Verschollene Länder. Burkhard Müller

Verschollene Länder - Burkhard Müller


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vor der Spaltung bewahrt, die ihm heute möglicherweise bevorsteht.

      Die Königinnen von Hawaii! Adelbert von Chamisso traf sie auf seiner Weltreise 1817 an, die Gattinnen des großen Reichsgründers Kamehameha, der den ganzen Archipel mithilfe einer eigenen Flotte und Artillerie unter seiner Herrschaft vereinigt hatte. Sie lagen in einem Strohhaus auf dem Boden, der weich mit Matten gepolstert war, Chamisso nahm unter ihnen Platz, und »fast unheimlich wurden mir, dem Neulinge, die Blicke, die meine Nachbarkönigin auf mich warf«. Sein Begleiter, der Botaniker Eschscholtz, dessen Königin »sich noch handgreiflicher ausgedrückt« hatte, war schon vor ihm geflüchtet.

      Die freien Sitten der »Sandwich-Inseln«, wie Hawaii damals noch hieß, »die allgemeine, zudringliche, gewinnsüchtige Zuvorkommenheit des andern Geschlechts; die ringsher uns laut zugeschrieenen Anträge aller Weiber, aller Männer namens aller Weiber« verwirrten und verdrossen Chamisso. Aber er erkannte an, dass nur Scham den Menschen eingeboren, die Keuschheit jedoch lediglich eine Tugend gemäß den menschlichen Satzungen sei, und dass »Keuschheit als Tugend diesem Volke fremd« war. Allzu Beschämendes seiner Schilderungen verhüllte er in Latein. Aber Chamisso bewies in seiner Verlegenheit auch Humor. Eine Hawaiianerin aus der ersten Kaste hatte, indem sie sich lautlos im Kanu anschlich, ihn im Bad belauscht und erhob lautes Gelächter: »Ich war wie ein unschuldiges Mädchen, das ein Flegel sich den Spaß macht im Bade zu beunruhigen.«

      Unter den folgenden Königinnen begannen die Sitten sich zu ändern. Kaahumana, Kamehamehas Lieblingsfrau, wurde nach seinem Tod Regentin für den unfähigen Thronfolger und trat zum Christentum über. Ihr folgte im Amt Kinau, Kamehamehas Tochter, und dieser wiederum Kekauluohi, Mutter der Könige Kamehameha IV., der die tatkräftige Königin Emma zur Frau hatte, und Kamehameha V. »Diese edlen Frauen«, urteilt die »Encyclopaedia Britannica«, »hätten jeder Nation zur Ehre gereicht.« Sie hatten den schwierigen Übergang Hawaiis, das sich im Schnittpunkt britischer, französischer und amerikanischer Annexionsgelüste befand und dank seiner Lage zwischen drei Kontinenten von Gesindel aus aller Herren Länder überflutet wurde, von einer polynesischen Stammesgesellschaft zu einem gemischtrassigen modernen Staat zu bewerkstelligen. Unter ihrer Herrschaft wurde Hawaiianisch zur Schriftsprache, zwei Zeitungen erschienen, es entstanden eine weithin demokratische Verfassung, ein Gesetzgebungs- und Justizwesen und eine moderne Ökonomie, und die Mächte der Welt mussten Hawaiis Souveränität bestätigen.

      Letzte in der Reihe dieser Herrscherinnen war Königin Liliuokalaui, Dichterin und Komponistin, die 1891 auf den Thron gelangte; ihr Bild erscheint auf der Briefmarke. Obschon die Souveränin, erscheint sie doch wie in Ketten gelegt – in Perlenketten allerdings: Eine trägt sie um den Hals, eine zweite umfängt das Medaillon; dazu trägt sie ein weiteres Halsband und ein europäisches Kleid, das Haar ist gebändigt zu einer aufgesteckten Frisur. Von ihren Anträgen hatten europäische Reisende wohl nichts mehr zu befürchten. Wie das Design der Marke erkennen lässt, war der amerikanische Einfluss inzwischen übermächtig geworden. Nur zwei Jahre später wurde Liliuokalaui gestürzt und eine provisorische Regierung gebildet, die den Anschluss an die USA betrieb und erreichte.

      Da war das Hawaii, das Chamisso gesehen hatte, schon in die graue Vorzeit versunken. Wie hatte er die Tänze der Männer und Frauen bewundert, deren Leidenschaft und Anmut in seinen Augen nichts auf der Welt zu gleichen schien! Und nichts auch ihren Zuschauern: »So hingerissen und freudetrunken wie die O-Waihier von diesem Schauspiel waren, habe ich wohl nie bei einem andern Fest ein Publikum gesehen.« Welch unendlicher Verlust, dass sich dies nicht malen ließ und dass die, die es versuchten, solch elende Stümpereien abgeliefert haben! Und der romantische Christ Chamisso fügt, drei Jahre vor der Ankunft der ersten Missionare, voll Trauer hinzu: »Es wird nun schon zu spät.«

      Es gibt ein paar wenige Länder, die es verschmähen, auf ihre Briefmarken zu schreiben, wie sie heißen. Großbritannien tut es aus Stolz, hat es doch die Briefmarke erfunden, und alle späteren Benutzer haben sich von ihm zu unterscheiden, statt umgekehrt. Das Land, um das es hier geht, aber tut es aus Verlegenheit; außer einer in allen vier Ecken wiederholten Ziffer, viel Ornamentik und der reichlich unverbindlichen Allegorie eines Merkur-Kopfes bietet es dem Betrachter nichts dar.

