Explorer ENTHYMESIS. Matthias Falke

Explorer ENTHYMESIS - Matthias Falke


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vor zehntausend Jahren. Habt ihr das im Protokoll?«

      »Logisch«, kam es aus dem Helm, »wie auch nicht? Wird eh alles mitgeplottet, was ihr da unten treibt. Und wo ist das ganze Zeug hin?«

      »Jetzt bin ich keine sechs Stunden hier und soll schon letztgültige Erklärungen abgeben! Weiß ich doch nicht. Verdunstet vielleicht ...«

      »Eine Polkappe, deren Aufbau hunderttausend Jahre gedauert und die mindestens zehn Millionen Jahre bestanden haben muss, verdampft in zehntausend milden Lenzen?«

      »Keine Ahnung. Vielleicht hängt’s mit dem Asteroiden, diesem zerstäubten Planeten zusammen. Wie viel Sonnenstrahlung absorbiert der nochmal?«

      »Zwei, drei Prozent – aber wenn, würde das ja für eine Abkühlung des Klimas sprechen ... Warte mal, Dr. Rogers hat noch was!«

      Es knisterte in der Kommunikation, dann hörte ich die Stimme des 70jährigen Chef-Planetologen: »Wir haben Indizien für eine erhöhte Sonnenaktivität seit mehreren tausend Jahren. Unter Umständen ist der zerstörte Zwillingsplanet in den Hauptstern gestürzt und hat da irgendwas in den Fusionsprozessen verändert. Unsere Solaris-Drohnen prüfen das gerade, aber eventuell könnte das die Absorption mehr als kompensiert haben. Ich lasse den Computer gerade mal ein Modell entwerfen, wir können dann ...«

      In einem dissonanten Kreischen, das von der Automatik sofort heruntergeregelt wurde, mir aber trotzdem eine Gänsehaut über den Rücken jagte, brach die Verbindung zusammen. Selbst das lokale System schien zu kämpfen, wie ich aus Jennifers verzerrtem Schrei schloss, der seltsam entfernt klang.

      »Sieh doch! Nein, dort!«

      Denn ich hatte mich instinktiv nach ihr umgedreht, wo ich aber nichts sah, außer ihrer chromglänzenden Gestalt mit dem schweren Tornister und den Sauerstoff-Batterien, die sich glitzernd von den opaken Felswänden abhoben, von denen das polare Blaugrün gewichen war und die ...

      Da registrierte ich das verspiegelte Visier ihres Helmes, das in natriumglühenden Flammen stand.

      »Hinter dir!«, keuchte es an meinen rechten Ohr. Gleichzeitig sprang über meinem linken Auge die grüne Leuchtdiode an, die Stresssymptome signalisiert. (Als ob man das nicht selber merkte – was sich diese Ingenieure immer so einfallen lassen!)

      Ich warf mich herum und starrte auf die Horizontlinie, die sich einige Kilometer vor uns als tiefschwarze Silhouette von dem abhob, was eben noch der in ewiger Dämmerung liegende Himmel gewesen war. Jetzt brannte das ganze Firmament in rubinroten und malachitgrünen Schleiern, die einander ölig durchwallten und aus denen sich pulsende magentafarbene Explosionen lösten. Wie eine gigantische Brandung liefen kupfrige Wellen, die von einem Horizont zum anderen reichten, über uns hinweg. Vorhänge von Glut und Funken schäumten in allen Farben des Spektrums und schienen auf uns herabzuprasseln – für eine Mikrosekunde dachte ich an einen Vulkanausbruch und fühlte mich an den Kilauea versetzt –, aber es war nichts Stoffliches, und ehe ich noch rational reagieren konnte, hörte ich: »Ein Nordlicht.« Es war meine eigene Stimme.

      »Digitales Relais aktivieren«, befahl ich der Funk-Automatik, und nach einigen Sekunden hörte ich, umgeleitet über die großen Antennen der ENTHYMESIS, wenn auch immer noch sehr schwach, wieder die MARQUIS DE LAPLACE.

      »Seht ihr das?«, fragte ich scheinheilig im Ton eines Lotteriegewinners, der grinsend mit dem Scheck herumwedelt. »Wisst ihr jetzt, warum man die Polargebiete nicht überfliegen sollte?«

      »Bingo«, keuchte Dr. Rogers. »Wir waren für einen Moment ein bisschen erschrocken und dachten schon, ihr wärt irgendwo eingebrochen oder so. Ist mir in fünfzig Jahren nicht vorgekommen, dass die Direktverbindung ausfällt. Aber dann kamen die Bilder von den Außenkameras. Kein schlechtes Feuerwerk. War jemand von euch mal in Kiruna?«

      Logisch, wollte ich gerade sagen, während ich noch begeistert in das Schauspiel hinaufstaunte, aber da war schon Jennifers rauchiger Mezzo-Sopran in der Leitung.

