Ikigai. Dein Grund, morgens aufzustehen. Frank Bonkowski
gelandet. In einem ganz besonderen sogar, auf einem großen Bauernhof nämlich, wo die Oliven und der Wein, die dort serviert wurden, selbst angebaut worden waren.
Im Garten stand ein riesiger Grill, auf den der italienische „Papa“ gerade Reisig schmiss. Bis zum Essen dauerte es noch, weil es erst 20 Uhr war und wir noch viel zu früh dran waren.
Wir wurden zwar gefragt, was wir haben möchten, aber bekommen haben wir dann doch etwas ganz anderes − nämlich das, was „Mama“ gerade kochte bzw. was „Papa“ gerade grillte. Aber das war in Ordnung, weil dort einfach alles unglaublich gut schmeckte. Zum Nachtisch gab es Geburtstagskuchen, weil der Enkel gerade 13 geworden war und am Nachbartisch mit seinen Kumpels feierte.
Als wir langsam loswollten und ich merkte, dass ich doch ganz schön viel Rotwein getrunken hatte, kam „Papa“ mit gegrilltem Fisch vorbei, den er eigentlich für die 22-Uhr-Gäste vorbereitet hatte. Den mussten wir natürlich auch noch probieren. Und dazu gab es seinen selbst angebauten Weißwein. Er zeigte auf sich, dann den Wein, und ich verstand, dass er mächtig stolz auf sein Werk war. Also, „Salute“ und nochmal „Hoch die Gläser“.
Wir sind inzwischen öfter auf diesem Hof gewesen, und eines Abends wurde uns Francesca vorgestellt, die 20 Jahre in Köln gearbeitet hat, bevor sie einen älteren Herrn, Giovanni, heiratete und wieder zurück nach Italien zog. Giovanni ist ein Jugendfreund von „Papa“, dem Besitzer. Mit ihr als Übersetzerin wurde die Kommunikation deutlich einfacher. Am nächsten Abend, an dem ein besonderer Fisch serviert wurde, aßen wir nicht mehr an einem eigenen Tisch, sondern gemeinsam mit der Familie und deren Freunden. „Papa“, von dem wir nun wussten, dass er Bonifazio heißt, erzählte, wie er jahrelang in Libyen gearbeitet und dort mit Gaddafi an einem Tisch gesessen hatte. Nachdem er genug Geld verdient hatte, ist er nach Hause gekommen und hat sich seinen ganz eigenen Traum erfüllt: Er hat in seinem Heimatdorf eine Farm gekauft und mit seiner Frau Liza ein Restaurant eröffnet. Inklusive Hotelbetrieb. „Hier könnt ihr sehr günstig übernachten. Wollt ihr mal unsere Zimmer sehen?“
Zwei Monate später wohnten wir für ein paar Tage dort, und ich bekam mit, dass das, was uns so leicht und spielerisch erschien, harte Arbeit ist. Bonifazio lief morgens schon um 5 Uhr durch den Garten, und das, nachdem am Tag zuvor eine Party mit 20 hungrigen Gästen stattgefunden hatte, die erst kurz vor 2 Uhr morgens nach Hause gegangen waren. Seine Frau Liza tat mir immer ein bisschen leid. Ich habe sie fast nie woanders als in ihrer Küche angetroffen. Das hat auch meine Frau gesehen und sie einmal darauf angesprochen. Da strahlte die alte Dame aber nur: „Mi piace cucinare - Ich liebe es zu kochen. Ich könnte das den ganzen Tag lang tun.“
Wenn man außerhalb der Saison dort ist, kann es passieren, dass man mit einem 82-jährigen Witwer, einem pensionierten Priester, einem schüchterneren Junggesellen und einem Mann, der in einer einsamen Berghütte lebt, am Tisch sitzt. Da wird gelacht und getrunken und gefeiert, und irgendwann merkt man, dass die Menschen an diesem Tisch die einzige Familie sind, die sie haben. Das macht diese Party heilig und unglaublich wichtig.
Liza und Fazio haben das gefunden, was sie lieben. Das kann irre anstrengend sein, aber sie leben ihren Traum.
Matsche, Kunst und viel zu viel zu tun
Meine Tochter Jubilee hat es schon als Kind gemocht, im Matsch zu spielen und Dinge aus der schleimigen Masse zu formen. Später waren es Bleistifte, Ölfarben, Musikinstrumente und Graphic Tablets.
Jubilee liebt es, sich künstlerisch auszudrücken.
Wie so viele Künstler hat sie depressive Phasen, und es ist ihre Kunst, die sie in solchen dunklen Momenten begleitet, tröstet und ihren Gefühlen Ausdruck verschafft.
Dass sie später mal Kunst studieren würde, war uns allen klar, obwohl natürlich viele Argumente dagegen sprechen. Zum Beispiel Frage #4: „Kann man damit Geld verdienen?“ Irgendwann fiel die Entscheidung, dass sie an die Universität Calgary in ihrem Heimatland Kanada gehen würde. Kanadische Kunsthochschulen sind nicht unbedingt günstig, also musst du nebenbei eine Menge arbeiten. Die Anforderungen sind unglaublich hoch, weil Kunst in Kanada einen hohen Stellenwert besitzt. Deshalb schiebt meine Tochter im Moment häufig 7-Tage-Wochen.
