Mitgefühl. Heinrich Bedford-Strohm
eben noch durch Wellen auf dem Meer an Leib und Leben bedroht gewesen war, wurden jetzt mit einer Welle der Hilfsbereitschaft empfangen. In den Gesichtern der Menschen, die in ihren Heimatländern so Fürchterliches erlebt hatten und nun nach einer zum Teil lebensgefährlichen Reise in einem fremden Land ankamen, stand eine Mischung aus ungläubigem Staunen, Erleichterung und auch bloßer Freude.
Die Helferinnen und Helfer, mit denen ich gesprochen habe, haben trotz teilweise vieler Stunden bereits abgeleisteten Dienstes keine Minute an dem tiefen Sinn ihres Tuns gezweifelt. Und schließlich die Einsatzkräfte: Für mich ist ein Foto dieses Tages zu einem der Bilder des Jahres geworden. Es zeigt einen Polizisten am Münchner Hauptbahnhof, der einem gerade angekommenen kleinen Jungen seine Polizeimütze aufsetzt. Beide strahlen um die Wette. Eine Polizeiuniform, nicht Ausdruck einer staatlichen Gewalt, die Terror verbreitet, wie der Junge es in seinem Herkunftsland kennen gelernt haben mag, sondern sichtbarer Ausdruck von Humanität. Als ich dieses Bild gesehen habe, habe ich gedacht: Wie dankbar bin ich, dass ich in einem Land leben darf, in dem staatliche Beamte so mit Menschen in Not umgehen.
Wo immer ich konnte, habe ich meinen tief empfundenen Dank ausgedrückt gegenüber den vielen, vielen Ehrenamtlichen, die geholfen haben und weiter helfen, aber auch an die unzähligen Hauptamtlichen in Politik, Verwaltung, Behörden, Polizei und Hilfsorganisationen, die mit unglaublichem Einsatz dafür gesorgt haben, dass die Erstaufnahme der Flüchtlinge so gut gelang.
Gut eine Woche nach dem historischen Wochenende in München stand ich an der ungarisch-serbischen Grenze in dem Grenzort Röszke. Die Menschen, die mir dort begegnet sind, waren erschöpft und erleichtert gleichermaßen. Sie hatten es gerade noch bis hierher geschafft, bevor die Grenze einen Tag später geschlossen wurde. Mir war klar, dass die, die nach ihnen kommen würden, vor dem Stacheldrahtzaun nicht stehenbleiben oder gar umkehren würden, sondern sich andere, möglicherweise auch gefährliche Wege nach Europa suchen würden. Am nächsten Tag reisten wir nach Serbien. An der serbisch-mazedonischen Grenze sprach ich mit Flüchtlingen, die gerade gehört hatten, dass der Weg über Ungarn an diesem Tag geschlossen würde. Kein einziger von ihnen erwog, einfach umzukehren. Hussein, ein Bäckergeselle aus Syrien, erzählte mir, wie er bei der Überfahrt von der Türkei nach Griechenland fast ertrunken wäre. Seinen Pass hat er im Wasser verloren. Umkehren kam für ihn nicht in Frage. Wohin hätte er gehen sollen? Sein Optimismus schien unerschütterlich. Ich denke oft an Hussein und frage mich, was aus ihm geworden ist. Ob er auf anderem Wege nach Deutschland oder ein anderes Land Europas gekommen ist? Oder in Griechenland festsitzt? Oder wieder zurück in die Türkei gebracht wurde und dort in einem Lager gelandet ist?
Im September dieses Jahres habe ich ein solches Lager besucht – im türkischen Diyarbakir – 150 km von der türkisch-syrischen Grenze. In dem Lager wohnen vor allem jesidische Familien aus dem Nordirak, die meisten von ihnen aus Sindschar, wo im August 2015 Zehntausende vom IS eingeschlossen waren. Manche sind verhungert oder verdurstet. Viele konnten durch den Einsatz der amerikanischen Luftwaffe und der Peschmerga-Kämpfer gerettet werden.