      »Könnt ihr eure Altherren-Gespräche vielleicht verschieben, auf nächste Woche am Bitumen-Kamin?! Ist das jetzt gefährlich für uns, oder können wir weitergehen?«

      Wir hatten das große Kuppelzelt aufgestellt, unterhalb der Plateaukante, die uns diese Nacht noch vor den nördlichen Stürmen schützen sollte. Es war eine vollautomatische Station, die sich in wenigen Minuten selbst mit atembarer und klimatisierter Atmosphäre füllte, Mahlzeiten emulierte und alle äußeren Kommunikationen steuerte. Ich hatte noch die Verankerungen und die Nachführung der Parabolantennen überprüft und mich dann durch die Luftschleuse hineingezwängt. Es dauerte eine Weile, bis ich mich aus dem Anzug gequält hatte, und als ich mir dann das sensorielle Unterzeug zurechtzog, fiel mein Blick auf Jennifer, die am anderen Ende der zimmergroßen Kuppel, die von hellblauem Halogen-Licht erfüllt war, vor dem Mineralien-Sonar stand. Sie war nackt. Es war schwer zu sagen, wie alt sie war. Als wir uns kennengelernt hatten, war sie 27 gewesen, nur ein paar Jahre jünger als ich selbst. Unsere wechselvolle Beziehung zog sich inzwischen über mehrere Jahrzehnte hin. Einmal hatten wir uns zwölf Jahre nicht gesehen, in denen sie aber nur zwei, ich dagegen fünf Jahre gealtert war, weil wir sie auf interstellaren Flügen verbracht hatten. Nach Erdzeit waren wir beide über hundert. Erlebt hatte sie etwa vierzig »Jahre«, ich fünfzig. Aber sie hatte den Körper einer Dreißigjährigen. Mit schluckender Verzweiflung weidete ich mich am Anblick ihrer Rückseite.

      Ein Glück, dachte ich in wilder Erregung, dass man uns schon vor drei Generationen die Schweißdrüsen weggezüchtet und auch sonst einiges an Allzumenschlich-Ekligem der verlängerten Evolution der kybernetischen Genetik hat anheimfallen lassen. Kaum auszudenken, eine solche mehrtägige Exkursion ohne hygienischen Systeme durchzuführen. Die bloße Vorstellung, wie irgendwelche prähistorische Polarforscher und Abenteurer des 19. oder 20. Jahrhunderts einander die Schweißfüße unter die Nase hielten ... und sich vor allem gegenseitig auf den Wecker gingen, denn man hatte ja weniger die anatomische als vor allem die physiologische und hormonelle Grundausstattung ein bisschen – nun – frisiert. Etwa das Adrenalin entschärft und auf einen reinen Botenstoff reduziert. Ein Neandertaler wäre bei dem Kommunikationsausfall vorhin womöglich durchgedreht! Also insgesamt war es schon von Vorteil, zumindest auf solchen Unternehmungen. eine Kanüle Testosteron konnte man ja immer in der Jackentasche ...

      »Was guckst du denn so?«, holte sie mich in die Realität zurück und reckte mir ihren Pin-Up-Busen entgegen, den sie einem Stardesigner zu verdanken hatte. »Du brauchst dir gar keine Hoffnung machen, auch wenn mir natürlich klar ist, weshalb du mich zu dieser Unternehmung mitgenommen hast! Auf die Polhöhe spekuliert, wo totale Funkstille herrscht und nicht mal die digitalen Laser unbeschadet durch die Magnetstürme kommen! Lauschige Einsamkeit am Ende der Welt, was?«

      »Hab ich irgendwas gesagt?«, gab ich naiv zurück. »Och Jennifer, es ist doch jetzt schon drei Jahre her – nach Sternzeit fast zehn. Kannst du mir niemals verzeihen, was ich damals auf Centauri IV getan habe? Ich hab doch alles längst gestanden und bereut.«

      »Kümmer dich lieber ums Abendessen!«

      Und sie beugte sich noch fies über den Magnesit-Scanner, dass ich tatsächlich die Kontrolle über meine Augen zu verlieren drohte.

      »Ich will ja nur, dass wir dieses Gezänk einmal beilegen. Mehr wage ich einstweilen gar nicht zu hoffen. Natürlich habe ich dich deshalb mit für die Exkursion eingetragen – die uns nebenbei bemerkt in die Geschichte der interstellaren Expeditionen eingehen lassen wird –, damit wir einmal Ruhe für uns haben. Ab morgen sind wir drei, vier Tage auf uns gestellt und von denen da oben abgeschnitten. Und im übrigen hast du ja damit angefangen« – und ich ließ einen genuss- und vorwurfsvollen Blick über ihre märchenhafte Figur gleiten. »Was musst du so rumlaufen? Bin auch nur’n Mann aus Fleisch und Blut!«

      »Das ist gerade die Strafe«, gab sie kühl zurück und wandte sich wieder ihren Instrumenten zu. Ich kümmerte mich einstweilen um das dehydrierte Chop Suey.

      Nach dem Imbiss, den wir einander gegenüber sitzend auf dem Boden (die Möblierung war tatsächlich etwas primitiv) in kühlem Schweigen verzehrt hatten, warf ich vorsichtshalber doch einen Hormon-Dämpfer ein – zu animalisch tigerte mein wunder Blick immer


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