Heute Morgen kam eine WhatsApp, gegen 5 Uhr ihrer Zeit. Ein Bild von einem vollgestapelten Schreibtisch: Arbeitsblätter, angefangene Bilder, Laptop, Graphic Tablet. Darunter die Worte: „Hab gerade meinen ersten All-Nighter hinter mir.“
Ich: „Sieht aus, als ob du eine Menge zu tun hast im Moment.“ (06:16)
Jubilee: „Ja, und das ist nur ein Bruchteil. Das College ist unglaublich stressig. Ohne den ganzen Druck würde es noch mehr Spaß machen.“ (06:17)
Ich: „Du bereust aber nichts, oder?“ (06:18)
Jubilee: „Ich bin mir absolut sicher, dass ich am richtigen Ort bin.“ (06:19)
Wenn du das findest, was du liebst, kannst du mehr Stress aushalten, als du jemals für möglich gehalten hättest.
Charley, der Busfahrer, und meine Suche nach Kartoffelchips
Vor etlichen Jahren musste ich, für meine Verhältnisse viel zu früh, auf einem Flugplatz sein, um von Vancouver nach Calgary zu fliegen. Ich war schon damals ein richtiger Morgenmuffel, der vor 9 Uhr und ohne genug Espresso eigentlich nicht zu genießen war.
An besagtem Morgen, quasi nachts, musste ich um 4:30 Uhr aufstehen, um rechtzeitig in Vancouver zu sein. Es war gegen 7:30 Uhr, als ich aus meinem Auto torkelte, um mich von einem Shuttlebus zum Check-in befördern zu lassen. Es war einer dieser grauen, kalten Herbsttage. Die Sonne war klüger als ich und hatte sich noch nicht blicken lassen, und ich war echt mies gelaunt.
Und dann kam Charley und änderte das. Ein großer Mann mit kurzen, grauen Haaren und muskulösen, tätowierten Oberarmen. Er begrüßte mich vom Fahrersitz des Shuttlebusses aus. Charley war der fröhlichste Shuttlebusfahrer, den ich je kennengelernt habe. (Wobei ich gestehen muss, dass ich kaum Shuttlebusfahrer kenne. Vielleicht sind die ja alle so gut drauf?)
Morgenmuffel mögen ja bekanntlich keine fröhlichen Menschen, aber dieser Mann hatte eine unaufdringliche Freude. Mit einem „Isn’t it a wonderful day to be alive?“, nahm er mir meinen Koffer ab und stellte ihn in den Kofferraum.
Dann sammelten wir weitere schläfrige Reisende auf. Innerhalb von 15 Minuten schaffte unser Fahrer es, uns so freundlich zu begegnen, dass kurz darauf zwölf zuvor verschlafene Passagiere gutgelaunt und vor sich hin summend auf ihre Schalter zugingen.
Charley hatte gar nicht so viel gemacht. Aber er war einer dieser Leute, von denen es viel zu wenige gibt, die ihren Job total gerne und mit Leidenschaft machen. Der Mann liebte, was er da tat.
Wie anders ist es, wenn jemand ohne Freude seinen Job erledigt. Wenn man eine Verkäuferin im Supermarkt fragt, wo die Kartoffelchips stehen, und die so tut, als hätten sie keine mehr, einfach nur, weil sie keine Lust hat, zu helfen. Wenn man auf dem Amt abgewimmelt wird, weil man an den falschen Beamten geraten ist, der schon längst keinen Bock mehr darauf hat, Menschen weiterzuhelfen.
Oma hat mich auf die Pedale treten lassen
Alle Mädchen in unserer Jugendgruppe lieben Arjos. Das liegt unter anderem daran, dass Arjos, der älteste Sohn einer syrischen Einwandererfamilie, eine tiefe Zufriedenheit ausstrahlt, weil er, mit gerade mal 16 Jahren, das gefunden hat, was er liebt.
Arjos will Designer werden. Als alle Jungs in seiner Klasse Technisches Werken gewählt haben, saß er mit den Mädchen im Textilkurs. Das scheint jetzt, mit 16, eine coole Idee zu sein, aber damals war Arjos 11 und musste sich blöde Witze von den Jungs anhören, dass die Mädchen noch zwei Jahre brauchen würden, bis sie endlich hübsch wären.
Während andere Teenager Selfies posteten, postet Arjos Bilder von Dingen, die er genäht hat.
Diese Woche wird in seiner Schule ein Theaterstück aufgeführt, für das Arjos die Kostüme entworfen und zum Teil selber gefertigt hat. Während die meisten Menschen heutzutage immer später herausfinden, was sie mit ihrem Leben machen möchten, ist Arjos eine Ausnahme.