ROSAROT war ihre Brille … Die Fortsetzung. Anabella Freimann
Und zwar innerhalb weniger Minuten. Allerdings war ich eine ehrgeizige Schülerin und zum absoluten Brav-Sein erzogen. Also konnten sich meine Eltern in Sicherheit wiegen und stolz auf ihre Tochter sein. Das sollte sich jedoch bald ändern.
Beim ersten Appell zum Schuljahresbeginn wurden die neuen Lehrer vorgestellt. Es waren zwei: ein Sportlehrer und ein Lehrer für die Grundschulklassen. Der erste hieß Schmidt und der zweite, wenn ich mich nicht irre, Prokop. Mit dem fing alles an. Er war nicht sehr groß, hatte aber wunderschöne blaue Augen und blonde, wellige Haare. Ich konnte meine Blicke nicht von ihm wenden. Vom ersten Augenblick an war es um mich geschehen. Seltsame, unbekannte neue Gefühle kamen in mir auf. War ich verliebt?
Ich erinnere mich an einen Nachmittag bei meiner besten Freundin in Meusebach. Sie erzählte mir Dinge, mit denen ich nichts anzufangen wusste. Im Gegensatz zu mir durfte sie die Tanzstunde besuchen. „Stell dir vor, als ich aufs Fahrrad steigen wollte, kam mein Tanzstundenpartner, der Hartmut aus Stadtroda, und hielt meinen Lenker fest! Mein Herz klopfte wie wild. Du weißt ja, dass ich in ihn verliebt bin! Wir liefen eine Weile, bis wir an eine Bank kamen. Er stellte das Fahrrad an einen Baum und zog mich auf die Bank. Er hat mich geküsst und umarmt und ich dachte, ich sterbe vor Angst und Freude. Ich glaube, dass ist Liebe.“
Mhm, vor Angst und Freude sterben? Was war das denn? Ich stellte mir damals vor, mir wäre das passiert. Lieber nicht, waren meine Gedanken gewesen.
Als mich ein Klassenkamerad zu einem Abendspaziergang einlud, sagte ich zu. Doch als er mich umarmen und küssen wollte, glaubte ich, dass ich nun ähnliche Gefühle wie Siegrid bekommen würde. Ich horchte in mich hinein. Nichts tat sich. Nicht das Geringste empfand ich. Nur ein unangenehmes Gefühl verspürte ich von zu viel Nähe.
Doch jetzt? Sah ich ihn, den Jürgen, auf dem Schulhof, wurde ich rot. Hätte er irgendetwas zu mir gesagt, ich glaube, ich hätte keine Silbe herausgebracht. Aber natürlich sprach er mich nie an und beachtete mich auch nicht im Geringsten. Warum auch, ich fand mich nicht hübsch. Auch trug ich eine Brille mit dicken Gläsern. Aber träumen durfte man ja schließlich, und das tat ich dann auch. Ich vergötterte ihn.
Meine Freundin Siegrid meinte: Du bist verliebt. Aber in einen Lehrer verliebt zu sein, ist gefährlich. Und verboten.
Ein Klassenkamerad, mit dem ich gemeinsam die Schulbücherei betreute, bemerkte mein „Problem“. Er lächelte mich vielsagend an: „Lass mich nur machen!“
Wir wohnten gleich neben der Schule im so genannten Lehrerwohnhaus. Es war ein warmer Septembertag und durch das geöffnete Fenster meines Zimmers vernahm ich das muntere Zwitschern der Vögel. Mir war so leicht zumute, ich träumte vor mich hin und dachte dabei unentwegt an meinen „Schwarm“. Was wäre, wenn er jetzt plötzlich in mein Zimmer kommen würde? Oh, Schreck, da öffnete sich die Tür zu meinem Zimmer tatsächlich! Aber es war natürlich nicht Er, sondern mein Vater.
Er hatte ein Stück Papier in der Hand. Sein Gesicht verhieß nichts Gutes. „Wer hat das geschrieben?“ Ich wusste zuerst nicht, was er meinte. Doch dann kam mir plötzlich der Satz in den Sinn: „Lass mich nur machen!“ Hilfe. Was hatte Kurt da angerichtet? „Ich weiß nicht, worum es geht, und überhaupt, was steht denn auf dem Zettel?“
Wortlos reichte er ihn mir. Die Handschrift kannte ich. „Regina aus der 9b ist in Sie verliebt. Sie möchte sich mit Ihnen treffen.“ Ich schämte mich so sehr vor meinem Vater. Er schüttelte traurig den Kopf. Meine Mutter schimpfte heftig mit mir: „Wie stehen wir jetzt da, der Zettel wurde im Lehrerzimmer laut vorgelesen und es gab allgemeines Gelächter! Schämst du dich nicht?“
Natürlich schämte ich mich. Ich wurde immer kleiner auf meinem Stuhl. „Wer hat das denn vorgelesen?“
„Na, der, mit dem du dich treffen willst, dein Schwarm! Und er hat schallend gelacht.“
Derselbe, mein heißgeliebter Jürgen hat das vorgelesen? Oh, das war Verrat an meinen Gefühlen! Dem Kurt konnte ich nicht böse sein, aber ihm! Am liebsten wäre ich vor meinen Eltern im Erdboden versunken. Mein Klassenlehrer hatte es also auch mit gehört! Und alle anderen Lehrer ebenfalls.
