Zukunftsbildung. Dietmar Hansch

Zukunftsbildung - Dietmar Hansch


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im Kohlendioxid-Ausstoß. Und all das wächst nicht nur, es wächst auch immer schneller. Mit dem weitgehend „naturbelassenen“ und nur im überwiegend technischen Sinne „ausgebildeten“ Menschen ist eine grüne Marktwirtschaft nicht zu machen. Immer kommen Mechanismen in Gang, die die menschliche Giernatur stimulieren und am Ende in ein alles verschlingendes exponentielles Wachstum münden.

      Diese heute nicht mehr zu leugnenden Realitäten erzwingen einen Paradigmenwechsel: Die Gier nicht kanalisieren, sondern sie bekämpfen, nicht Wachstum sondern Beschränkung. Was die Geschichte tatsächlich und unwiderruflich lehrt ist: Mit Diktatur geht all dies nicht. Wenn man vor diesem Hintergrund die Situation durchdenkt, bleibt exakt ein einziger Ausweg: Wir brauchen ein Bildungswesen, das die Menschen zu freiwilliger Selbstbeschränkung befähigt.

      Man kann die menschliche Natur nicht ändern, aber man kann sie eingrenzen und kulturell überbauen. Was dies im Einzelnen heißt und wie es gelingen könnte, ist die zentrale Frage, auf die wir in diesem Buch Antworten suchen. Gerade als Ärzte und Psychotherapeuten fühlen wir uns von diesem Thema herausgefordert – und auch ausreichend gerüstet, zumal wir dabei zusammenfassend und erweiternd an umfangreiche Vorarbeiten anknüpfen können.

      Wir sind zu der Überzeugung gelangt, dass ein solches Konzept von Zukunftsbildung die eigentliche, zentrale Frage des globalen Überlebens ist, die weder im Bildungs-Diskurs noch im „Weltrettungs-Diskurs“ adäquaten Raum einnimmt. Die Lösung dieser Bildungsaufgabe ist nicht alles. Aber ohne Fortschritte hierbei wird sich alles andere als nichts erweisen. Mülltrennung, Solardächer, Fahrradfahren, Spenden und Stiftungen – diese und alle anderen Ihrer Weltrettungsbemühungen würden am Ende für die Katz gewesen sein. Sie würden die Katastrophe nur ein wenig verzögern. Abwenden lässt sie sich nur durch einen massiven Einsatz von Mitteln am Hebelpunkt Persönlichkeitsbildung: Es muss gelingen, eine überkritische Zahl der Heranwachsenden dazu zu befähigen, den Hauptanteil ihrer Lebenszufriedenheit nicht aus materiellen Konsumgütern zu gewinnen, sondern aus immateriellen Kulturgütern. Wir wollen zeigen, dass eine solche Bildung heute möglich wäre.

      Wir führen aus, inwiefern dieses Bildungsprojekt unverzichtbare Grundlagen neuer Gemeinschaftsbildung entstehen ließe. Es muss den Kern eines ökologischen Humanismus bilden und wäre damit die Gelingensvoraussetzung für ein zu wünschendes rot-grünes Fortschrittsprojekt.

      „Medizin im Großen“: Die soziale Emphase des Rudolf Virchow – Einführung von Till Bastian

      „Die medizinische Wissenschaft ist in ihrem innersten Kern und Wesen eine soziale Wissenschaft“, so schrieb der Berliner Armenarzt Salomon Neumann (1819 – 1908) im Jahr 1847, und sein berühmterer Kollege Rudolf Virchow (1821 – 1902) pflichtete ihm ein Jahr später, im Revolutionsjahr 1848, in seinem programmatischen Aufsatz „Der Armenarzt“ bei: „Die Medizin ist eine soziale Wissenschaft, und die Politik ist weiter nichts als Medizin im Großen.“ Ein weiteres Jahr später, 1849, veröffentlichte Virchow – später ob seines hartnäckigen Eintretens für Frieden und Völkerverständigung von Otto von Bismarck zum Duell gefordert! – in preußischem Regierungsauftrag seinen berühmt gewordenen Bericht „Über die in Oberschlesien herrschende Typhus-Epidemie“. An dessen Ende heißt es lapidar: „Die logische Antwort auf die Frage, wie man in Zukunft ähnliche Zustände, wie sie in Oberschlesien vor unseren Augen gestanden haben, vorbeugen könne, ist also sehr leicht und einfach: Bildung mit ihren Töchtern Freiheit und Wohlstand …“ (Alle Zitate nach Deppe u. Regus, 1975).

