Kreuzwege unter der Sonne. Mario Monteiro

Kreuzwege unter der Sonne - Mario Monteiro


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und dann weint er selbst wie ein Kind. Ein halbes Leben lang fährt er schon Zugmaschine. »Aber manchmal …« Und dann schreit es in ihm und seine Wut bricht durch die Tränen. »Manchmal … wie sollst du wissen, was die Kerlchen grad im Kopf haben?« Für einen Augenblick nimmt er den Helm ab und wischt den Schweiß aus der Stirn. Abgekämpft stapft er zum Wassertank hinüber und dann kraxelt er mit dem AluBecher in der Hand gleich wieder auf seinen Fahrersitz. »Die Kinder dürften doch gar nicht in der Grube sein«, wettert er von der Zugmaschine herunter und legt den Ganghebel ein. Siebzehn ›Requeiros‹ hatten sie dieses Jahr weggetragen. »Siebzehn!« Seine Schreie gehen im hustenden Lärm der Dieselmaschine unter. Baggerschaufeln, Stahlketten, Detonationen nach Steinschlag, Verschüttete. Und Kinder!

      Steinschlag, Explosionen, Verschüttete. Und Kinder.

      Immer wieder Kinder! In Scharen kamen sie von überall her. Wie sollte man es verhindern? »ZUTRITT VERBOTEN« stand vor der Einfahrt auf der gelbroten Tafel! War das nicht klar genug?

      Jenseits des Hanges hatten sie Notquartiere in den Boden gerammt. Blechbaracken, Holzschuppen. Eine Containerbude mit Zuckerschnaps und Bier und eine Handvoll aufgedrehter Mädchen für die Jungen. Meistens schliefen sie im Freien. Es war ja nicht für immer. Und es erwischte nur diejenigen, die nicht genug aufpassten.

      Bulldozer … Explosionen … Bagger … Steinschlag? Und wenn schon! Wovor sie sich fürchteten und was manche bis in die Träume verfolgte, das waren ihre Armut und das Elend dort, von wo sie herkamen, und das Unrecht und das Nicht-Weiterwissen. Samantha hatte vor ein paar Jahren ihre beiden Kinder verloren. Und Miguel seinen Arbeitsplatz. Dann war er in die Mine gewandert und Samantha kam hinterher. Nachts schliefen sie im Zelt, das ihnen einer hinterließ, dem es gereicht hatte. Tagsüber wurde in den Steinen gewühlt. Immerhin holte Miguel jeden Monat gute 250 Dollar heraus. Dreimal mehr, als sie ihm in Porto Velho auf dem Bau bezahlten. Und ganz so kompliziert war das hier gar nicht. Die Maschinen zerschlugen doch alles. Man musste nur die besten Brocken kriegen, damit in den Schuppen rennen und das Zeug auf Jaimes Waage schmeißen.

      »Kommt in unser Zelt, bevor es Nacht wird«, sagte Samantha zu Marcelino und Klein-Sonja. »Wir haben noch Platz für euch … wenn ihr uns helft?« Dann zeigte sie den Kindern, welche Brocken die guten waren und was sie tun mussten, wenn die Bulldozer hupten, während sie beim Klauben waren.

      Daheim wartete Vater auf den Regen. – Zutritt verboten! – Ich zeig euch, wie man’s macht. – Marcelino kroch mit Klein-Sonja über den Schutt. Es war doch nur für ein paar Jahre. Und die Männer unter den roten Helmen passten schließlich auf.

      Aber immer konnten sie es nicht verhindern.

       RIO, MORGENS UM FÜNF

      Heller und klarer als an den anderen Abenden hing der Mond über der See. Mit der klebrigen Hitze war es noch immer nicht besser geworden. Dampf, nichts als heißer beißender Dampf, nass und tonnenschwer, lastete über der Stadt. Nur hier, abseits vom Trubel der Asphaltschluchten, blies lauer Nachtwind über zertrampelten Sand, zaghaft zunächst, so als ob er sich nicht recht getraute.

      »Selmiiira… Selmira!« Der Donner gewaltsam aufklatschender Brandung verschluckte die vergeblichen Schreie, die das Mädchen zum Umkehren zwingen sollten. »Selmira! Selmira!« Immer wieder, unablässig, sinnlos im Zorn in die Nacht hinausgestoßen. Zuletzt versuchte der brüllende Verfolger den kleinen Flüchtling mit heiserer, sich gewaltsam überschlagender Stimme zur Umkehr zu bewegen. Doch schneller, als es zu erwarten war, verwehte die Spur, die das davonrennende Kind im Sand hinterließ. Renn, Mädchen, renn! Renn bloß, wenn du keine Dresche willst!

      Selmira schnappte nach Luft. Dann verstummte das Gebrüll. Die fiebrigen Augen des Kindes tasteten sich entlang des glitzernden Schaums, den das heranrasende Seewasser auf den Strand warf. Das rassige haselnussbraune Gesicht und die langen unter ausgeblichenen Shorts hin- und hertanzenden Gazellenbeine, das zerzauste, im Schimmer der Mondnacht blauschwarz glänzende Haar, wirr über den Schultern flatternd, verbargen das Kindesalter.

