Bertha und Anna und der Tod. Sabine Marya
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Gertrude macht nicht „flapp, flapp“
Es war ein klarer und sonniger Frühlingstag, an dem die ersten Wildgänse aus dem Süden zurück kehrten. Das Schwingen der Flügel und vereinzelte Rufe waren schon deutlich zu hören. Sie kamen also zurück! Mit einem Strahlen in den Augen hob Bertha den Kopf und suchte den Himmel nach ihnen ab, bis sie den Schwarm schließlich entdeckte.
„Wie schön“, flüsterte Bertha ganz andächtig. Wie jedes Jahr ging auch heute Berthas Herz ganz weit auf beim Anblick der Zugvögel. Gleichzeitig flogen ihre Erinnerungen natürlich wieder zurück zu den schönen Momenten mit ihrer Mama bei der Rückkehr der Gänse. „Jetzt ist er also wirklich da, der Frühling! Die Gänse läuten wieder den Frühling ein“, hatte Berthas Mama immer beim Anblick des ersten Schwarmes im Frühjahr gejubelt. Dann hatte sie ihren Kindern einen zärtlichen Schafkuss gegeben und sie zu einer Stelle mit besonders köstlichen Gräsern geführt, um diesen schönen Augenblick mit ihnen gemeinsam zu feiern.
Deshalb brachten die Gänse für Bertha nicht nur den Frühling mit ins schöne Nordfriesland, sondern auch immer eine wunderbare Erinnerung an ihre Mama, die letztes Jahr nach einem langen und zufriedenen Schafleben gestorben war.
Dankbar schaute Bertha den vorüber fliegenden Wildgänsen hinterher, bis sie schließlich nicht mehr zu sehen waren. Dann wandte sie sich mit einem leisen Seufzer wieder dem lecker-saftigen Gras auf dem Deich zu. Doch bevor Bertha von einem besonders appetitlich aussehenden Halm abbeißen konnte, machte es nicht über ihr „flap, flap“.
Stattdessen landete Gertrude, die Silbermöwe, mit einem lauten „Rummsdibumms“ direkt vor Berthas Füßen.
Erschrocken hüpfte Bertha einen Schafsprung hoch nach oben und schrie dabei entsetzt auf: „Hilfe, Gertrude, liebste Freundin, was ist mit dir???“
Mühsam rappelte Gertrude sich auf und stupste ihre Freundin dann beruhigend mit dem Schnabel an. „Entschuldige bitte, Bertha, ich wollte dich nicht erschrecken. Ich wollte einfach nur ausprobieren, wie das wohl wäre, wenn mich im Flug der Tod aus dem Leben reißen würde.“
„Hääääh, du hast was???“ Berthas Stimme klang vor Angst ganz schrill. „Aber Gertrude, du bist doch eine gesunde und starke und noch gar nicht so alte Möwe. Wie sollst du dann plötzlich sterben und dann noch mitten aus dem Flug heraus?“
„Aber Bertha“, schüttelte Gertrude mit dem Kopf, denn sie war eine weit gereiste Möwe und wusste deshalb ganz viel, „der Tod kommt doch nicht nur zu denen, die ein langes Leben hinter sich haben und schon sehr alt sind. Der Tod kommt zu Alten und Jungen, zu Gesunden und zu Kranken. Denke mal an meine Schwester Antonia, die hat sich ein Brötchen geschnappt, in das böse Menschen Gift hinein getan haben, weil sie Möwenhasser sind. Und meine Freundin Louise, die diesen schlimmen Unfall hatte, von einem Moment auf den anderen war sie tot. Es kann doch immer passieren, dass wir sterben, auch jetzt, in diesem Augenblick. Deshalb ist es doch auch so wichtig, jede Minute seines Lebens zu leben und es sich so richtig schön bunt zu machen. Und auch daran zu denken, dass man zu jeder Zeit seine Liebsten verlieren kann und deshalb mit ihnen alles Gute genießen muss. Und alles miteinander immer gleich zu klären, damit man den anderen nicht im Unfrieden verlassen muss.“
Zustimmend nickte Bertha. „Ja, da hast du jetzt aber wirklich recht. Trotzdem wünsche ich mir ganz, ganz dolle, dass wir beide noch sehr lange zusammen bleiben und noch viel Schönes miteinander teilen.“
„Das wünsche ich mir aber auch, meine allerliebste Freundin“, sagte Gertrude und kuschelte sich an Bertha.
