Memento Mori. Mark Benecke
sich zunächst niemand erklären. Es fiel jedoch auf, dass die Zellen sich bei Zugabe von einem Prozent Serum nicht so oft teilten wie bei einem Serumanteil von zehn Prozent. Das Serum musste das entscheidende Geheimnis des Wachstums und der Zellteilung in sich bergen.
Zur gleichen Zeit hatte der Chirurg, Zellkulturspezialist und Nobelpreisträger Alexis Carrel zusammen mit seinem Kollegen Albert Ebeling vom Rockefeller-Institut für Medizinische Forschung in New York Bindegewebszellen (Fibroblasten) aus einem Hühnerherz in körperwarmer Nährlösung am Leben erhalten. (Hühnchen – vor allem sehr frühe, ungeschlüpfte Entwicklungsstadien – benutzt man immer noch gerne als Forschungsmaterial, unter anderem, weil man Hühnereier leicht bebrüten und die Embryonen im teils vorsichtig geöffneten Ei gut untersuchen kann.) Carrels Kultur hielt sich sehr lange. »Am 17. Januar 1921«, schrieb er stolz seinem Kollegen Raymond Pearl, »werden die Bindegewebszellen des Hühnerherzens neun Jahre alt.« Erst nach insgesamt vierunddreißig Jahren warfen die Forscher die Schalen mit der immer noch lebenden Zellkultur – freiwillig und ohne besonderen Grund – fort.
Ursprünglich hatte sich Carrel vor allem für die Lagerung von Geweben (und nicht für ihre Züchtung) interessiert. Als der Chirurg einem Hund ein »fingerlanges Stück« der Bauchschlagader durch ein ebenso langes Stück einer Katzenvene ersetzte, benutzte er erstmals Gewebe, das zwanzig Tage auf Eis gelegen hatte. Die Operation gelang, und die Ader heilte ein. Nun wurde Carrel mutiger. Er wusste, dass sein Kollege Wentscher schon 1894 Haut übertragen hatte, die fünfzig Tage auf Eis gelegen hatte. Auch einen Versuch des Mediziners Ljungren, der Haut einen Monat außerhalb des Körpers aufbewahrt hatte, bewunderte Carrel. Als schließlich die ersten Organübertragungen des Forschers Garrè bekannt wurden, gab es für Carrel kein Halten mehr. Was ihm mit Adern gelungen war, musste auch mit größeren, sogar viel größeren Gewebestücken gelingen. Zusammen mit seinem Kollegen Guthrie brachte er es schließlich so weit, dass er einem Tier beide Nieren mit der zuführenden Bauchschlagader, der abführenden Hohlvene, dem Harnleiter und der Harnblase entnehmen und einem anderen Tier erfolgreich und dauerhaft einsetzen konnte. Aber auch mit diesem Kunststück war Carrel noch nicht zufrieden. Er tat sich mit seinem Kollegen Burrows zusammen und verbesserte einen Versuchsaufbau des Amerikaners Ross Granville Harrison, der 1907 Gewebestückchen von Fröschen in eine Nährlösung getaucht und zur Weiterentwicklung gebracht hatte. Harrison, damals Forscher an der amerikanischen Universität Yale, war damit der Erfinder der Gewebezüchtung. Carrel übertraf ihn jedoch, vor allem wegen seiner unermüdlichen Ausdauer.
Hermann Dekker beschrieb 1913 das Zuchtverfahren von Carrel folgendermaßen:
Von dem Gewebe wird ein kleines Stückchen von 1/10 – 1/2 mm Durchmesser, sagen wir von Stecknadelkopfgröße, auf ein Deckgläschen gebracht und mit dem präparierten frischen Plasma [Blutflüssigkeit ohne Blutkörperchen] bedeckt. Sofort wird dieses Deckgläschen, die Kultur nach unten, mit Paraffin auf einen hohlgeschliffenen Objektträger gekittet (um die Kultur feucht zu erhalten) und in einen Brutschrank gebracht. In diesem ›hängenden Tropfen‹ geht das Wachstum vor sich. Die ganze Prozedur erfordert rasches Handeln, ist das Werk von Augenblicken, damit das Gewebe nicht geschädigt wird und um den Zutritt von Keimen zu verhindern. Carrel und Burrows haben seit dem Jahre 1910 auf diese Weise fast alle Gewebe von Erwachsenen, von Hund, Katze, Ratte, Kaninchen, Huhn, außerdem Krebszellen vom Menschen kultiviert.2
Innerhalb von zwei Jahren wurde weltweit in allen großen Zeitungen über Carrels Versuche berichtet. Meist wurden die Experimente jedoch übertrieben: Aus den stecknadelkopfgroßen Gewebestücken wurden lebende Arme und Beine, die angeblich in Kulturen schwammen. Den wirklichen Wert der Gewebezüchtung, die eines Tages die molekulare Zellforschung ermöglichen würde, konnte damals noch niemand erkennen.