Die jesidische Familie, mit der wir im Zelt gesprochen haben und die seit 2 ½ Jahren hier lebt, ist verzweifelt. Das Schlimmste ist die Trennung. Die Frau mittleren Alters, mit der wir sprechen, erzählt von ihrem Sohn in Griechenland und von einem anderen Sohn in Deutschland. Dort werde er gut behandelt. Ihr sehnlichster Wunsch ist, zu ihm zu kommen. Bisher haben sich keine Wege dazu aufgetan. Die jüngere Frau, die neben ihr sitzt, eine Cousine, hat zwei kleine Kinder auf dem Schoß. Sie hat keine Ahnung, wo sie hin soll. Die beiden Kinder haben keinen geregelten Schulzugang. Nur dank der Diakonie Katastrophenhilfe, die mit ihren türkischen Partnern zusammen, von der Stadt Diyarbakir unterstützt, das Lager trägt, bekommen sie Förderung.
Fast drei Millionen Menschen hat die Türkei aufgenommen. Ist es zu viel erhofft, dass eine jesidische Mutter, die seit Jahren ohne Perspektive in der Türkei in einem Lager wartet, zu ihrem Sohn nach Deutschland kann? Solche Geschichten sind der Hintergrund dafür, dass wir als christliche Kirchen nach wie vor mehr legale Fluchtwege nach Deutschland und Europa fordern.
Und noch von einer anderen Reise erzähle ich. Es war der Kurzbesuch auf Sardinien, zu dem ich im August 2016 aufgebrochen bin. Auf der Werra, einem Schiff der Bundesmarine, habe ich die Soldaten besucht, die in der Mission „Sophia“ im Mittelmeer eingesetzt sind. Ihr Auftrag ist vor allem die Zerschlagung der Schleppernetzwerke, die ohne Skrupel Flüchtlinge in akute Lebensgefahr bringen, indem sie sie in Schlauchboote pferchen und aufs Mittelmeer schicken. Ihr Motiv ist nicht Humanität, sondern reine Geldgier. Sie ist dafür verantwortlich, dass alleine in der ersten Hälfte des Jahres 2016 um die 3 000 Menschen im Mittelmeer ertrunken sind. Ich begrüße ausdrücklich die Zerschlagung dieser Schleppernetzwerke. Sie sind verbrecherisch. Es ist eine polizeiliche Aufgabe, die die Bundesmarine dort erfüllt. Gekoppelt mit alternativen, legalen Fluchtwegen, verdient diese Aufgabe Unterstützung.
Noch klarer ist das bei der Aktivität, die faktisch den größten Raum für die Werra einnimmt. 17 000 Menschen haben die Boote der Bundesmarine schon vor dem Ertrinken im Mittelmeer gerettet. Zwei von ihnen hatte ich am Vorabend beim Besuch eines Flüchtlingsheims auf Sardinien persönlich kennen gelernt. Ohne den Einsatz der „Werra“ wären sie tot. Das war der Grund, warum ich bei meiner Predigt im Gottesdienst auf der „Werra“ von einem „Samariterboot“ gesprochen habe. Mancher mag sich gewundert haben, dass ein Bischof ein Militärboot so bezeichnet. Aber ich habe das bewusst getan. Denn hier ging es nicht um das Segnen von Waffen, sondern hier ging es um das Segnen von Nothilfe für die Schwächsten.
Meine Erfahrungen in der direkten Begegnung mit den betroffenen Menschen haben mir gezeigt: Das Leid der Menschen, die aus ihren Ländern fliehen, ist groß. Man kann, man darf es nicht einfach wegschieben, indem man die Grenzen schließt und die Menschen, um die es geht, damit lediglich aus dem eigenen Gesichtsfeld entfernt.
Was war es, das in München, in Saalfeld, in Dortmund und in so vielen anderen deutschen Städten die Menschen mobilisiert hat, um andere Menschen willkommen zu heißen, die sie noch nie gesehen hatten? Und aus welcher Quelle kommt es? Was ist es, was die Menschen motiviert hat?
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