      Renn, Selmira, renn! Wie oft schon war sie den engen Pfad durch die Favela hinunter zum Meer gehetzt und dann nach dort, wo sie die Freiheit vermutete. Freiheit! Irgendwo musste die Freiheit wohnen! Doch bis jetzt hatten sie die Kleine immer wieder zurückgebracht. Und jedes Mal tanzte der Lederriemen auf ihrem Rücken. Sogar an den Dachpfosten hatte sie Vater schon gebunden. »Dass du es lernst«, hatte er die halbe Nacht lang auf sie eingeschrien und immer wieder zugeschlagen.

      Joana hatte es doch viel besser. Selmira hielt an und sah zurück. Wie war sie denn mitten in dieser Hetze ausgerechnet auf ihre Freundin gekommen? Joana sah natürlich viel älter aus und konnte auch so raffiniert lachen, und jeden Abend brachte sie genug Geld nach Hause. Letztes Jahr hatten sie sich drüben sogar einen neuen Kühlschrank anschaffen können. Außerdem hatte ihre Freundin einen ganz vernünftigen Vater. Und Andreia erst. Nur eifersüchtig war sie bis zum Gehtnichtmehr. Deshalb schlug sie sich dauernd mit Jacobine herum. Jacobine mit ihrem Engelsnäschen.

      Selmira atmete durch. Um diese Zeit hockten die Freundinnen wieder oben vor den Hütten und erzählten sich die seltsamsten Geschichtchen. Nur Selmira rannte wieder am Strand entlang. Ewig und immer den gleichen Weg, kilometerweit, irgendwohin. Nach nirgendwohin! Nur nicht mehr dort hinauf in die Favela, jenseits des steilen Abhangs, an dem die Baracken und Buden Wand an Wand nebeneinanderstanden, die meisten nur lose ins Erdreich geschoben, bis sie vielleicht in einer dunklen Regennacht, wenn niemand damit rechnete, von Wassermassen und unter Bergen von Schlamm und Morast in die Tiefe gerissen würden.

      Nur weg von dort! Weg, weit weg. Immer wieder riss Selmira aus. Flucht von klein auf. Flucht und Angst. Grenzenlose Angst! Angst! Angst! Angst! Angst vor den schrecklichen Prügeln des jähzornigen Mannes, bebende Angst vor dem heißen Bügeleisen, vor bösen giftigen Blicken, wenn sie geduckt vor der frostigen Ziehmutter stand, weil sie nicht genug Geld zusammengebettelt hatte und weil keine Milch für die Brüderchen da war und weil Vater die paar Kröten, die am Morgen noch in der Schublade gelegen hatten, beim Zuckerschnapstrinken verpulvert hatte.

      Selmira presste die Lippen zusammen. Pause machen! Durchatmen! Wenigstens schrie hier niemand mehr hinter ihr her. Irgendwo musste die Freiheit wohnen. Vielleicht dort drüben, mitten im Gewühl der lachenden Straßenbummler, sich mit einem Eis in der Hand umarmend. Zwanzig-, dreißigstöckige Luxuswohnungen, lichtüberflutete Garageneinfahrten. Avenida Atlantica! Luxuswagen, teures Blech bis hinunter nach Ipanema. Tanzmusik, ohrenbetäubende Lust, gellend schreiende Autohupen, Strandläufer, sich anbellende umherstreunende Hunde, im Sand kichernde Liebespaare. Da und dort gleichmäßiges Tapsen. Dazwischen das Geschrei der Kinder, die sich wegen eines Stückes weggeworfenen Brotes vor randvollen Abfalltonnen in den Haaren lagen.

      »Träume in Rio!« Ein knallig angezogener Arbeitsloser, auf zwei Meter hohen Stelzen staksend, mit einem mannshohen Plakat auf dem Rücken brüllte es im Dreißigsekundentakt in die Ohren der Touristen, dann und wann mit den Händen zum Kopf hinauffahrend, besorgt, den blauroten Riesenzylinder zu verlieren. Träume in Rio! Nacht für Nacht sollte das aufkratzende Gebrüll der lebenden Reklamefigur gegen pfeifende Reifen ankommen, gegen Hupen und Tanzmusik, um vielleicht eine Handvoll abenteuerlustiger Touristen in das Vergnügungslokal an der Ecke zu locken.

      Freiheit! Selmira flitzte zwischen zwei Stoßstangen hindurch, über die Avenida und gleich in die nachtschwarze Querstraße hinein. Keine hundert Meter mehr, dann kann sie wieder vor Joshuas Obstbude stehen. Joshua war okay! Gierig starrten Sechzehnjährige ihr hinterher. Joshua winkte ihr zu. Schnell, lauf zu, Mädchen, konnte das nur heißen.

      Sein ›Laden‹, wie Joshua die sechs Pfosten mit der darüberhängenden Zeltplane mit verschmitzt fröhlichem Grinsen gerne bezeichnete, war gerade stabil genug, um häufige Windstöße, die das Meer herüberschickte, abzufangen und die Petroleumlampe zu halten, die der alte Mann an einem der Pfosten befestigt hatte. Seit Joshua seine Frau verloren hatte, war es mit dem Obstgeschäft nicht mehr weit her, und auch sonst stand er ziemlich allein in der Welt. Von sieben Buben waren noch drei am Leben. Doch sie hatten sich in dem großen Land zerstreut und Joshua wusste nicht recht, wohin es sie verschlagen hatte. Wo sollte er sie denn suchen? Außerdem – wenn er ganz ehrlich sein


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