Die böse Macht. C. S. Lewis
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Ein Beobachter hoch über Edgestow hätte an diesem Tag weit im Süden einen Punkt sehen können, der sich auf einer Landstraße vorwärts bewegte, und später – im Osten und näher zum silbernen Band des Wynd – den viel langsamer dahinziehenden Rauch eines Zuges.
Der Punkt war der Wagen, der Mark Studdock zum Blutspendezentrum in Belbury brachte, dem vorläufigen Sitz der N.I.C.E.-Zentrale. Größe und Art des Wagens hatten vom ersten Augenblick an Eindruck auf ihn gemacht. Die Polsterung war hervorragend, weich und einladend. Und welch herrliche männliche Kraft (Mark war des weiblichen Geschlechts momentan überdrüssig) sprach aus den Gesten, mit denen Feverstone es sich hinter dem Lenkrad bequem machte, den Ellbogen lässig auflegte und die Pfeife fest zwischen die Zähne klemmte! Die Geschwindigkeit des Wagens war selbst in den schmalen Straßen von Edgestow beeindruckend, und das Gleiche galt für die lakonische Kritik, mit der Feverstone andere Fahrer und Fußgänger bedachte. Als sie den Bahnübergang und Janes altes College (St. Elizabeth’s) hinter sich gelassen hatten, zeigte er, was in seinem Wagen steckte. Sie fuhren so schnell, dass selbst auf der fast leeren Landstraße die unverzeihlich schlechten Autofahrer, die offensichtlich schwachsinnigen Fußgänger und Leute mit Pferden, die Hühner, die sie tatsächlich überfuhren, und die Hunde und Hühner, die, wie Feverstone erklärte, »noch mal verdammtes Glück gehabt hatten«, fast ununterbrochen aufeinander zu folgen schienen. Telegrafenmasten rasten vorbei, Brücken rauschten über ihnen hinweg, Dörfer blieben zurück und verschmolzen mit der bereits hinter ihnen liegenden Landschaft. Mark, trunken von der frischen Luft und von Feverstones unverschämtem Fahrstil fasziniert und abgestoßen zugleich, saß da und sagte »ja« und »ganz recht« und »sie sind selbst schuld« und warf seinem Begleiter verstohlene Seitenblicke zu. Welche Abwechslung von der geschäftigen Wichtigtuerei Currys und des Schatzmeisters! Die lange gerade Nase und die aufeinander gepressten Zähne, die harten knochigen Gesichtszüge, die Art und Weise, wie er seine Kleider trug: all das zeugte von einem großen Mann, der einen großen Wagen irgendwohin fuhr, wo große Dinge vor sich gingen. Und er, Mark, sollte dazugehören. Ein- oder zweimal blieb sein Herz beinahe stehen, und er fragte sich, ob Lord Feverstone für seine Fahrkünste nicht doch zu schnell fuhr. »Eine Kreuzung wie die braucht man nie ernst zu nehmen«, rief Feverstone, als sie, wieder um Haaresbreite einem Zusammenstoß entgangen, weiterjagten. »Ganz recht«, brüllte Mark zurück. »Hat keinen Zweck, einen Kult damit zu treiben!«
»Fahren Sie selbst?«, fragte Feverstone. »Früher ziemlich viel«, sagte Mark.
Der Rauch, den unser imaginärer Beobachter im Osten von Edgestow gesehen hätte, kam von dem Zug, in dem Jane Studdock langsam auf das Dorf St. Anne’s zufuhr. Für diejenigen, die mit der Eisenbahn aus London kamen, schien Edgestow die Endstation zu sein; aber wenn man umherblickte, konnte man auf einem Nebengleis einen kleinen Zug mit zwei oder drei Personenwagen und einem Kohlenwagen sehen – einen Zug, der zischte, unter dessen Trittbrettern Dampf hervorquoll und in dem die meisten Fahrgäste sich zu kennen schienen. An manchen Tagen wurde an Stelle des dritten Wagens ein Güterwagon angehängt, und auf dem Bahnsteig davor standen Kisten und Körbe mit toten Kaninchen oder lebendem Geflügel, beaufsichtigt von Männern mit braunen Hüten und Gamaschen und vielleicht einem Terrier oder Schäferhund, die an das Reisen gewöhnt schienen. In diesem Zug, der Edgestow täglich um halb zwei verließ, ratterte und schlingerte Jane einen Bahndamm entlang, von dem aus sie durch kahle Äste und mit roten und gelben Blättern gesprenkelte Zweige geradewegs in den Bragdon-Wald hinabsehen konnte; dann ging es weiter durch eine Schneise, über den Bahnübergang bei Bragdon-Camp, am Rand des Brawell-Parks entlang (der Landsitz war nur von einer Stelle aus kurz zu sehen) und zum ersten Halt Dukes Eaton. Hier kam der Zug wie in Woolham, Cure Hardy und Fourstones mit einem kleinen Ruck und einer Art Seufzer zum Stehen. Man hörte das Klappern leerer Milchkannen, schwere Stiefel knirschten auf dem Bahnsteig, und dann gab es eine längere Pause, während der die Herbstsonne warm durch die Zugfenster schien und die Gerüche aus den Wäldern und Feldern hinter dem winzigen Bahnhof in die Wagons drangen und die Bahn als einen Teil der Landschaft zu beanspruchen schienen. Bei jedem Halt stiegen Fahrgäste ein und aus; rotbackige Männer und Frauen mit Gummistiefeln und imitierten Früchten auf den Hüten und Schuljungen. Jane nahm kaum Notiz von ihnen; denn obgleich sie theoretisch eine extreme Demokratin war, war sie außer in Büchern noch nie mit einer anderen als ihrer eigenen sozialen Schicht in Berührung gekommen. Und zwischen den Stationen glitten Dinge vorbei, so losgelöst aus ihrem Zusammenhang, dass jedes von ihnen irgendeine unirdische Glückseligkeit zu verheißen schien, wenn man nur in genau diesem Augenblick hätte aussteigen und es ergreifen können: ein Haus, umgeben von einer Reihe von Heuhaufen und weiten braunen Feldern, zwei alte Pferde Kopf an Kopf, ein kleiner Obstgarten, in dem Wäsche auf der Leine hing, und ein Feldhase, der auf den Zug starrte und dessen steil aufgestellte Ohren mit den Augen darunter wie ein doppeltes Ausrufungszeichen aussahen. Um Viertel nach zwei traf Jane in St. Anne’s ein, der Endstation, dem Ende der Welt überhaupt. Als sie aus dem Bahnhof heraustrat, schlug ihr kalte Luft erfrischend entgegen.
