Nadelherz. Rose Zaddach

Nadelherz - Rose Zaddach


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href="#udd859480-c453-5dcb-86bb-dc0aa6f74b29">Jugend und Chaos

       Achtzehnter Geburtstag

       Trauer, Tod und Neubeginn

       Das Wiedersehen

       Enttäuschte Hoffnung

       Das Geschenk

       Im Vakuum

       Die Entscheidung

       Aufbruch ins Unbekannte

       Fado, Gesang der Nacht

       Der Brief

       Rondo

       Epilog

       Dank

       Über die Autorin

       PROLOG

       Die Journalistin und die Prozessakte

      Im Sommer des vergangenen Jahres nahm die Journalistin Albertine Martinek eine Prozessakte zur Hand. Sie war ihr von einer auffallend schönen, brünetten, etwa vierzigjährigen Frau kommentarlos übergeben worden.

      Albertine Martinek hatte die Akte oberflächlich durchgeblättert und dann zuunterst ihres Aktenberges abgelegt. Dort staubte sie vor sich hin. Ja, Albertine hoffte im Stillen, dass sie die Akte vergessen würde. Doch sie kam ihr immer wieder in den Sinn oder gelangte beim Aufräumen und Ordnen unbeabsichtigt in ihre Hände. Die Sache war ihr im Grunde zu heikel. Das Leben hielt genug Katastrophen bereit, man musste sie nicht provozieren. Gewöhnlich handelte sie mit kühlem Kopf.

      Der Inhalt der vernachlässigten Akte erinnerte Albertine immer wieder an eine Episode aus ihrem eigenen Leben. Beständig und in aller Stille begannen die dort beschriebenen Ereignisse ihre eigenen Vergangenheit heraufzubeschwören. Sie fühlte sich gedrängt, ja genötigt, sich die Akte vorzunehmen. Also begann sie noch einmal, in den Unterlagen zu blättern.

      Die Prozessakte war im üblichen Juristendeutsch abgefasst, trocken, ohne Emotion und mit einem sachbezogenen Urteil versehen. Doch diesem Urteil schienen lange Überlegungen vorausgegangen zu sein. Das Gericht brauchte zur Urteilsfindung einige Wochen.

      In den Unterlagen befand sich auch ein wirres Durcheinander von Briefen, Zetteln mit kindlichen Zeichnungen, codierten Botschaften, die kaum zu entschlüsseln waren, Gedichte auf weißem Papier und Todesanzeigen. Ebenso gab es eine genaue Beschreibung des Ortes, an dem sich die Ereignisse abgespielt hatten. Albertine beschloss, diesen Ort aufzusuchen. Sie erwartete allerdings nicht, nach so langer Zeit noch Erinnerungen oder Dokumentarisches vorzufinden. Immerhin waren Jahre vergangen. Sie wollte aber die Atmosphäre des Ortes erspüren, um der Geschichte, die sich dort ereignet hatte, nahe zu kommen.

      Sie fuhr an einem kalten Wintermorgen los und fand ein verlassenes und verfallenes Gehöft unter einer weißen Schneedecke begraben. Es war früher Nachmittag.

      Sie betrat das Gelände, spähte durch blinde Fensterscheiben, stapfte auf einem tief verschneiten Pfad eine Mauer entlang, fand die mit Gestrüpp überwachsene ehemalige Pferdekoppel, die Stallungen mit eingebrochenem Dachstuhl, dann Maschendraht auf frostiger Erde und einen vermoderten Zaun, der die Grenze des Anwesens anzeigte. In der Ferne leuchteten weiß in weiß die Spitzen der Alpen hervor.

      Über ein aus den Angeln gehobenes Tor gelangte sie in den Hinterhof. Durch die Fensterscheiben entdeckte sie den ehemaligen Speiseraum mit einem großen Esstisch, um den Stühle herrenlos, wild und ungeordnet herumstanden. Sie sah Truhen, wie zum Aufbruch aus- oder eingepackt und hastig stehengelassen. Etwas abseits spähte sie durch eine zersplitterte Glasscheibe in die angrenzende Scheune. Die Scherben im Fenster waren mit rot bemalter Pappe, einer Blutspur gleich, notdürftig abgedeckt, die Werkstatt noch voller Hobelspäne und herumliegendem Werkzeug, als hätte gestern hier noch jemand gearbeitet. Auf einem Fensterbrett fand sie dann, mit Schnee und Laub bedeckt, von Kinderhand bemalte Steine, darunter auch einen Stein, in den ungelenk der Name „Xavelia“ eingeritzt worden war.