      Als ein über Jahrzehnte hinweg politisch aktiver Arzt – tätig vor allem im Auftrag und im Umfeld der „Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges“ (vgl. dazu Bastian 1990 und 2011) – und als großer Bewunderer des unermüdlich engagierten Rudolf Virchow möchte ich im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts nichts unversucht lassen, um meinen Mitmenschen das „Prinzip Vorbeugung“ in seiner weltgestaltenden Bedeutung vor Augen zu führen. Denn von kaum einen anderem Gestaltungsprinzip ist die Menschheit heute – zu ihrem eigenen Schaden! – weiter entfernt als von jenem Grundsatz „Vorbeugen ist besser als Heilen“, einer uralten Menschheitserfahrung, die schon in das Buch der Weisheit, das „Tao Te King“ des alten Weisen Laotse mit den schier klassischen Worten „Man muss wirken auf das, was noch nicht da ist“, Eingang gefunden hat. Aber nichts könnte dem Selbstverständnis der heute herrschenden, weil ja von der schweigenden Mehrheit leider geduldeten politischen Eliten ferner sein als just dieser Grundsatz. Da werden in immer schnellerem Tempo immer nur sehr kurzfristige Ingenieurmaßnahmen propagiert, um auf wirkliche oder vermeintliche Krisen einzuwirken, mit – schon die Wortwahl ist verräterisch! – „Kapitalspritzen“ oder „Rettungsschirmen“ und so fort … Um eine dauerhafte, nachhaltig wirksame Veränderung der gegenwärtigen Zustände ins Werk zu setzen und so das Schlimmste zu verhüten, das ja schon am Horizont heraufdämmert, geschieht so gut wie nichts, und manchmal kann sich der besorgte Zeitgenosse des Eindrucks nicht erwehren, dass die hektische, aufgeregte öffentliche Debatte um die Frage, – ich greife ein zur Zeit der Niederschrift dieser Zeilen hochaktuelles Beispiel auf – ob etwa Griechenland im Euro-Verbund bleiben oder zur Drachme zurückkehren soll, in der Hauptsache einem einzigen Zwecke dient, nämlich dem, Diskussionen über die wirklich wichtigen Fragen nach Möglichkeit zu verhindern. Zu diesen Themen würde etwa die drohende ökologische Katastrophe gehören, die nicht allein, aber doch in hohem Umfang auf die anthropogene und nicht etwa erst in Zukunft drohende, sondern bereits im Hier und Jetzt registrierbare Klimaerwärmung zurückzuführen ist, ebenso aber auch die durchaus auch im eigenen Land, vor allem aber weltweit festzustellende, stetig wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, die schon heute ein empörendes Ausmaß angenommen hat. Bei der Diskussion solcher Probleme stellt sich freilich rasch heraus – und eben deshalb werden sie ja auch systematisch vermieden! –, dass sie sich nicht werden meistern lassen, wenn der way of life der weltweit praktizierten kapitalistischen Konsumgesellschaft unverändert in die Zukunft extrapoliert werden soll, wie es das politische Establishment nahezu allüberall frohgemut und unverdrossen propagiert. Dieser politische Amüsierbetrieb, der gut mit der Talk-show-Medienöffentlichkeit und mit der hektischen Vergnügungssucht der Erlebnisgesellschaft zusammenstimmt, erinnert an die Katastrophe des Dampfers Titanic 1912, ein Jahrhundert vor der Niederschrift dieses Vorwortes, die sich ja vor allem deshalb ereignet hat, weil alle Vorsichtsmaßregeln zugunsten des Tempowahnes vernachlässigt worden waren. Nach dem Zusammenstoß mit dem Eisberg, der bei einer angemessen langsamen Fahrweise wohl vermeidbar gewesen wäre, spielte, als das Riesenschiff schon zu sinken begann, das Bordorchester immer noch eine fröhliche Melodie nach der anderen, denn man wollte so eine Panik unter den Passagieren verhindern.

      Das Titanic-Desaster dient seit 1912 mit Recht – freilich auch mit geringem didaktischen Erfolg! – als Metapher, um den gefährlichen, ja selbstmörderischen Kurs der technokratischen Industriegesellschaft gleichnishaft auszudeuten. Das vorliegende Buch, an dem ich – einer Nachfrage meines Freundes und Kollegen Dietmar Hansch folgend – sehr gerne mitgearbeitet habe, verfolgt einen anderen, recht unspektakulären Weg. Es fragt weniger nach den großen, gesamtgesellschaftlichen Neuerungen, die nötig wären, damit die Menschheit auch das Ende dieses Jahrhunderts erlebt, sondern mehr nach den persönlichen Qualitäten, die wir erwerben müssen, um eben jene Veränderungen – deren Notwendigkeit von uns ja keineswegs bestritten wird! – dauerhaft und nachhaltig ins Werk setzen zu können.

      Noch etwas anders ausgedrückt: Das von Karl Marx benannte Ziel einer rationalen Regelung des „menschlichen Stoffwechsels mit der Natur“ steht nach wie vor auf der Tagesordnung, aber der von Marx und vor allem von seinen Epigonen skizzierte Weg – den Menschen durch das Wirken übergeordneter, zum Teil mit diktatorischen Vollmachten ausgestatteter Instanzen zum neuen, nicht mehr profitorientierten Menschen zu erziehen – ist auf der ganzen Linie gescheitert. Wir setzen anstelle der diktatorischen „Erziehung“ durch autoritäre „Erzieher“ (die selber dem Attraktor der „Giergesellschaft“ auf Dauer nicht haben entrinnen können!) auf die antiautoritäre Persönlichkeitsbildung der „Autodidakten“, die – wenn sie erst einmal von Zigtausenden als zukunftsgestaltende Notwendigkeit erkannt worden ist – durchaus ihr subversives, weltveränderndes Potential entfalten könnte …

      Entfalten könnte – denn selbstredend ist der Erfolg nicht garantiert.


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