Obwohl der Zug während des letzten Teils der Reise mühsam bergauf gekeucht und geschnauft war, musste Jane noch ein Stück zu Fuß aufsteigen, denn St. Anne’s war eines jener in Irland häufiger als in England anzutreffenden Dörfer, die auf einer Hügelkuppe liegen und deren Bahnstation ein gutes Stück vom Ort entfernt ist. Zwischen hohen Böschungen führte eine gewundene Straße bergauf. Sobald Jane an der Kirche vorbei war, bog sie beim sächsischen Kreuz nach links ab, wie Mutter Dimble sie angewiesen hatte. Zu ihrer Linken gab es keine Häuser, nur eine Reihe Buchen und einen nicht eingezäunten, steil abfallenden Acker. Dahinter erstreckte sich – in der Ferne blau – die bewaldete mittelenglische Ebene, so weit das Auge reichte. Jane stand auf der höchsten Erhebung dieser Gegend. Bald kam sie zu einer hohen Mauer, die den Weg zur Rechten ein gutes Stück weit säumte. In dieser Mauer befand sich eine Tür und daneben ein alter eiserner Glockenzug. Sie war ein wenig niedergeschlagen und sicher, umsonst gekommen zu sein. Dennoch läutete sie. Als das scheppernde Geräusch verklungen war, war es so lange still und so kalt auf dieser Kuppe, dass Jane sich fragte, ob das Haus überhaupt bewohnt sei. Dann, als sie gerade überlegte, ob sie noch einmal läuten oder fortgehen solle, hörte sie hinter der Mauer lebhafte Schritte näher kommen.
Unterdessen war Lord Feverstones Wagen längst in Belbury eingetroffen – einem prunkvollen Herrensitz, der für einen Millionär und Bewunderer von Versailles erbaut worden war. Zu beiden Seiten wucherten neuere, weitläufige Betongebäude, die das Blutspendezentrum beherbergten.
3 Belbury und St. Anne’s on the Hill
Als Mark Studdock die breite Treppe hinaufstieg, sah er sich und seinen Begleiter in einem Spiegel. Feverstone war wie immer Herr der Lage, selbstsicher und von lässiger Eleganz. Der Wattebausch auf Marks Oberlippe war während der Autofahrt verrutscht und sah wie die eine Hälfte eines keck aufgezwirbelten falschen Schnurrbarts aus, unter dem ein wenig schwärzliches Blut hervorschaute. Gleich darauf standen sie in einem großen Raum mit hohen Fenstern und einem lodernden Kaminfeuer, und Feverstone stellte ihn John Wither vor, dem stellvertretenden Direktor des Instituts.
Wither war ein weißhaariger alter Mann mit höflichen Manieren. Sein Gesicht war glatt rasiert und sehr groß, er hatte wässrige blaue Augen und einen unbestimmten, unruhigen Ausdruck. Er schien ihnen nicht seine ganze Aufmerksamkeit zuzuwenden, und ich denke, dieser Eindruck war den Augen zuzuschreiben, denn seine Worte und Gesten waren beinahe übertrieben höflich. Er sagte, es sei ihm ein großes, ein sehr großes Vergnügen, Mr. Studdock in ihrem Kreis willkommen zu heißen. Er fühle sich Lord Feverstone dadurch zu noch größerem Dank verpflichtet, als er ihm ohnedies schon schulde. Er hoffte, sie hätten eine angenehme Reise gehabt. Mr. Wither schien der Meinung zu sein, dass sie mit dem Flugzeug gekommen und, als dies richtig gestellt war, dass sie mit dem Zug aus London eingetroffen seien. Dann erkundigte er sich, ob Mr. Studdock sich in seinem Quartier auch wirklich wohl fühle, und musste daran erinnert werden, dass sie gerade erst angekommen waren. Mark vermutete, dass der alte Mann ihm die Befangenheit nehmen wollte, doch in Wirklichkeit hatten Mr. Withers Worte genau den gegenteiligen Effekt. Mark wünschte, er würde ihm eine Zigarette anbieten. Seine wachsende Überzeugung, dass dieser Mann in Wirklichkeit