Zwanzig Stunden in Tibet. Thomas Junker
Leipzig, im Sommer 2008
Thomas Junker
TRAUMA – TEIL 1: SCHMERZEN
Die Abfahrt von unserem prächtigen Aussichtshügel hinunter zum Pang-La-Pass dauert keine zehn Minuten. Mit unseren beiden geländetauglichen Motorrädern der Marke KTM Adventure 640 ist es ein feiner Spaß. Am Pass selbst ist ein kleiner Holzverschlag. Straßenarbeitern dient er bei Stürmen als Notunterkunft. Heißen Tee und einen Teller Suppe gibt es immer. Da wir noch auf unseren staatlich verordneten Aufpasser John warten müssen, entschließen wir uns, auch einen Tee zu trinken.
Mit John ist es ein ewiges Katz- und Mausspiel. Eigentlich dürfen wir uns ohne ihn nicht bewegen. Aber er ist mit einem Jeep unterwegs, den er natürlich nicht selbst fährt, sondern vom Tibeter Gumbu steuern lässt, dem der Wagen auch gehört. Und das ist unser Vorteil: Mit unseren Motorrädern sind wir auf den oftmals miserablen Pisten wesentlich wendiger und schneller unterwegs. So kann ich meist ohne Erlaubnis filmen, was und wen ich will. Unser Vorsprung reicht fast immer aus, um Ausflüge in benachbarte Seitentäler oder auf umliegende Berge zu machen. Der Jeep chinesischer Bauart kommt zwar überall durch und auch an, dies aber mit atemberaubender Langsamkeit. Gumbu schont seinen Wagen, er ist ihm wichtig. Und längst hat auch er den Vorteil für uns entdeckt, steuert dem nicht entgegen.
John ist dies ein Dorn im Auge und wir alle bekommen regelmäßig mahnende Worte zu hören. Aber erstens haben wir uns daran gewöhnt, zweitens wissen wir, dass den harten Worten keinerlei negative Konsequenzen folgen. Und drittens ist die Auswahl des Autos nicht unsere Angelegenheit. So haben wir auf dem Hügel oberhalb des Pang La nicht nur diese traumhafte Aussicht genossen, sondern auch reichlich Filmaufnahmen gedreht.
Aber all diese Gedanken sind an jenem schönen 19. September 2001 um 13.30 Uhr auf einen Schlag verflogen, völlig unwichtig. Beim Eintritt in die Hütte, noch bevor wir uns auf die einzige Sitzgelegenheit, eine Pritsche ohne Matratze, setzen können, bricht Steffen Müller schmerzverzerrt zusammen. Er krümmt sich, windet sich, bringt kein Wort hervor.
Die tibetischen Arbeiter blicken Steffen entsetzt an. Keiner spricht ein Wort. Es ist eine qualvolle Stille, die nur von Steffens Stöhnen unterbrochen wird. Nach wenigen Minuten lassen die Krämpfe ein wenig nach. Steffen spricht ein paar Worte, beschreibt die Schmerzen als etwas, was er noch nie in dieser Heftigkeit gespürt hat.
Mir schießen tausend Gedanken durch den Kopf; teils wirr, ohne logische Verbindung zueinander. Es fällt mir schwer, beim Anblick seines Leidens klar zu denken. Was hat er? Woher kommen die Schmerzen? Ist es die Höhe? Nein, sie kann es nicht sein. Wir sind schon so viele Tage jenseits der 4 000-Meter-Marke. Das sollte uns körperlich keine Probleme mehr bereiten. Oder doch? Vielleicht haben wir gestern Abend etwas Schlechtes gegessen oder verunreinigtes Wasser getrunken? Ja, das wäre eine Erklärung. Aber Steffen spricht von Schmerzen, wie er sie noch nie hatte. Und er, der mich nun schon seit fünf Jahren auf all meinen Filmreisen begleitet hat, mit dem ich gemeinsam in 99 Tagen auf Motorrädern um die Welt gefahren bin, der mich zum Nord- und Südpol begleitet hat, mit dem ich auch einen Film über die Dakar-Rallye gedreht habe, nein er, dieser Steffen Müller, würde wegen einer Magenverstimmung nicht solche Gefühle zeigen. Steffen ist ein sehr lebenslustiger, fröhlicher, aber eben auch ein stiller Mensch. Es muss etwas Ernstes sein.
Sehr zu unserer Beruhigung stabilisiert sich Steffens Lage, werden die Schmerzen erträglich. Für ein paar Minuten ruht er sich auf der Pritsche aus, trinkt etwas Tee. Nach einer Viertelstunde beschließen wir beide, dass es besser für ihn sei, in tiefere Lagen, ins Tal zu kommen. Der Sauerstoffgehalt hier oben ist sehr gering, mit jedem Meter tiefer wird es besser. Das kann Steffen zumindest nicht schaden.
Ich helfe ihm auf sein Motorrad. Zum Glück springt es ohne Murren an und Steffen entschwindet mit dem Mut des Verzweifelten talwärts. Nun heißt es, auf John und Gumbu zu warten. So sehr ihre Verspätung mir in all den Tagen gefallen hat, jetzt nervt sie! Wo bleiben sie nur? Die Strecke vom Kloster Rhongbuk am Everest ist in einem katastrophalen Zustand. An einer Stelle versucht man, einen abenteuerlichen, kleinen Tunnel in den Fels zu sprengen. Aber heute gab es keine Detonationen, also auch keine kurzfristigen Sperrungen der Strecke.