Ach, was war das für ein schönes Gefühl, sich so zu spüren und einander so nahe zu sein. Ja, gute Freunde sind wirklich ein so großes Geschenk!
Annas Mama ist dolle krank
So saßen die beiden Freunde eng aneinander gekuschelt auf dem Deich und schauten auf die weite Wattlandschaft hinaus. In der Ferne waren die Halligen zu sehen und die ersten Priele füllten sich bereits mit Wasser.
„Wie schön wir es doch haben“, murmelte Bertha zufrieden. Doch dann fiel ihr etwas ein. „Ja, sage einmal, Gertrude, wie bist du überhaupt auf diese Idee vorhin gekommen, das auszuprobieren, wie das wohl wäre, wenn dich im Flug der Tod aus dem Leben reißen würde?“
Da wurde Gertrudes Blick ganz traurig und sie seufzte schwer. „Ja, das kam, nachdem ich vorhin auf der Fensterbank vom Krankenhaus-Arzt gehockt habe. Du weißt ja, dass Bauer Hünning und seine Frau heute dort den wichtigen Termin hatten …“
Alleine schon der Klang von Gertrudes Stimme machte, dass sich in Berthas Bauch so ein dicker Klumpen bildete, der drückte und zwackte. Das würde jetzt sicher keine gute Nachricht werden, das erkannte Bertha sofort. Schon seit Monaten war die Bäuerin schlimm krank. Zuerst musste sie operiert werden und danach lag sie immer wieder im Krankenhaus, wo sie ihre Medizin gegen die Krankheit bekam. Manchmal ging es ihr so schlecht von den Behandlungen, dass sie nicht einmal mit ihrer Tochter reden oder sich Annas schöne Bilder anschauen mochte.
Wie oft hatten Bertha und Gertrude schon mit der kleinen Anna deswegen geredet. Immer und immer wieder hatten sie ihr erklärt, dass es nicht Annas Schuld war, sondern die Schuld der Medikamente und dass ihre Mama sie wirklich dolle lieb hatte.
Es waren schon sehr viele Tage und Wochen und Monate vergangen und noch immer war Annas Mama so krank und es wurde einfach nicht besser. Nun hatten sie im Krankenhaus etwas Neues versucht und heute war die große Besprechung mit Dr. Huuse gewesen.
„Weißt du“, flüsterte Gertrude, „Bauer Hünning hat geweint …“
Schockiert sah Bertha ihre Freundin an. Der große, starke Bauer Hünning hat geweint? Oh weia, dann musste es ja richtig schlimm sein! Mit bangem Herzen wartete Bertha nun auf die schreckliche Nachricht, die unweigerlich folgen musste.
Gertrude beschrieb, wie Bauer Hünning und seine Frau vorhin auf den unbequemen Stühlen im Besprechungszimmer von Dr. Huuse saßen und sich an den Händen festhielten …
Bei Dr. Huuse
Dr. Huuse war ein so freundlicher und mitfühlender Arzt und es war ihm deutlich anzusehen, wie schwer es ihm fiel, mit den beiden zu reden. Schon bei der Begrüßung rieb er sich dabei mit dem Daumen an der Nase, ein alter Tick von ihm, wenn er unter schlimmer Anspannung stand. „Ich hätte so gerne eine bessere Nachricht für Sie und ihre kleine Tochter Anna gehabt, es tut mir so leid …“, begann er und seufzte leise. „Die Behandlung hat nicht so angeschlagen, wie wir es erhofft haben. Wir können nur noch Zeit gewinnen, aber …“
Ein lauter Schluchzer von Bauer Hünning unterbrach ihn, seine Schultern zuckten leise. Tränen rannen ihm über das Gesicht und er machte sich nicht einmal die Mühe, sie weg zu wischen. „Oh, Lena, ich will dich noch nicht verlieren …“, weinte er. Seine Frau schlang ihre Arme um ihn und drückte ihn ganz, ganz fest, bis die