Der Lucas ist los!. Jeff Lucas

Der Lucas ist los! - Jeff Lucas


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langem Hin und Her gab ich mich schließlich als Geistlicher und Vortragsredner zu erkennen. Ich dachte schon, sie würden schlagartig nüchtern werden, sich Knoblauch um die Hälse hängen und die Flucht ergreifen: Pastoren sind nicht bei jedermann beliebt. Doch falls sie über die Anwesenheit eines Geistlichen beunruhigt waren, ließen sie sich nichts davon anmerken. Das war auch besser so, denn schließlich hielten sich zweitausend davon in der Nähe auf. Der künftige Trauzeuge unter ihnen bat mich um ein paar Tipps für seine Hochzeitsansprache, mit denen ich ihm gerne aushalf.

      Dann passierte es. Sie entschuldigten sich, gingen hinüber zu der vermaledeiten Karaokemaschine und meldeten sich zu einer Darbietung an. Bevor sie ein paar Minuten später eine fast nicht wiederzuerkennende Version eines Elton-John-Klassikers anstimmten, überraschte uns einer von ihnen, indem er uns das Lied widmete. Er deutete aufs Geratewohl in unsere Richtung:

      „Wir möchten dieses Lied unseren Freunden da drüben widmen, Jeff und Kay Lucas … dies ist für euch.“ Ich spürte die Blicke einiger der ernsten, Limonade nippenden Geistlichen in meine Richtung schwenken – oder war das nur Einbildung? Meinerseits starrte ich stur geradeaus und überlegte, ob jetzt alle dachten, ich hätte eine Sause gemacht und mich mit einer betrunkenen Schar von Möchtegern-Nachtclubsängern zusammengetan …

      Doch dann musste ich lächeln. Ich war dankbar, dass die fröhlichen drei Gesellen gerne mit uns zusammen waren. Sie waren nicht davongelaufen, als ich sagte, ich sei Pastor. Ohne zu viel Aufhebens um diesen Moment machen zu wollen, hat er mich doch eine Lektion gelehrt.

      Ich möchte gerne jemand sein, in dessen Nähe Leute, die Gott nicht kennen, sich wohlfühlen. Das heißt nicht, dass mein Leben sie nie herausfordern sollte. Schließlich sollen wir das Salz der Erde sein, nicht der Zucker. Ich rege nicht an, dass wir uns einschmeichelnd anpassen und uns genauso geben und anhören wie jeder andere, weil wir dazugehören wollen. Manchmal werden die Entscheidungen, die wir treffen, und die Standpunkte, die wir vertreten, für diejenigen, die Christus nicht nachfolgen wollen, eine Herausforderung sein.

      Doch die Widmung des Liedes und unsere Unterhaltung an jenem Abend stoßen mich zu dem Gebet an, Gott möge mich auf andere so gewinnend wirken lassen, dass ich zumindest hin und wieder eine unerwartete Einladung bekomme, was ja auch Jesus oft passiert ist. Freilich ist das immer riskant. Dass er sich mit den Unheiligen abgab, brachte mit sich, dass er von den Frommen ständig missverstanden wurde. Dennoch ließ er sich nicht davon abbringen, sich mit den „falschen Leuten“ zu umgeben, die ihn liebten, und nicht nur wegen seiner legendären Fähigkeit, auf Partys für hervorragenden Wein zu sorgen. In seiner Kultur war es weitaus mehr als nur eine Nebensächlichkeit, mit jemandem zusammen zu trinken oder zu essen: Es drückte Akzeptanz und Identifizierung aus. Das Wunder bestand nicht nur darin, dass Jesus gerne Zeit mit Sündern verbrachte, sondern auch darin, dass sie gerne Zeit mit ihm verbrachten. Ganz im Gegensatz zu den abweisend dreinblickenden Pharisäern, die um hartgesottene Sünder einen großen Bogen machten, nahm Jesus sie mit offenen Armen auf. Und dafür rollten sie ihm den roten Teppich aus.

      Wer ihm nachfolgt, soll so sein wie er. Und um so zu sein wie er, muss man auch dieselben Risiken eingehen.

      EIN MENSCHLICHER

       SONNENUNTERGANG

      Ich habe zu viele Sonnenuntergänge versäumt.

      Durch meine vielen Reisen, meinen vollen Terminkalender und meinen unablässigen Hang, atemlos durch die meisten meiner Tage zu hasten, habe ich unzählige Termine mit der untergehenden Sonne verpasst. Als bekennender Tempoholiker denke ich, wenn unser Dasein idyllisch wäre, würden wir alle am Ende eines Tages eine Pause einlegen: um dankbar zu sein, um miteinander anzustoßen, um aus vollem Herzen nicht die Sonne anzubeten, sondern den, der sie geschaffen hat. Leider kommt es allzu oft vor, dass die allabendliche Vorstellung am Himmel ohne mich als Zuschauer stattfindet. Annie Dillart, die uns aufruft, aufmerksam durchs Leben zu gehen, klagt: „Allzu oft spielt die Schöpfung vor leeren Rängen.“

