Harrys geträumtes Leben. Hans H. Lösekann
schön. Es war ein Fest. Beim Tanzen für den Körper und beim Miteinanderreden und -lachen ein Fest für die Seele.
Sie machten gerade wieder eine Tanzpause an der Sektbar, als Andree zu ihnen trat. „Bitte, Harry, auf ein Wort“, sagte er und versuchte, ihn möglichst unauffällig etwas abseits zu führen.
Harry sah ihn unwillig an. „Muss das sein?“
„Ja, es muss, unbedingt!“
Harry entschuldigte sich bei Yamalia. „Ich bin in einer Minute wieder da.“
Andree erklärte ihm resolut, dass sie gehen müssten. Den letzten Termin für ihren Nachtausgang hätten sie ohnehin schon überschritten und die anderen wollten auf keinen Fall noch länger bleiben.
Harry fühlte eine heiße Welle der Wut in sich aufsteigen. „Ja, dann geht doch. Ich bleibe auf jeden Fall noch hier. Das ist die tollste Frau, die ich je kennengelernt habe, und ich mache doch nicht alles kaputt, indem ich jetzt einfach gehe.“
Andree redete mit Engelszungen, machte ihm klar, dass er auf keinen Fall alleine hierbleiben dürfe. „Du weißt, es ist streng verboten. Willst du deswegen etwa in den Bunker wandern? Dann siehst du dein Mädchen garantiert nicht wieder. Außerdem ist es wirklich gefährlich. Du weißt doch gar nicht, wie viele fanatische Freiheitskämpfer sich hier unter den Gästen befinden, und wenn sie in dir einen Legionär vermuten, der wehrlos ist, weil er alleine ist, dann ist dein Leben keinen Pfifferling mehr wert.“
Harry wurde nachdenklich. Bei all seinem Tunneldenken, seinem zwanghaften unbedingten Wunsch und Wollen, weiter bei Yamalia zu bleiben, konnte er doch die Erkenntnis nicht wegschieben, dass Andree völlig recht hatte.
„Okay, Andree, aber gib mir noch eine halbe Stunde oder zumindest eine Viertelstunde. Noch ein Tanz und die Möglichkeit, mich mit ihr zu verabreden. Bitte halt die anderen so lange fest.“
Etwas widerwillig sagte Andree zu. „Aber beeil dich bitte!“
Sehr bedrückt ging Harry zurück zu seiner Traumfrau. Die sah ihn schelmisch lächelnd an. „Harry, was ist los? Hat man dir deine Brieftasche gestohlen oder was bedrückt dich so?“
Harry trank einen Schluck Mineralwasser, sah sie zerknirscht an und meinte mit einem verunglückten Lächeln: „Bitte, Yami, lass uns tanzen, ich muss dir etwas sagen.“ Das Fatale war jedoch, dass er noch nicht wusste, was er ihr sagen sollte. Auf der Tanzfläche improvisierte er dann: „Es ist so ein Mist, aber ich muss gehen. Ich habe den anderen Jungs versprochen, dass sie heute Nacht in meiner Pension übernachten können. Die wollen nun unbedingt weg und ohne mich kommen sie nicht rein. Ich möchte so gerne noch bei dir bleiben und ich gehe auch nur, wenn du mir verspricht, dass wir uns wiedersehen und wann. Sonst gehe ich nicht, und wenn ich dadurch meine drei besten Freunde verliere!“
Yamalia sah ihn etwas merkwürdig an. Ja, da lag Misstrauen in ihrem Blick. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihm glauben sollte.
„Bitte, Yami, können wir uns morgen wiedersehen? Es ist mir so ernst und so wichtig.“
Sie sah ihn ernst an, kein Lächeln, kein Strahlen in den Augen. Es dauerte lange, bis sie schließlich leise, ganz dicht an seinem Ohr sagte: „Ich möchte dich ja auch wiedersehen, aber merkwürdig ist das schon.“ Wieder eine lange Pause. „Ich weiß nicht, und überhaupt, morgen fahre ich für drei Tage an die Seenplatte von Tiaret.“
Harry sah seine Felle davonschwimmen. Er wusste, dass er nur noch eine Woche krankgeschrieben war. Dann musste er fort von Mascara. Dann trat seine Versetzung nach Fort Sidi Boukekeur in Kraft. Harry versuchte, seine Traumfrau überzeugend anzustrahlen: „Lass uns zusammen fahren. Ich werde dir in diesen Tagen den Himmel auf Erden bereiten, ich werde dich auf Händen tragen. Wir können doch nicht so auseinandergehen. Es fängt doch gerade erst an. Ich liebe dich und ich merke, dass ich dir auch nicht gleichgültig bin.“ Er drückte sie ganz fest an sich und flüsterte ihr ins Ohr: „Bitte, Liebling.“
Dann ging alles ganz schnell. Sie verabredeten sich für den nächsten Vormittag um zehn Uhr vor der nahegelegenen Moschee. Harry war selig. Der Abschied von Yamalia fiel mit einem sehr dezenten, mehr gehauchten Küsschen für seinen Geschmack recht spartanisch aus. Aber er hatte die Verabredung für morgen. Eine Verabredung für drei Tage und drei Nächte. Ihm wurde ganz schwindelig und ganz heiß. War das Glück? War das Erwartung? Oder war es nur Trieb? Oder vielleicht sogar wirklich Liebe?