Die Forscher sind so närrische Käuze«, schrieb Hermann Dekker, »dass sie zunächst gar nicht nach dem praktischen Wert ihrer Forschungen fragen. Es genügt ihnen, wenn ihnen im stillen Laboratorium der Kopf heiß und das Herz warm wird in der großen Freude über die stillen Erfolge ihrer Arbeit.3
Ein sprachliches Missverständnis, wie beim etwas irreführenden Begriff »Gewebezüchtung«, liegt auch dem Bericht zugrunde, wonach der russische Forscher Krakow, ebenfalls zu Beginn des 20. Jahrhunderts, das Ohr eines Kaninchens und einen menschlichen Finger über die Zeit gerettet haben soll, indem er sie trocknete und später in Wasserdampf »zum Leben« erweckte. Diese Versuche lösten damals große Begeisterung aus. Antoni Nemilow, Professor für Anatomie und Zellkunde der Haustiere, schrieb dazu 1927 im damaligen Leningrad:
Der Versuch der Aufziehung einzelner Teile des Körpers außerhalb des Organismus bedeutet eigentlich schon einen Sieg über den Tod, denn er hat klar bewiesen, dass die Wissenschaft stärker ist als der Tod. Mag das Stückchen Rücken, das im Laboratorium von Carrel schon 15 Jahre lebt und wächst, auch sehr klein sein, es ist dem Tode, der bis dahin als unbesiegbar und allmächtig gegolten hat, entrissen. Dieses wachsende und lebende Stückchen Vogel widerlegt bedingungslos und ein für alle Mal den Aberglauben und alle Märchen von der höheren Gewalt des Todes, der über Willen und Vernunft des Menschen stehe.4
Obwohl es sich nicht um einen Hühnchenrücken handelte, sondern um einzelne Zellen aus einem Herz, kann man Nemilows Begeisterung verstehen. Tatsächlich bewunderten viele Wissenschaftler jener Zeit vor allem die Schönheit der Gewebekulturen, das heißt die Tatsache, dass es überhaupt möglich war, Zellen in Schalen zu züchten.
Zwischen 1940 und 1960 wurde die Gewebekultur von der Spielerei Einzelner zur Chefsache. Mittlerweile wusste man, dass die kleinsten Vorgänge in den Zellen die Grundlage des Lebens darstellen. Diese Stoffwechselabläufe wollte man nun enträtseln. Deshalb begannen sehr viele Labors damit, Zellkulturen als Ausgangsmaterial für ihre Forschungen zu züchten.
Anfang der Sechzigerjahre beobachtete Professor Leonard Hayflick, dass sich Bindegewebszellen in Schalen ungefähr fünfzigmal teilen (mindestens vierzig- und höchstens sechzigmal). Kurz vor Ende dieses Teilungsprozesses beginnt das so genannte »Phase-3-Phänomen«: Die Zellen teilen sich zuletzt, in Phase 3, immer langsamer (Alter) und sterben schließlich (Tod). In den Phasen 1 und 2 wachsen die Zellen mit gleich bleibender Geschwindigkeit heran, wenn man sie lässt. Sobald normale Zellen allerdings die Oberfläche ihrer Wachstumsschale mit einer einlagigen Schicht bedecken, beenden sie ihre Vermehrung vorläufig. Krebszellen teilen sich dagegen munter weiter. Solche unbegrenzt vermehrungsfähigen Zellen – zwei bekannte Typen tragen die Bezeichnungen »HeLa« und »L« – waren jahrzehntelang die Objekte, an denen die Krebsforschung stattfand. »Unsterbliche Zellen wie HeLa und L«, sagte Professor Hayflick schon in den Sechzigerjahren voraus, »haben eine oder mehrere anormale Eigenschaften.« Daraus ergab sich eine wichtige Erkenntnis: Kennt man erst einmal alle anormalen Eigenschaften, versteht man auch die Krebsentstehung. Vielleicht kann man dann vorbeugende Maßnahmen entwickeln, um Krebserkrankungen endgültig zu verhindern.
Zellen haben ein Gedächtnis
Das war auch Leonard Hayflick von Anfang an klar. Um die Zellen möglichst lange benutzen zu können, züchtete er die sterbliche Linie WI-38 heran, deren Kulturen er in viele kleine Portionen teilte und seit 1962 in flüssigem Stickstoff bei minus 192 Grad Celsius aufbewahrte. Zugleich konnte Hayflick die Zellen auf diese Weise an seine Kolleginnen und Kollegen in der ganzen Welt versenden, wann immer sie dies wünschten. (Es ist unter Wissenschaftlern üblich, Proben stets kostenlos auszutauschen.) Während WI-38 in den Siebzigerjahren zur bestuntersuchten lebenden Zelleinheit der Erde wurde, fiel Hayflick etwas Erstaunliches auf. Trotz ihres Eisschlafes konnten die Zellen sich merken, wie oft sie sich vor dem Einfrieren geteilt hatten. Taute man die Zellen auf, so machten sie nur noch genau so viele Teilungen durch, wie sie es auch unter normalen Bedingungen getan hätten. Es gibt also einen Zähl- und Speichermechanismus, der die Zellteilungen festhält. Ein solches inneres Zählwerk hatte man zwar in den Zellen erwartet, aber dass die Zelluhr so lange funktioniert, war eine Überraschung. Hayflick bestätigte 1990 stolz: »Wir haben in den letzten achtundzwanzig Jahren aus hundertdreißig Gefäßen wieder Zellen