Vampire unter uns!. Mark Benecke
des betreffenden Vampirs zwar wissen, diese Abweichung aber bloß hinnehmen, ohne sie aktiv zu unterstützen. Ein Clan oder Coven ist also auch Familien-Ersatz für Freaks.
Wie zu jeder echten Familie gehören zu den Clans Vater-Figuren, die Elders. Sie leben das, was andernorts nur im harmlosen Rollenspiel im Wohnzimmer geschieht, gerne live vor. Als beispielsweise Father Sebastian, der Nestor der Manhattener Vampire, im Jahr 1998 auf Einladung der Eulenspiegel Society einen Vortrag über den Unterschied zwischen Gothic, Fashion Vampires und echten Vampyren hielt, tat er dies in seinem mitgebrachten Thron sitzend und von zwei zu seinen Füßen sich recht nackt aalenden Schönen umgeben. Wie man sieht, greifen die U.S.-Vampire in ihrer Selbst-Inszenierung nicht auf die Klassiker von Murnau bis Coppola10 zurück, sondern suchen sich frischere Vorlagen. Dem Europäer können sich dabei die Haare sträuben: Beispielsweise wird der Film Interview mit einem Vampir von vielen schwarzen Jugendlichen in den USA mangels tieferer Kenntnis als erste und damit ursprüngliche Vampir-Geschichte angesehen.
Die schon erwähnten Fertiger aufsteckbarer Zähne, family dentists genannt, haben in den Vampir-Clans eine besondere Rolle. Als Handwerker und Künstler können sie außerhalb der Hierarchie stehende Berater sein, die Vampiren den Weg weisen. Sie haben gleichsam Zauberkräfte (Verwandlung des Gebisses, Erweckung) und kennen überdies Fährnisse, die sie bereits selbst durchschritten haben – in etwa das Motiv des Gandalf aus dem Herrn der Ringe.
Die Legende von den verschwundenen Vampiren
Der vampirische Party-Drang wächst sich im Laufe des Erwachsen-Werdens aus.11 Daher verschwinden viele Menschen aus der Szene, während derzeit noch ungebremster Gothic-Nachwuchs vorrückt. An der Ostküste der USA hat sich um diesen ganz normalen Vorgang eine spannende Legende gebildet. Die älteren Vampire, so heißt es, zögen sich vollkommen in die Einsamkeit zurück und würden mit niemanden mehr sprechen, besonders nicht mit der Presse. Zwar ist es richtig, dass die sogenannte „media exploitation“ für Sonderlinge aller Art – und damit auch für Vampire – schnell zu anstrengend und vor allem sinnlos wird. Die älteren Vampire sind aber in Wirklichkeit nicht verschwunden, sondern haben ihren eigentümlichen Hang einfach in den Alltag und ihre Persönlichkeit integriert. Dass dies problemlos gelingen kann, beweisen die Heerscharen nun bürgerlich lebender Schwarzer (Gothic) aus den 1980 und 1990er Jahren.
Vampirische, also Energie anderer verzehrende Tätigkeiten gibt es genug. Beispiele sind: der jedes Maß verlierende Schriftsteller, der ewige Fan, Spione, gierige Händler und geizige Chefs, Menschen, die sich an Elend weiden, Unterdrücker, Punks, Kleinkarierte und Schreibtisch-Täter. Diesen Menschen ist ihre Energie-Schwäche nicht bewusst, und im Zweifel gehen sie als Fieslinge durch. Gerät die Integration der dunklen Persönlichkeits-Anteile völlig aus der Balance, dann handelt es sich um Gewalttäter, Spinner und Kranke.12 Weder von Fieslingen noch von Spinnern ist aber hier die Rede.