      Aber nicht heute. Während eines Spaziergangs auf dem Land am späten Nachmittag wurde uns ein absolut umwerfender Sonnenuntergang beschert. Er verlangte unsere hingerissene Aufmerksamkeit. Wir blieben für eine Weile stehen. Es wäre falsch gewesen, nicht stillzustehen und staunend hinzuschauen. Leuchtende Orangetöne, akzentuiert mit dem tiefen rot von Granatäpfeln, breiteten sich lautlos am dunkler werdenden Himmel aus und verschlangen nach und nach die blaue und braune Dämmerung. Die eben noch scharf umrissenen Silhouetten großer Bäume schmolzen dahin und verschwanden schließlich in den Hängen, als endlich die Sonne versank und Gott wieder einmal einen Tag mit einem extravaganten Schnörkel signierte. Es war ein perfektes Ende. Dallas Willard sagt, Gott sei überall auf der Erde ständig am Spielen. Dieses Lichterspektakel am Himmel war ein Meisterstück, umso kostbarer, als es wenige Sekunden später verschwunden war. Gottes Kunst ist meistens für den Moment bestimmt, nicht fürs Museum. Und deshalb verpasst man sie auch so leicht.

      Doch gestern begegnete ich einem Menschen während seines Sonnenuntergangs, und das war ein ebenso atemberaubender Anblick. James sprach mich am Ende eines Gottesdienstes an, bei dem ich gesprochen hatte. Er war ein alter Mann mit schneeweißen Haaren und hellen, sanften Augen, verströmte Freundlichkeit und schien von keiner Sorge getrübt zu sein. Doch weit gefehlt. Ich wusste noch nicht, dass James bereits zum Tode verurteilt war.

      Später kam James’ Sohn auf mich zu und fragte, ob ich einen Moment Zeit hätte, mit seinem Vater zu beten. Wir stellten uns zu dritt zusammen, und ich fragte, wofür ich am besten beten solle. „Papa hat Krebs im Endstadium, und ihm wurde gesagt, dass er nicht mehr lange zu leben hat. Nicht wahr, Papa?“ Ich zuckte innerlich zusammen. Diese krasse Verkündung eines Todesurteils verunsicherte mich; doch dann wurde mir bewusst, dass diese Familie der schlimmsten aller Nachrichten unerschrocken ins Gesicht sah, und fasste mich. „Papa leidet beständige Qualen. Auch im Augenblick hat er unerträgliche Schmerzen.“ Wieder schaute ich James in die Augen. In ihnen war keine Spur der mörderischen Foltern zu erkennen, die er erduldete. „Es tut mir sehr leid, Sie damit zu belasten“, sagte James besorgt. „Aber es dauert ja nur einen Augenblick, nicht wahr?“ Ich wollte ihm sagen, dass es mir auch nichts ausmachen würde, wenn es einen ganzen Tag oder eine ganze Woche dauern würde. Wenn wir ihn nur aus seinen verheerenden Schmerzen herausbeten könnten oder was auch immer das Endresultat unseres Gebets sein würde, es würde mir eine Ehre sein, mit ihm zu beten. Wie kommt es eigentlich, dass es manchen Leuten, die entsetzlich leiden, so sehr widerstrebt, anderen auch nur im Geringsten zur Last zu fallen?

      Ich legte beiden meine Hände auf, und dann begannen die Schwierigkeiten. Eigentlich wollte ich mit vollmächtigem Ernst beten und darauf bestehen, dass jede Spur der Krebserkrankung augenblicklich aus diesem Körper verschwinden möge. Ich wünschte mir sehnlichst, James von jeder mutierten Zelle freizusprechen, damit er erleben könnte, wie seine Enkelkinder groß wurden. Aber das konnte ich nicht. Über die Jahre habe ich Amen zu so manchem Gebet gesagt, das vergeblich darauf bestanden hatte, der Krebs möge ausgetrieben werden. Ich bin immer noch fest davon überzeugt, dass Gott imstande ist, Menschen zu heilen, und dass er es auch heute noch manchmal an manchen Orten tut. Ein Arzt, mit dem ich befreundet bin, betete einmal für einen Mann mit unheilbarem Krebs – es hatten sich schon einige Metastasen gebildet. Weniger als fünf Prozent der Erkrankten überleben diese Krebsart für länger als zwei Jahre. Das ist jetzt etwa sechs Jahre her, und der Patient ist immer noch sehr lebendig und erfreut sich bester Gesundheit. Doch meine eigene Zuversicht im Blick auf Heilungsgebete hat Beulen bekommen. Mir fällt es schwer, zu erkennen, wofür ich beten soll, und ich habe schon zu oft Prediger gehört, die Heilungsgebete mit dem Vorbehalt „wenn es dein Wille ist“ als weichlichen Kleinglauben verhöhnten (obwohl Jesus selbst uns gelehrt hat, genau diese Worte zu sprechen).

      Also betete ich, Gottes Gnade möge James und seine Familie tragen und Gottes Eingreifen möge sichtbar werden, auf welche Art und Weise auch immer. Ein paar Minuten später verabschiedete ich mich von James in der Hoffnung, dass es kein endgültiger Abschied war. Draußen auf dem Parkplatz bedankte sich sein Sohn überschwänglich bei mir, weil ich ihnen ein paar Sekunden geschenkt hatte. Dabei musste eigentlich ich mich bei ihm bedanken. Menschlich gesehen habe ich viel mehr Zeit als sein Vater. Aber so war er nun einmal: dankbar und freundlich. Wie der Vater, so der


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