Kulturpessimismus. Alexander Grau
das schon Gegebene zu fordern, nur noch radikaler und mit mehr Intensität.
Folglich hinterfragt der systemkonforme Querdenker aus dem Kultur- und Kunstbetrieb weder die herrschende Ideologie noch ihre gesellschaftlichen Manifestationen, deren Teil er ist, sondern kritisiert vielmehr ihre nur unzureichende Umsetzung. Konsequenterweise erschöpft sich sein Forderungskatalog in einer Liste des Mehr: mehr Offenheit, mehr Toleranz, mehr Internationalität, mehr Solidarität. So gerät institutionalisierte Systemkritik in einem System, das sich einbildet, kritisch zu sein, zur leeren Pose, auch und gerade weil Kritik, die zur Systemräson geworden ist, nur mehr Bestätigung der herrschenden Ideologie ist. Wo jedoch Kulturkritik zur Affirmation degeneriert, wird Kulturpessimismus zur letzten kritischen und aufgeklärten Option. Aufgeklärter Kulturpessimismus stellt daher auch keine politische Gefahr dar, sondern eine politische Chance. Er zerreißt den Vorhang autoaggressiver Selbstgefälligkeit, in der die westlichen Gesellschaften sich eingerichtet haben, und macht den Blick frei auf ihre Verfasstheit und ihren inneren Zustand.
Wenn Fritz Stern den Kulturpessimismus in seiner bekannten Schrift als Gefahr für Demokratie und Liberalismus deutet, so deshalb, weil er Kulturpessimismus mit revolutionärem Nationalkonservatismus gleichsetzt. Aber das ist stark vereinfachend. Zum einen, weil sich die Frage stellt, inwiefern Revolutionäre wie etwa Arthur Moeller van den Bruck, der zudem ausgesprochen modernistische Züge trug, überhaupt als Kulturpessimisten einzuordnen sind. Vor allem aber, weil Stern Kulturpessimismus mit einem unanalytischen, romantischen Idealismus gleichsetzt, einer »Art Lebensgefühl, ein Gefüge von Empfindungen und Werten, das die gebildeten Schichten aus gemeinsamen geistigen Traditionen ererbt und allmählich ihrer Stellung in der Gesellschaft angepasst hatten.«1
Stern trifft hier zwar ganz gut die Stimmung des Fin de Siècle, die sich etwa in dem Bildungsbürgermilieus Europas ab den 1880er Jahren breitmachte, und die sich etwa bei Julius Langbehn widerspiegelt. Gerade deshalb historisiert er den Kulturpessimismus als Haltung des bürgerlichen Zeitaltes und diskreditiert ihn damit unter der Hand als mögliche, gut begründete kulturphilosophische Haltung. Dieser Historisierung des Kulturpessimismus möchte der vorliegende Essay widersprechen.
Nicht wenige Leser werden sich früher oder später fragen, weshalb hier nicht der Name auftaucht, den man, zumindest in Deutschland, wie keinen andereren mit dem Begriff des Kulturpessimismus verbindet: Oswald Spengler. Das liegt darin begründet, dass Spengler kein Kulturpessimist ist. Inspiriert durch die spätromantische, vor allem von Schelling beeinflusste Weltalterphilosophie Ernst von Lasaulx’ und Hegels Geschichtsphilosophie, präsentiert Spengler eine Theorie zyklischer Geschichtsprozesse: Angelehnt an die Lebensphasen von Organismen, durchlaufen Kulturen Stadien der Jugend, der Reife und des Alters, sie werden groß, gedeihen, erblühen, erreichen eine Phase maximaler Entfaltung und vergehen danach schrittweise. Diese kulturhistorischen Prozesse laufen gesetzmäßig ab. Der Untergang ist somit kein Privileg des Abendlandes. Und vermeidbar ist er auch nicht. Spengler versteht seine Morphologie der Geschichte daher auch ausdrücklich als »Philosophie der Zukunft«2, also als den Versuch, »Geschichte vorauszubestimmen.«3 Auch wenn Spengler dem Abendland den Untergang prophezeit – übrigens nicht in seiner unmittelbaren Zukunft, sondern zweihundert Jahre später –, so ist seine Geschichtsphilosophie so wenig pessimistisch wie diejenige Hegels. Unter den hier analysierten kulturpessimistischen Autoren hätte er sich also eher fremd ausgenommen.
Dass Spengler hier so schnöde übergangen wird, ist daher auch nicht Ausdruck modischer Geringschätzung, im Gegenteil. Seine Geschichtsmorphologie mutet heutzutage grotesk an. Spenglers pluralistischer Kulturrelativismus jedoch ist angesichts der Debatten um einen möglichen Kampf der Kulturen (Samuel Huntington) hochaktuell und zugleich eine Mahnung. Denn die insbesondere bei den heutigen Eliten in Politik, Wirtschaft und Kultur so beliebte Annahme vom Sieg einer liberalen Universalkultur erschiene aus seiner Sicht absurd und gefährlich. So gesehen ist der vorliegende Essay durchaus im Geist Spenglers geschrieben.
1 Stern 2005, S. 17 f.
2 Spengler 1923, S. 6.
3 Ebd., S. 3.
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