierungen zu vermitteln, sodass sein Anteil an der Entwicklung jenes spezifisch »westlichen Marxismus« nicht gering zu veranschlagen ist.28

      Bei aller Perspektivenvielfalt, die Schmidts Untersuchungen über den Begriff der Natur bei Marx auszeichnet, lässt sich der Kern seines Anliegens so erfassen: Seine Interpretation legt die humanistischen Gehalte des genuin Marxschen Materialismus frei, der die gesamte Realität relativ auf die Menschen – in der Spannung von innerer und äußerer Natur – und ihre Geschichte begreift. Insoweit arbeitet Schmidt an nichts weniger als an Lösungen für das Problem, wie das Verhältnis des Idealen zum Realen geschichtsmaterialistisch – »im Element der Praxis« – dialektisch zu begreifen ist. In diesem Sinn kennzeichnet er in seiner Einleitung die Intention seiner Schrift denn auch als »den Versuch, die wechselseitige Durchdringung von Natur und Gesellschaft, wie sie innerhalb der Natur als der beide Momente umfassende Realität sich abspielt, in ihren Hauptaspekten darzustellen.«29 Die Kategorie der Arbeit als Stoffwechsel von Mensch und Natur sowie die auf sie bezogene dialektische Darstellung des Begriffs der Praxis gehören zu diesen Hauptaspekten und stecken den Rahmen der Schmidtschen Untersuchung ab. Wer sich einen Überblick über die Resultate der so angelegten Marx-Auseinandersetzung verschaffen will, sei auf Schmidts kleine Skizze verwiesen, die sich in der Textsammlung dieses Bandes unter der Überschrift Thesen zum Begriff der Natur bei Marx findet.

      Es ist Schmidts Eigenart, nicht davor zurückzuscheuen, auch bereits gefundene eigene Positionen noch einmal ins Säurebad der Kritik zu legen, um sie im Verlauf der Debatten zu präzisieren, hier und da auch begründet zu revidieren. Beispiel dafür ist die im 1971 verfassten Postscriptum der Dissertation vorgenommene Aufwertung der »Rolle Feuerbachs für die Marxsche Entwicklung.«30 Schmidt vermag zu zeigen, »daß gerade der Begriff ›vermittelnder Praxis‹, den Marx und Engels polemisch gegen Feuerbach kehren, diesem selbst außerordentlich viel verdankt.«31 Überhaupt gelte es, so Schmidt im Vorwort zur vierten Auflage, eine besondere »Asymmetrie« der Darstellung des »Marxschen Verständnisses von Wirklichkeit« zu korrigieren, weil »das menschliche Natur- und Weltverhältnis fast durchweg aus der Perspektive des arbeits- und erkenntnistheoretischen Subjekt-Objekt-Schemas« thematisiert, dem »sachlichen Gewicht«32 der zweiten Ebene, die die Eigenbestimmtheit der Natur pointiert, dagegen entschieden zu wenig Beachtung geschenkt worden sei.

      Überhaupt müssten alle Kategorien, die hier ins Spiel treten – darauf weist Schmidt an vielen Stellen nachdrücklich hin – in ihrem geschichtlich-veränderbaren und deshalb vergänglichen Charakter begriffen werden; sie beanspruchen Geltung nur so lange, wie die Verhältnisse, die sie bezeichnen, existieren. Eben deshalb schlägt Schmidt vor, den Gehalt des Historischen Materialismus insgesamt diagnostisch als »Theorie unbewußter Strukturen«33 zu begreifen:

      »Geschichte erscheint hier als objektiver, ereignishafter und doch gesetzförmiger Prozeß. Indem die Individuen, ausgehend von ihren jeweiligen Bedingungen, bewußte Ziele verfolgen, in gesellschaftlichen Verkehr miteinander treten, materielle Güter produzieren, stellen sie gleichzeitig, aber unbewußt – so Marx im berühmten Vorwort seiner Schrift von 1859 – ein von ihrem Willen und Zutun unabhängiges, sie determinierendes Ganzes von Produktionsverhältnissen her. […] Diese unsichtbare, aber zwanghafte Allgegenwart sachlicher Produktionsverhältnisse im Leben der Menschen macht die eigentliche materialistische Pointe der Marxschen Geschichtslehre aus.«34

      In diesem Sinne ist der Marxsche Geschichtsmaterialismus, wie Schmidt in seiner Studie zu den geschichtsphilosophischen Implikationen Kritischer Theorie darlegt, zu verstehen als eine »Theorie auf Widerruf. Er ist kein weltanschauliches Dogma, sondern Diagnose eines falschen, aufzuhebenden Zustands.« Schmidt unterstreicht: »Wenn es ein Spezifikum der von der Frankfurter Schule vertretenen Marx-Interpretation gibt, dann ist es der schwere, auf diesem Gedanken lastende Akzent.« In der noch folgenden Überlegung, die den »Gedanken« zu präzisieren sucht, formuliert Schmidt das eigene Programm, Geschichtsmaterialismus und Ökonomiekritik eng miteinander zu verknüpfen:

      »Daß der materialistischen Geschichtsauffassung eine selbst historisch nicht nur wandelbare, vergängliche Rolle zukommt, wird freilich nur dann deutlich, wenn man ihre Generalthese auf die Problematik der politischen Ökonomie und ihrer Kritik zurückbezieht. In der Determination von Bewußtsein durch gesellschaftliches Sein spiegelt sich die Unbeherrschtheit des Wertgesetzes, das die Menschen zu seinen Agenten herabsetzt. Künftig dagegen – das pointiert die Kritische Theorie – soll, wie dies schon in Kants Hoffnung durchklingt, daß dereinst vernünftige Weltbürger nach einem verabredeten Plan handeln, Bewußtsein über Sein gebieten. In diesem Sinn hebt der historische Materialismus sich auf.«35

      Man sieht: Ein angemessenes Verständnis der Schmidtschen Beiträge zu einer philosophischen Interpretation des Marxschen Gesamtwerks setzt


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