Ein Hauch von Bergamotte. Monika Hoesch

Ein Hauch von Bergamotte - Monika Hoesch


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in den Himmel. Jetzt war die Sonne ihre Verbündete. Sie würde die Nestwärme der Geborgenheit geben müssen, die sie sich bisher wohlwollend gegenseitig gegeben hatten.

      Als die Morgensonne sich dann noch einmal mit ganzer Kraft durch die letzten dahin ziehenden Wolken schob und die Körper der Geschwister wärmend streifte, nahm Robin Luna fest in die Arme. Er vergrub sein Gesicht dabei in das leuchtend rote, wehende Haar seiner Schwester und sog mit einem tiefen Atemzug ihren vertrauten Geruch in sich auf. Wie gut roch dieser Duft der Herzenswärme. Dieser eigenwillige, wunderbar weiche Duft, den er so liebte. Er wird ihn für lange Zeit sehr vermissen müssen.

      Erinnerungen schlafen einen leichten Schlaf, wenn man liebt.

      Flink kletterte Luna in den großen Korb des Heißluftballons und nahm das Reisegepäck von ihrem Bruder entgegen. Nahrungsmittel, eine wärmende Decke, eine Taschenlampe und viele wichtige Kleinigkeiten. Sie legte ihr Reisegepäck ordentlich sortiert auf den Holzboden des Korbes und ordnete es so an, dass das Gleichgewicht des Ballons nicht verloren ging.

      Als sie sich ein letztes Mal über den Rand des Korbes beugte, um ihren Bruder so fest sie konnte zu umarmen, liefen abermals Tränen über das zarte, hellhäutige Gesicht. Auch Robin weinte. Wie so oft gab er ihr einen Kuss auf die Stupsnase – sanft und liebevoll. Dann löste er die Halteseile und ließ Luna schweren Herzens auf ihre Antwort suchende Reise gehen.

      „Pass auf dich auf, Kleines!“, rief er ihr winkend zu.

      „Mach ich. Versprochen! Ich habe dich sehr lieb, Robin!“ Lunas Lippen zitterten.

      „Ich dich auch, meine Kleine!“ murmelte er.

      Als der Ballon vom Boden abhob, ging alles blitzschnell. Er erreichte in kürzester Zeit eine erstaunliche Höhe, wobei die beiden sich unaufhörlich winkend nicht aus den Augen ließen. Robins Gestalt wurde klein und kleiner und noch kleiner als kleiner und bald war sie nur noch als winziger Punkt am Boden zu sehen. Schließlich verschwand auch dieser irgendwann ganz.

       Wildgänse

       ‚Alleinsein schmerzt, wenn man allein sein muss.‘

      Nun war sie auf sich gestellt. Es wurde still. Diese Stille in luftiger Höhe tat gut. Sie war beruhigend, ließ den Puls leiser schlagen, fast still stehen. Das Atmen wurde gleichmäßig und ruhig. Eine angenehme Leichtigkeit leitete die Gedanken in eine positive Richtung. Tiefes, kraftvolles Einatmen – und plötzlich war alles ganz harmonisch. Luna genoss diese Stille. Von oben sieht man die Welt mit anderen Augen. Die Hektik und das schnelllebige Treiben in der Welt; die ständig rastlosen und keine Zeit mehr habenden Menschen, all das war plötzlich ganz weit weg. Sie nahm nur Ruhe wahr. Eine wohltuende, tiefgehende Ruhe. Hier oben gab es keine Zwänge, keinen Druck, nur eine gewisse Lässigkeit. Man hatte das Gefühl die Zeit würde stehen bleiben. Die Wolken und sie waren eine Einheit. Gemeinsam zogen sie bedächtig über das weite Land. Schweben. Stille. Einklang. Die einzigen Geräusche, die zu hören waren, gingen von ihr aus. Sie hörte sich atmen.

      Ja, sie hörte sich tatsächlich atmen!

      Mit Sicherheit vergingen einige Stunden. So genau wusste sie es nicht. Es war auch nicht wichtig. Es war mehr das Bedürfnis nach Essen, das sie aus dieser Stimmung zurück ins Jetzt holte. Die Provianttasche war prall gefüllt. Sie griff nach einem Apfel und ein belegtes Brot, biss hungrig hinein und fragte sich, warum es wohl in diesem Moment so außergewöhnlich gut schmeckte.

      Ein entferntes Geräusch holte sie aus diesem genießerischen Moment zurück und ließ ihren Blick suchend schweifen. Die Laute kamen näher. Sie vernahm bald ein deutliches Kreischen. In der Ferne konnte sie einen großen Schwarm Wildgänse erkennen, der sich ihr zügig näherte.

      Jetzt war der Ruf der Zugvögel unüberhörbar. Die V-förmige Formation steuerte wie ein schnellender Pfeil auf sie zu. Ihr Herz pochte bis zum Hals. Verängstigt starrte sie mit weit aufgerissenen Augen auf das sich auf sie zubewegende spitze V.

