Dr. Love und die schüchterne Forelle. Michael Bresser

Dr. Love und die schüchterne Forelle - Michael Bresser


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gehören dem bürgerlichen Mittelstand an. Beide waren Lehrer. Diese Berufsgruppe kann sich ein eigenes Haus in dieser Wohngegend normalerweise nicht aus eigenen Kräften leisten. Allerdings gehört meinem Opa Günter die SMB, was Singer Maschinen Bau bedeutet. Er hat nach dem Krieg begonnen, Maschinen für die Autoindustrie herzustellen. Aus der Rumpelbude in Hannover-Lahe wurde ein Unternehmen, das Wertarbeit made in Germany bis nach Japan und Amiland exportiert. Mittlerweile ist es auch in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Ich habe mich genau wie mein Vater nie besonders für Maschinen, Autoproduktion und Devisengewinne interessiert. Sehr zum Ärger meines Opas. Er hält meinen Vater nach wie vor für einen missratenen Nichtsnutz, der es zu nichts im Leben gebracht hat. Dennoch hat er meinen Eltern zur Hochzeit die Gründerzeitvilla in der Nähe der Eilenriede, dem Hannöverschen Stadtwald, geschenkt. Da hat er sich wirklich nicht lumpen lassen. Ich habe das efeuumrankte Haus immer sehr geliebt, wusste aber, dass ich mir später nichts Vergleichbares würde erlauben können. Es sei denn, mir würde es geschenkt.

      Ich klingele. Mama öffnet. Sie geht mir bis zur Brust, ihre früher brünetten Haare strahlen heute grau. Die warmen braunen Augen weiten sich vor Freude, mich zu sehen. Ich liebe meine Mutter. Wenn ich Komplexe im Umgang mit Frauen habe, liegt das nicht an ihr.

      »Gerhard, der Junge ist da. Lass dich umarmen. Erzähl doch, wie war die Prüfung?«

      Mein Vater taucht ebenfalls in der Diele auf. Er ist gut einen halben Kopf größer als meine Ma. Über einem karierten Hemd trägt er eine Lederweste. Ein wilder Bart ist das Relikt der Studienzeit. Mein Pa war nämlich Achtundsechziger und ist stolz drauf. Ich finde es superpeinlich, dauernd von in der Jugend angezettelten Revolutionen zu palavern und wie ein Spießer zu leben. Links reden, rechts streben. Aber er ist pensioniert. Da stört sich keiner an seinem Gerede. Ansonsten ist er ein netter Kerl. Nur ziemlich schräg.

      »Hallo, Mama. Alles Gute zum Geburtstag.« Ich hole den Blumenstrauß hinter dem Rücken hervor, den ich vorhin auf der Georgstraße gekauft habe.

      »Timo«, sagt sie, »Timo, das wäre doch nicht notwendig gewesen.« Aber in ihren Augen sehe ich, dass sie sich freut.

      »Nein, nicht notwendig«, schaltet sich Vater ein. »Geschenke fördern den kapitalistischen Konsum. Ingrid und ich machen diesen Mumpitz nicht mehr mit und schenken uns seit Jahren nichts mehr. Das weißt du doch.«

      »Ja, aber manchmal freut sich eine Frau über kapitalistischen Mumpitz«, sagt Mama, und ihre Augen schimmern feucht.

      »Ja«, sagt Vater nun doch eine Spur verlegen. »Manchmal schon, in der Regel nicht. Aber keine Regel ohne Ausnahme. Das ist das Prinzip von Regeln. Es gibt immer Ausnahmen. Und so eine Ausnahme sind heute deine Blumen. Das hast du gut abgepasst, Timo. Respekt. Ich bin dennoch froh, dass wir nicht alle diese korrupte Floristikindustrie bereichern. Wusstet ihr, dass viele Blumen in Drittweltländern von Kindern gepflückt werden? Das habe ich neulich gelesen. Die Leute schaffen sich dort ein Dutzend Sprösslinge an, damit diese durch ihre Arbeit auf den Blumenfeldern die Familie ernähren können. Und bei uns tun die Leute so, als freuten sie sich darüber. An das Leid denkt niemand. Aber heute ist es in Ordnung, Mama freut sich.«

      »Ich freue mich wirklich, Timo«, beteuert Mama. Wahrscheinlich versteht sie Pas Gequatsche genauso wenig wie ich.

      Im Grund ist er ein lieber Kerl, aber das versteckt er gut.

      »Erzähl doch. Wie war die Prüfung? Bist du jetzt ein Herr Magister?« Mutter drückt mich erwartungsvoll am Arm. »Hast du mit ›Eins‹ bestanden? Weißt du, eine Drei oder Vier würde auch reichen. Fühl dich nicht unter Druck gesetzt«, plappert sie aufgeregt.

      »Zensuren sind ein Überbleibsel vergangener Systeme, wo wir froh sein sollten, dass sie ausgestorben sind. Es ist eine Schande, dass Schüler und Studenten heute noch immer bewertet werden. Wie vor hundert Jahren«, weiß mein Vater.

      »Wenn mich nicht alles täuscht, hast du deine Schüler auch zensiert und dich aufgeregt, dass die verzogenen Blagen kapitalistischer Eltern von Jahrgang zu Jahrgang schlechter werden.« Diese Bemerkung kann ich mir nicht verkneifen.