Im Gegenteil: Die gesunden schwarzen Gestalten wissen, dass sie anders sind – eine Selbst-Erkenntnis, die viele normale Menschen nicht erreichen.13 Beweis dafür ist die ausgeprägte Toleranz und Friedens-Liebe der schwarzen Community. Das ist nicht bloß ein Zeichen von Lahmheit, sondern oft genug Ausdruck inneren Friedens. Dazu gehört eine lang dauernde Selbst-Betrachtung mit anschießender Eingliederung der wunderlichen Wesens-Anteile. Das ist anfangs schwierig, vor allem, wenn es um einen Blut-Fetisch geht. Sogar Sexual-ForscherInnen werden bei diesem im Grunde simplen Motiv auf einmal blind: Blood Letting und Vampirismus tauchen noch nicht einmal in denjenigen Studien auf, die neben genetisch bedingten Verhaltens-Änderungen auch Zoophilie (sexuelle Hinwendung zu Tieren), Saliromanie (sexuell gefärbte Körper-Beschmutzung), Koprolalie (Verwendung von Sudelwörter zu sexuellen Zwecken), Algolagnie (Sadismus und Masochismus) und sogar Fetischismus kennen.14
Weil Vampire aber immerhin wissen, dass sie – zwar sicheren Schrittes – am Rand des Randes wandeln, gelten unter ihnen dieselben Regeln wie in der S/M-Community: Sicher muss der energetische Kontakt sein und in gegenseitigem Einverständnis sowie bei geistiger und körperlicher Gesundheit stattfinden: safe, sane and consensual.15
Wie gesagt denken diejenigen Vampire, die zur Gothic-Community zählen, viel und vernünftig über sich nach. Poesie und Weltschmerz darf bei ihren dunklen Betrachtungen natürlich nicht fehlen. Doch das macht die Sache nicht weniger wahr. Dazu einige Zitate, die zwar nicht von Vampiren, aber von schwarzen Szene-Größen stammen. Die große Nähe der Communities erlaubt die Übertragung der Aussagen.
Der Freigeist sehnt sich nach Schmerz, um das wirkliche Leben zu fühlen, er sehnt sich nach der dunklen Seite, die den Rest des Instinkts verwahrt. [...] Dort schließt sich der Kreis zwischen der Gothic- und Fetisch- oder S/M-Bewegung. [...] Ich bin überzeugt, dass Gothic und alle kreativen Sexualbewegungen [...] zusammenwachsen werden und daraus eine große Crossover-Bewegung entsteht, von der es wieder Abspaltungen geben wird. [...] Jede Party [...] ist einer großer „Therapie-Spielplatz“, um all die Dinge zu verarbeiten und diese Verarbeitung zu einer individuellen Kunstform zu stilisieren, bei der man viel Geld für den Therapeuten spart und seine Ängste, aber auch seine Begierden auslebt.16
Mozart, Vormann der Gothic-Band Umbra et Imago
Ähnlich äußert sich Jyrki 69 von der Band The 69 Eyes:
Gothic ist das größte Rollenspiel, das je gespielt wurde, weltweit. Aber es gibt keine Regeln. Dieses Spiel ist offen für alle. Es hilft Dir, Deine innere Freiheit zu entdecken.17
Im Reigen der übrigen Jugend-Subkulturen nimmt die oft zum Gothic gehörende Teilmenge der Vampire trotz der zunehmenden Vermischung in den Clubs eine Sonderstellung ein. Selbst die deutsche Dracula Society (R.I.P. seit 2005) grenzte sich auf ihrer Website von den Blut liebenden Wesen ab:
Wichtiger Hinweis für unsere lieben Boulevardjournalisten! Gerne möchten wir Ihnen helfen, sich eine Enttäuschung und unnötige Gebührentransfers an Ihren Telekommunikationsanbieter zu ersparen. Wir blicken Ihnen also frank ins helle Auge und versprechen: Unser Handeln und Wandeln kann Ihre geschulten Ansprüche an das Sensationelle und Bizarre leider nicht befriedigen. Wenn wir Blut sagen, meinen wir Ketchup, und unsere Vorsitzende ist nicht die einzige Vegetarierin in unseren Reihen. Als Freunde vampiresker Unterhaltung buddeln wir so wenig Leichen aus wie Krimifans Lebende unter die Erde bringen. Die Vampire sind unter uns – in unserer Phantasie!
Ulrike Wyche, Präsidentin der Dracula-Society