      ‚Angst ist kein guter Ratgeber‘, sagt Robin immer. Doch Angst kommt ungefragt, dachte Luna. Eine Vielzahl von Möglichkeiten schossen ihr durch den Kopf.

      Was konnte sie tun? Konnte sie überhaupt irgendetwas tun? Hatte sie noch die Zeit, den Heißluftballon steigen oder sinken zu lassen? Wohl kaum. Die Formation näherte sich bedrohlich schnell. Wenn die Tiere ihre Ballonhülle attackieren würden, wäre sie verloren.

      Der auf sie zusteuernde lebende Pfeil war nicht aufzuhalten. Ihr Herz jagte. Sie hockte sich rasend vor Angst in eine Ecke des Korbes und schlug sich schützend ihre Decke um Körper und Kopf. Lediglich ein verängstigtes Augenpaar lugte dabei vorsichtig durch das Geflecht hindurch, um abzuwarten, zu hoffen oder aber sich seinem Schicksal zu fügen. Es waren sicherlich hunderte Gänse. Gefühlt waren es viele tausende Vögel. Wenn die Tiere sich durch sie bedroht fühlten, würden sie sie genau jetzt in diesem Moment angreifen. Das würde ihr Tod bedeuten.

      Das Geschrei der Tiere war gellend laut. Sie kauerte in ihrer Ecke, kniff die Augen fest zusammen und presste ihre Handflächen so fest sie konnte auf die Ohren. Dann passierte es. Wie durch ein Wunder zog der Schwarm kontinuierlich und unbeirrt über ihren Ballon fort.

      Luna hatte fürchterliche Angst. Trotzdem öffnete sie ungeduldig wieder ihre Augen. Sie blickte hoch in den Himmel und fand sich inmitten des kreischenden Schwarmes, der sie gar nicht wahrzunehmen schien.

      Es war ein überwältigender Moment. Die Tiere waren laut, jedoch friedfertig. Ihre Furcht war unbegründet. Fasziniert und voller Begeisterung blickte sie auf dieses wunderschöne Naturereignis. Sie fühlte sich, als wäre sie genau in diesem Augenblick ein Teil von ihnen. Ja! Im Grunde genommen war sie ein Teil dieses Ganzen.

      Hätten die Tiere sie als Feind gesehen, wäre sie ihnen hilflos ausgeliefert gewesen. Das war ihr mehr als bewusst.

      Schon kurze Zeit später waren die Wildgänse über sie hinweggezogen und orientierten sich unermüdlich weiter in südliche Richtung. Sie folgten ihrem Instinkt auf ihre eigene lebensnotwendige Reise, die sie noch oft an ihre Grenzen bringen würde. Sicherlich war auch ‚das‘ eine weitere Gemeinsamkeit zwischen ihnen, dachte Luna.

      Ihr Herz pochte noch immer sehr schnell. Das gerade erlebte Szenario; diese beeindruckenden Bilder liefen im Geiste immer wieder wie ein Film vor ihren Augen ab. Das Gefühl der Gemeinsamkeit war ein gutes Gefühl. Die dahin ziehenden Vögel nahmen ihr einen Teil der Sorge; trugen sie mit sich auf ihre Reise der Ungewissheit. Gewissermaßen waren sie Gleichgesinnte – mit einem Unterschied: die Vögel kannten ihr Ziel.

      Luna wünschte ihnen gedanklich alles Gute. Ob sie im Frühjahr alle wieder hierher zurückkehren würden? Viele Tiere würden die körperliche Strapaze nicht überleben und einige würden Beute für überlegenere Gegner werden. Der Gedanke, dass das Frühjahr ihnen zugleich neues Leben schenken würde und vertraute Gefilde sie erneut willkommen heißen würden, gefiel ihr deutlich besser.

      Das Gefühl der Verbundenheit wurde immer stärker. Mehr denn je fühlte sie sich als Teil dieser Natur. Sie lernte von ihr. Die Natur begleitete sie in ihrem Wirken, sie gab ihrem Dasein Lebendigkeit und lehrte sie Leben. Sie wurde akzeptiert. Das zu fühlen tat unendlich gut. Sie sah dem Schwarm fast ein wenig traurig hinterher und empfand in der darauf folgenden Stille einen wehmütigen Verlust.

      Ob die Wildgänse ihren Sinn des Lebens kannten?

      Eines stand fest. Sie folgten ihrem ureigenen Instinkt – so, wie Luna es gerade tat.

      Bereits jetzt vermisste sie Robin. Besonders die Sicherheit, die ihr Wohlbehagen bereitete, wenn er seinen starken Arm um sie legte oder liebevoll über ihr rotes Haar strich. Selbst Smokey, der Kater der Nachbarn fehlte ihr. Sie vermisste das Gefühl, wenn er um ihre Beine schlich und sein Drängen und Maunzen, das rigoros ein Streicheln einforderte, sobald sie das Haus verließ oder heim kam.

      Alleinsein


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