      Gerhards Gesicht läuft rot an. »Was sollte ich denn machen? Das System hat mich gezwungen. Ich finde es unfair, dass du mir das vorwirfst. Du weißt doch, dass ich mit Kollegen in den Siebzigern eine eigene Schulform gründen wollte. Leider haben mir die Behörden einen Stein nach dem anderen vor die Füße geworfen haben. Nee, Timo, ich habe mein Bestes versucht, aber die Zeit war damals nicht reif für die Singer-Pädagogik. Da musste ich mich anpassen. Aber die Hoffnung stirbt nie. Es werden bessere Zeiten kommen. Das kann noch etwas dauern. Die heutigen Schüler werden doch zu bloßen Konsumenten erzogen, keiner wehrt sich. Nur so können Konflikte wie die Finanzkrise oder der Irak-Krieg entstehen.« Endlich holt er Luft.

      »Wegen deutscher Schüler?« Seine Argumentation verblüfft mich immer wieder. Bevor er zu einer neuen Tirade ansetzt, sage ich: »Ich habe mit ›Eins‹ bestanden. Alles paletti, Gerhard.«

      Ich kann meine Niederlage einfach nicht eingestehen. Das würde zu weiteren Diskussionen mit Gerhard führen, auf die ich keine Lust habe. Im schlimmsten Fall würde er Beschwerdebriefe an Bundespräsident Wulff schreiben. Als ich auf dem Gymnasium einmal eine Geschichtsklausur versemmelt hatte, schickte er einen sechsseitigen Brief an den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder. Schließlich stammt der auch aus Niedersachsen. In diesem unsäglichen Schreiben beklagte er sich über die unerträglichen Zustände an deutschen Schulen, faschistische Lehrer und den Niedergang des Abendlandes. Herr Schröder oder einer seiner Sekretäre haben sogar geantwortet und sich für sein Interesse an der politischen Gestaltung unseres Landes bedankt. Ich habe mich in Grund und Boden geschämt, als mein Vater meinem Geschichtslehrer Dr. Podler dieses Schreiben unter die Nase hielt:

      Der sagte dazu ganz ruhig: »Werter Kollege Singer. Ihr Engagement in allen Ehren. Aber Timos Aussage, Adenauer sei ein größerer Agitator als Göbbels gewesen, entspricht nicht dem heutigen Stand der Forschung. Und diesen muss ich bewerten.« Den Rest der Diskussion gebe ich lieber nicht wieder. Damals hatte ich Gerhards Sprüche unreflektiert niedergeschrieben, ohne zu bedenken, dass diese nicht der allgemeinen Auffassung entsprachen. Nach zwei Stunden gab Gerhard klein bei, verfluchte aber alle reaktionären Kollegen. Das gab einen Rüffel vom Direktor, und Vater hielt eine Zeit lang die Klappe. Mein Leben auf der Schule hat das nicht leichter gemacht, aber ich habe überlebt. Das ist schließlich alles. Auf neue Diskussionen habe ich keine Lust, daher verschweige ich meine Niederlage.

      »Das ist toll. Ich freue mich so«, jubiliert Mutter. »Ich wusste, dass mein Junge Erfolg im Leben haben würde.«

      »Respekt, Timo«, freut sich auch Vater. »Du hast es den Deppen von der Prüfungskommission gezeigt. Ein Singer lässt sich vom System nicht kleinkriegen.«

      Innerlich zieht sich mir alles zusammen.

      »Ich finde es natürlich auch aus finanziellen Erwägungen toll, dass du dein Studium beendet hast«, frohlockt er.

      »Warum, Gerhard?«

      »Na, ich brauche dich nicht mehr zu unterstützen. Du hast doch eine Stelle als Volontär. Nicht, dass ich dir ungern unter die Arme gegriffen hätte. Aber es entlastet unser Budget doch sehr, wenn du auf eigenen Füßen stehst. Egal, lasst uns ins Wohnzimmer gehen.«

      Gott sei Dank habe ich für heute das Kapitel Magisterprüfung abgeschlossen. Denke ich zu diesem Zeitpunkt jedenfalls. Aber es kommt immer schlimmer, als man denkt. Dabei bin ich kein unverbesserlicher Pessimist, sondern bodenständiger Realist. Und meine etwas reservierte Ansicht über die Freundlichkeit des Lebens bestätigt sich wenige Sekunden später.

      Denn im Wohnzimmer sitzt die übliche Bagage, die jede Familienfeier zur Klamaukorgie verkommen lässt. Ich frage mich, ob andere Menschen auch so peinliche Verwandte haben wie ich, kann es mir aber beim Willen nicht vorstellen.

      Zunächst thront am Kopfende des Esstisches Opa Günter. Sein Eichenstock mit Drachenkopf lehnt am Tisch. Eigentlich braucht der mittlerweile achtzigjährige Unternehmer keine Gehhilfe. Er denkt aber, er müsse sich seinem Alter gemäß verhalten, deshalb der Stock. Daneben sitzt Oma Ilse. Sie ist zwei Jahre älter als Opa, sieht aber zwanzig Jahre jünger aus. Zumindest aus der Ferne.


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