      Die Journalistin steckte diesen Stein vorsichtig, als hätte sie einen Edelstein gefunden, in ihre Tasche. Er war die einzige Erinnerung an das dortige Geschehen und der Beweis dafür, dass das Mädchen Xavelia hier einmal gelebt hatte. Dann schritt sie durch den Schnee zurück und hinterließ eine Spur, die den ganzen Winter über hielt. Denn in der Nacht kam harter Frost und es würde bis zum Frühjahr kein Neuschnee mehr fallen. Das war selten. Die Berge leuchteten an hellen Tagen schneeweiß herüber und in den klirrenden Winternächten spannte sich ein funkelndes Sternenzelt über die Hochebene.

      Albertine Martinek ordnete, wieder zu Hause, die Zettel, Briefe und Tagebücher, welche die Ereignisse jenes Ortes preisgaben, und heftete sie chronologisch in die Akte ein. Dann begann sie zu schreiben. Sie würde den beiden Hauptpersonen eine eigene Stimme geben und sie ihre Sicht der Dinge selbst erzählen lassen. Das Mädchen Xavelia und der junge Lehrer Berret Gardot sollten selbst von ihrer Liebe und vom Zusammenbruch eines ganzen Familiengefüges berichten.

       FADO

       (Berret)

      Vor zwanzig Jahren streifte ich, Berret Gardot, ziellos durch Lissabon. Durch die versengende Sonne der Estremadura in Spanien hatte ich eine Wanderung hinter mich gebracht, war drei Monate lang einsame Wege gegangen und vom Jakobsweg nach Santiago de Compostella abgewichen. Um mit mir ins Reine zu kommen, wollte ich alleine sein. Ich war neunundzwanzig Jahre alt und hatte eine unerlaubte und unglückliche Liebe hinter mir.

      Zuerst wanderte ich nach Süden und dann nach Westen, bis ich über ein römisches Brückenbauwerk, das sich weit über den Fluss Tejo spannte, in Portugal ankam. Hinter der Grenze machte ich in einem Ort namens Ponte de Sor Halt und nächtigte in einem kleinen Hotel, bis sich mein Körper wieder erholt hatte und die Blasen an meinen Füßen verheilt waren, Dann wanderte ich weiter am Rande der Landschaften Ribantejo und Alentejo bis zur Hauptstadt Lissabon. Die letzten Stunden begleitete mich der Tejo, bevor er seine Wassermassen in ein breites Hafenbecken ausdehnte und sich danach ins Meer ergoss. Ich kam in der Stadt an, in der ich endlich Linderung von meinen Schuldgefühlen und meiner Verzweiflung erfuhr und entdeckte den Fado, den Gesang vom menschlichen Schicksal und der Sehnsucht nach Erfüllung.

      Zunächst aber schlenderte ich am Hafen entlang, fuhr mit der Bahn bis zum westlichsten Zipfel Europas und blickte auf die Weite des Ozeans, während die Schiffe die Mündung des Tejos ein- und aus fuhren. Die Seeschwalben zogen ihre Kreise über dem Wasser, das wie ein gläserner Spiegel an diesem heißen und windstillen Tag vor mir lag.

      Das ewige Rauschen des Ozeans und der Blick zum fernsten Horizont versetzten mich in eine Stimmung der Ehrfurcht. Die Dinge erhielten ihre Ordnung. Klein wurde klein und groß wurde groß. Auch meine vergangenen Jahre sah ich plötzlich in anderem Licht. Ich hörte auf, mich zu bemitleiden und begann zu begreifen, dass mein Schicksal nicht mit Vergessen und Ablenkung zu bezwingen war. Der Wahrheit ins Auge zu schauen und mit dem Verlust und der Schuld zu leben, das


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