Jede Minute kommt mir endlos vor. Aber ich habe John versprochen, hier am Pang La auf ihn zu warten, keinen Ärger zu machen. Dennoch, ich will zu Steffen, ihn nicht ausgerechnet jetzt alleine lassen. Mich beschleicht ein schlechtes Gefühl. Steffen hatte die vergangenen acht Tage immer mal wieder Bauchschmerzen. Aber nur für ein oder zwei Stunden. Natürlich haben wir dieser Tatsache Beachtung geschenkt. Und deshalb nimmt er auch bereits seit drei Tagen Antibiotika. Jedoch nicht, weil ein Arzt uns das so geraten hätte. In der Region zwischen dem Shisapangma und dem Everest gibt es keinen Arzt. Und es gibt auch kein Telefon, mit dem wir uns einen ärztlichen Rat hätten holen können. Wir waren und sind auf uns allein gestellt.
Seit mehr als zehn Jahren unternehme ich Expeditionen und Reisen in ferne Länder. Die Furcht vor einer solchen Situation, sie reist immer mit. Natürlich versucht man vor jedem Start das Risiko zu minimieren, lässt sich von Jahr zu Jahr intensiver ärztlich untersuchen. Aber man kann nicht alle Risiken ausschließen. Uns war das immer bewusst. Vollkasko gibt es bei solchen Abenteuern nicht. Gut, wir hätten unser Team erweitern können um eine dritte Person, um einen Arzt. Aber genau das ist der Knackpunkt. Weitere Personen im Team, etwa ein Kameraassistent, würden die eigene Arbeitsbelastung spürbar senken. In unserem Zwei-Mann-Team ist Steffen für die Fahrzeuge zuständig und hilft mir bei den Dreharbeiten. Mir fallen die Organisation der Reise und die Dreharbeiten zu. Eine größere Mannschaft würde jedoch die Dreharbeiten vor Ort eher erschweren. Zum Einen wird die Flexibilität schwieriger, zum Anderen haben wir die Erfahrung gemacht, dass der Kontakt, die Nähe zu den Menschen so am einfachsten ist. Dann dreht sich das Geschehen meist nur für kurze Zeit um uns Fremde. Nach ein paar Minuten kann ich mich voll auf die Dreharbeiten konzentrieren. Für meine Filme ist mir das sehr wichtig: Ich will die Menschen porträtieren, sie so zeigen, wie sie leben, in ihrem normalen Umfeld.
Nach zehn Minuten hat das Warten ein Ende. Ich berichte John von Steffens Schmerzen und bitte ihn, dass wir so schnell wie möglich einen Arzt suchen müssen. Seine erste Reaktion entmutigt mich. Er weiß nichts von einem Arzt in der Umgebung. Ich steige auf mein Motorrad und fahre los. Doch weit komme ich nicht. Keine 150 Höhenmeter tiefer, in einer sanften Kurve, liegt Steffen im Gras. Das Motorrad hat er noch, pflichtbewusst wie er ist, aufgebockt. Doch der Anblick schockiert mich. Wieder krümmt sich Steffen vor Schmerzen, stöhnt, bringt kaum Worte hervor, ringt nach Luft.
Wer Steffen kennt, der weiß: Wenn er von seinem geliebten Motorrad steigt, dann muss die Lage bitterernst sein. Zum Glück ist unser Begleitfahrzeug gleich zur Stelle. Gumbu überblickt sehr schnell die Situation, obwohl wir uns nicht direkt verständigen können. Er spricht nur tibetisch und chinesisch, was ich wiederum nicht beherrsche. So müssen wir immer den Umweg über John gehen. Aber nie weiß ich wirklich, was er übersetzt und was nicht. Gumbu jedenfalls fängt sofort an, seinen Jeep so umzuräumen, dass Platz für Steffen wird. Sachen, die auf der hinteren Sitzbank verstaut sind, wandern auf die kleine Pickup-Ladefläche. Er hantiert sehr schnell und treibt seinerseits John an, der überfordert scheint und erst zur Mitarbeit aufgefordert werden muss.
Ich baue derweil einige Sachen wie die GPS-Satelliten-Navigation und den Tankrucksack ab, platziere das Motorrad so, dass es nicht aus Versehen umgefahren werden kann. Sichere es, so gut es eben in solch einer Situation geht, gegen Diebstahl. John krabbelt schließlich im Auto nach hinten, Steffen bekommt den Beifahrersitz. Wir wollen unten im Tal in die 50 km entfernte Ortschaft New Tingri fahren. Dort könnte es einen Arzt oder sogar ein Krankenhaus geben, so deute ich zumindest die Worte von Gumbu. John, der ein gutes Englisch beherrscht, ist mir in diesen Stunden nicht immer ein nützlicher Begleiter. Zu lange dauert es, bis er übersetzt. Manchmal muss ich drei, vier Minuten warten, bis eine Frage beantwortet wird. Minuten, die mir wie eine Ewigkeit vorkommen, denn es müssen Entscheidungen getroffen werden. Auch jetzt bekomme ich keine klaren Aussagen von ihm. Aber Gumbu ruft immer wieder die Worte: „New Tingri, New Tingri!“ Und mit seinen Händen bedeutet er mir, schnell zu sein. Also fahren wir los. Ich mit dem Motorrad vorneweg, die drei hinterher. Noch sind wir im Mount-Everest-Nationalpark. Am Parkeingang will