Als sie die Kaserne erreichten und den Wachhabenden mit viel Überredung und ein paar Scheinen dazu brachten, ihre Rückkehr um einige Stunden zurückzudatieren, kamen Harry allmählich Bedenken und Zweifel. Wie sollte er es anstellen, drei Tage und Nächte Urlaub zu bekommen? Immer wieder wachte er in dieser Nacht auf und überlegte sich neue Strategien. Am nächsten Morgen ging er ganz früh zum Commandeur. In strammer, formvollendeter Haltung meldete er, dass Colonel Jerez, durch dessen Empfehlung er zum Protegé-Praktikanten wurde, gestern in Mascara eingetroffen sei und heute für drei Tage an die Seenplatte von Tiaret reisen wolle. Als er gehört habe, dass Harry krankgeschrieben war, habe er darum gebeten, ihn zu begleiten. „Der Colonel hat mir aufgetragen, Ihnen seine besten Empfehlungen zu übermitteln, mit der Bitte, mir drei Tage Urlaub zu geben, damit ich als eine Art Begleitschutz mitkommen kann.“
Der Commandeur sah ihn etwas zweifelnd an und es dauerte eine Zeit lang, bis er sich zu einem positiven Entscheid durchrang. „Nun gut, der Name von Colonel Jerez ist in der Legion bekannt, fast schon legendär. Sie bekommen Ihren Urlaubsschein. Sie fahren in Zivil, nehmen aber besser eine Waffe mit.“
Stramm bedankte sich Harry. Er musste sich zwingen, nicht laut zu jubeln. Schnell packte er eine kleine Reisetasche. Ganz unten, unter dem Hemd und der Wäsche zum Wechseln, legte er seine Dienstwaffe und den Urlaubsschein. Rechtzeitig erreichte er den vereinbarten Treffpunkt. Etwas unwillig schob er die Gedanken weg, die ihn kurz streiften. Gedanken wie: Das ist alles auf Lügen aufgebaut und außerhalb der Legalität. Hier gibt es keinen Ex-Colonel Jerez, also bist du als Legionär alleine. Das ist strikt verboten und es ist ja wohl auch gefährlich. Aber diese Gedanken waren unerwünscht, also weg damit. Ein triumphierendes Hochgefühl, wie auf Wolke sieben, setzte sich in seinen Empfindungen durch. Mensch, Harry, du bist tatsächlich mit der Schönheitskönigin dieses Landes verabredet. Aber der Titel war nicht so wichtig. Ihm wurde heiß, wenn er an die rassige Schönheit Yamalias, ihr blitzenden Augen, ihr betörendes Lächeln, ihre verlockenden Lippen und auch ihr lockeres, intelligentes Geplauder dachte.
Er beobachtete das bunte Treiben vor der Moschee, ohne es wirklich aufzunehmen. Etwas nervös steckte er sich eine Zigarette an. Schon zehn Minuten über der Zeit. Vielleicht kommt sie gar nicht. Vielleicht hat sie mir meinen gestrigen, etwas abrupten Aufbruch doch übel genommen. Vielleicht ist ihr etwas dazwischengekommen. Vielleicht hat sie es gar nicht ernst gemeint. Harry wurde langsam richtig zappelig. Gerade wollte er sich eine weitere Zigarette anstecken, als ein kleiner Citroën neben ihm hielt und Yamalia ihm strahlend winkte, einzusteigen. Mein Gott, war sie wieder schön. Harry fühlte körperlich, wie sein Herz anfing zu glühen, als er sie in dem engen Wagen zur Begrüßung kurz in den Arm nahm. Yamalia trug ein luftiges, ärmelloses, rotes Sommerkleid. Harry strahlte sie an und sagte spontan, ehrlich und voller Elan, wie sehr er sich auf ihren gemeinsamen Ausflug freue.
Sie lächelte ihn verheißungsvoll an, wurde dann aber für kurze Zeit ganz ernst. „Ich war mir nicht so sicher, ob es richtig ist.“ Übergangslos wies sie auf eine kleine Ansammlung wunderschöner Palmen, als sie die Außenbezirke von Mascara hinter sich ließen. „Ist mein Land nicht schön?“ Wieder wurde sie ernst. Harry hatte den Eindruck, dass sie ihren verlockenden Mund, ihre vollen roten Lippen wütend zusammenkniff. Eine steile Falte, die er noch gar nicht an ihr gesehen hatte, erschien zwischen ihren sanft geschwungenen Augenbrauen. „Wie viel Krieg, wie viel Grauen und wie viel Blut braucht es wohl noch, bis wir endlich wieder ein freies Volk sind?“ Harry schwieg betreten und mit schlechtem Gewissen. Aber sie erwartete wohl auch keine Antwort, sondern erzählte weiter: „Vor über 130 Jahren, im Jahre 1830, haben die Franzosen das erste Mal versucht, Algerien zu erobern. Aber unser Heerführer Abl al-Quadir stellte sich ihnen entgegen und vertrieb die Franzosen in langjährigen Kämpfen wieder. 1837 kam es zu dem Vertrag von Tafna, in dem die Franzosen sowohl Algeriens Selbstständigkeit