      Was auch hätte es schreiben sollen? »Die Gesamtheit der im Reichsrat vertretenen Kronen und Länder«? Etwas lang für eine Marke, und zudem hätte es die nicht-deutschsprachigen Bürger (und das war die Mehrheit) erbost. Selbst so wäre es aber nur eine schnöde Abbreviatur gewesen für: die Königreiche Böhmen, Dalmatien und Galizien, die Erzherzogtümer Österreich unter und ob der Enns, die Herzogtümer Salzburg, Steiermark, Kärnten, Krain, Schlesien und Bukowina, die Markgrafschaften Mähren und Istrien, die gefürsteten Grafschaften Tirol, Görz und Gradisca, das Land Vorarlberg und die Stadt Triest mit Gebiet. Entsprechend tummelten sich auf dem Wappenschild dieses Gebildes, neben allen möglichen verschiedenfarbigen Löwen und Adlern mit ein oder zwei Köpfen, eine rotbewehrte goldene Ziege, eine Dohle, ein silbergehörnter Büffelkopf, ein schwarzbewehrter goldener Steinbock sowie ein feuerspeiendes silbernes Pantel mit Hörnern auf grünem Grund.

      Dies alles bezeugte den Sammeleifer des Hauses Habsburg, das durch Kriege, Heirat, Tausch, Heimfall ein riesiges Reich erworben hatte und nun feststellen musste, dass das Prinzip der dynastischen Addition nicht mehr ausreichte, um es zusammenzuhalten; im Zeitalter des Nationalismus begann es in allen seinen vielen Nähten zu krachen. Reformen schienen unausweichlich; aber es zeigte sich, dass man das Ganze wie einen Magneten in beliebig viele kleine Stücke zerlegen konnte und noch immer jedes davon nach Plus und Minus auseinanderwies. Der größte derartige Schnitt war bereits 1867 geschehen, im sogenannten Ausgleich, als der ungarische Reichsteil in den Rang eines eigenen Staates erhoben wurde, mit eigenem Parlament und eigener Regierung und mit der westlichen Hälfte nur noch in der Person des Monarchen verbunden, der diesseits des Grenzflusses Leitha Kaiser, jenseits davon aber König hieß.

      Ungarn wurde seiner diversen Völkerschaften durch seine unbedenklichen Mittel ganz gut Herr; nicht aber »Cisleithanien«. Hier erhoben die Tschechen, Italiener, Polen und Slowenen ihre Ansprüche, die Tschechen spalteten sich zudem noch in Alttschechen und Jungtschechen, die im Parlament übereinander herfielen, die Polen waren nur zur Zusammenarbeit zu bewegen, wenn man ihnen ihrerseits freie Hand gegen die ruthenische Minderheit ließ, die deutschen Liberalen sonderten sich in den Klub der Liberalen und die Fortschrittspartei. Besonders seit die Christdemokraten und die Sozialdemokraten in den 1890er-Jahren an Stärke gewannen, stand außerdem noch ein parteipolitisches Prinzip quer zum nationalen und vermehrte die Verwirrung. Der Sprachenstreit wurde zum Angelpunkt aller Politik, über Fragen wie die Beschriftung tschechischer Straßenschilder scheiterten Budgets und Kabinette. Jede lokale Streitigkeit besaß das Potenzial, das ganze Reich zu erschüttern, und wenn es beispielsweise den Slowenen zur Unzeit einfiel, dass ihnen in der vorwiegend deutschen Stadt Cilli ein Untergymnasium versprochen worden war, dann konnte man offenbar dieses Versprechen weder halten, ohne die deutschen, noch es brechen, ohne die slowenischen Abgeordneten gegen sich aufzubringen: So stürzte 1895 die Regierung Hohenwart.

      Im Nachhinein erstaunt es, dass dieses Gebilde sich dennoch so lange hielt und dass es erst des äußeren Gewaltakts des Ersten Weltkriegs bedurfte, um es zu zersprengen. Seine Dichter, an denen es reich gewesen war, reagierten auf den Zusammenbruch unterschiedlich: Robert Musil mit Spott, Joseph Roth mit Wehmut, Hugo von Hofmannsthal, indem er das Faktum, so gut es ging, verleugnete, Karl Kraus mit grimmiger Genugtuung. In dem langen »Nachruf«, den er ihm 1919 hielt, begrüßt er es nachdrücklich, dass dieser »nationale Gemischtwarenladen«, dieser »k. k. Misthaufen« (für »kaiserlich« und »königlich«, d. h. österreichisch und ungarisch) endlich abgeräumt worden sei.

      Ob etwas Besseres nachgekommen ist? Sieben Nachfolgestaaten, jeder stolz auf seinen Namen, teilten sich den habsburgischen Bestand; bis heute sind es zwölf geworden. Wo früher ein Land war, wie beschaffen auch immer, da laufen nunmehr Tausende von Kilometern frischer Grenzen; und wie jeder weiß, der seit den Neunzigern Nachrichten gehört hat: Nicht allen diesen


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