Als ich wieder allein in meinem Zimmer war, schloss ich das offene Fenster, warf mich auf mein Bett und weinte bitterlich. Erstens, weil ich so verliebt war und mein Herz wehtat. Zweitens, weil der, welchem meine Gefühle galten, sich auch noch darüber lustig gemacht hatte. Taktlos und gemein fand ich das damals. Heute würde ich sagen – so etwas ist eines Lehrers nicht würdig.
War ich nun geheilt? Mitnichten! Am nächsten Freitag fand ein Turnwettbewerb in Hermsdorf statt, bei dem auch ich mit einer Kür im Bodenturnen teilnehmen sollte. Lange hatten wir uns darauf vorbereitet, schließlich wollten wir ein gutes Ergebnis erzielen. Mit dem Bus musste ich gleich nach dem Unterricht bis Stadtroda fahren, um dann in den Zug nach Hermsdorf einsteigen zu können. Im Bus aber saß auch „er“, und zwar ganz vorn. Ich verzog mich nach hinten, um ihn ungestört mustern zu können. Ich heftete meinen Blick fest auf seine breiten Schultern und seine blonden Haare. Mein Herz klopfte wie wild. Alles normale Denken war ausgeschaltet. So bemerkte ich auch nicht, wie der Bus am Bahnhof anhielt und schließlich weiterfuhr. Als ich den Blick von seinen Schultern zum Fenster lenkte, überkam mich Panik. Die Haltestelle war schon nicht mehr zu sehen. Ich rannte nach vorn, dabei musste ich mich an ihm vorbeischlängeln. Er grinste nur. Den Tränen nah flehte ich den Busfahrer an: „Bitte öffnen Sie die Tür noch mal. Es ist wichtig, ich verpasse sonst den Zug!“ Zuerst hob er bedauernd die Schultern, doch dann bremste er und ließ mich aussteigen. Hinter mir verwunderte Gesichter. Die Sporttasche fest unter den linken Arm gezwängt, spurtete ich los. Sein Grinsen ging mir nicht aus dem Kopf.
Außer Atem kam ich gerade noch rechtzeitig auf dem Bahnsteig an. „Wo bleibst du nur?“, riefen die anderen und zogen mich ins Abteil. Ich brachte kein Wort heraus und heulte los. Dieser gemeine Kerl hat mich ausgelacht!
Als ich an der Reihe war, schwor ich mir: Regina, jetzt zeige, was du kannst. Und danach ist Schluss mit der sinnlosen Schwärmerei. Mehr automatisch als elegant absolvierte ich mein Programm und bekam doch noch gute Noten dafür.
Zum endgültigen Loslassen aber verhalf mir unser Schuldirektor. Das kam so: Der von mir so heftig Angehimmelte kam häufig zu spät zum Unterricht. Eines Tages holte mich mein Lehrer mit folgenden Worten aus dem Unterricht: „Du willst doch Lehrerin werden, jetzt kannst du schon mal einen kleinen Schnupperkurs machen. Werfe auch mal bei der Gelegenheit einen Blick ins Klassenbuch.“ Damit steckte er mich in die Klasse, die Herr Prokop führte. Ich setzte mich an den Lehrertisch, und wenn ich es recht bedenke, waren das eigentlich die wirklich allerersten Minuten meiner Lehrerinnenlaufbahn.
Die Kinder kannten mich von den Pausen auf dem Schulhof. Sie waren ganz still und schauten mich erwartungsvoll an. Ich war sehr aufgeregt und ich hatte Angst, mich vor den Kindern zu blamieren. Meine Angst erwies sich als unbegründet.
Im Klassenbuch stand, dass jetzt Lesen geübt werden sollte. Ich schlug das Lesebuch auf, wählte eine Geschichte aus und bat sie, diese aufmerksam zu lesen. In der Zwischenzeit blätterte ich ein wenig im Klassenbuch und fand – oh Schande – eine ganze Reihe Rechtschreibfehler. Das konnte ich ihm nicht verzeihen, so wie ich auch bei Briefen meiner Verehrer immer zuerst die Fehler entdeckte und manchmal sogar mit Korrektur zurücksendete.
Mitten im Nacherzählen und im Fragen beantworten ging die Tür auf und „Er“ erschien. Er sagte nicht etwa Dankeschön zu mir, sondern schaute durch mich hindurch. Ich schien für ihn nicht zu existieren! War es ihm denn gar nicht peinlich, dass ihn eine Schülerin vertreten musste? Wohl doch nicht. Von dieser Minute an starb meine Schwärmerei. Die Kinder winkten mir zu, als ich den Raum verließ. Und wer kam mir entgegen? Unser Schuldirektor.
Ich wurde später wirklich Lehrerin, wenn auch mit Hindernissen. Oft musste ich an diese Begebenheit zurückdenken. Und dann war in meinem Kopf immer ein ‚Schade‘, denn ich sah ihn nie wieder und hätte ihm gern tüchtig den Kopf waschen. wollen.
Nichts im Leben muss man fürchten.
Man muss es nur verstehen.