Hispanien. Michael Koch
Darstellung der spanischen Geschichte des 19. und 20. Jhs. mitsamt ihren tieferen und tiefsten Wurzeln und Begründungen, die teilweise weit zurückliegen.
Nur so, das hat mich Brenans Arbeit in den späten 1960er-Jahren gelehrt, kann man sich der Geschichte der Iberischen Halbinsel mit Aussicht auf Erfolg nähern, dass man hinter Fakten und Phänomenen, Entwicklungen und Akzidenzen diejenigen unveränderlichen Fixpunkte sucht, die seit tausenden von Jahren die Iberischen Länder und ihre geschichtliche Entwicklung bestimmt haben und durch alle historischen Phasen, die die Halbinsel seit ihrem Eintritt in die „Geschichte“ durchlaufen hat, allen vordergründigen Veränderungen zum Trotz erkennbar geblieben sind. Es sind dies: Geophysik und Geologie im umfassendsten Sinne, vielfache Zuwanderungen von Süden, Norden und Osten (zu Lande und über das Mittelmeer), weniger erkennbar von Westen (und über den Atlantik), und ein sich durch die historischen Phasen erstaunlich ähnliches politisches Kalkül der Nachbarn im Norden und Süden mit den beiden erstgenannten Gegebenheiten. Aber auch ein anderes Phänomen zieht sich durch alle für uns erkennbaren historischen Phasen. Der ältere Plinius hat es auf den Punkt gebracht und einen erstaunlich angemessenen Begriff dafür gefunden: vehementia cordis (Ungestüm des Charakters) (n. h. 37, 203). In der spanisch sprechenden Geschichtsforschung ist dieser Hinweis m. W. nur von J. M. Triviño angemessen gewertet worden – in einem argentinischen Periodikum (1953, 43). Dort sind die meisten antiken Hinweise auf entsprechende Eigenschaften der Hispanier gesammelt; sie ergeben erstaunliche Übereinstimmungen. Gemeint ist mit dem plinianischen mot wohl die immer wieder bei Bewohnern der Halbinsel – Männern wie Frauen – zu beobachtende Bereitschaft, sich ohne Reflexion, raison oder Kalkül und ohne jedwede Rücksicht auf mögliche Folgen einer Sache, ob richtig oder falsch, hinzugeben, von der fides iberica, wie Valerius Maximus (2,6,11;14) sie versteht, und hundert Arten von Selbstaufopferung, dem irrational-mörderischen Hass in älteren und jüngeren Bürgerkriegen, aber vergleichsweise friedfertig auch in der spätmittelalterlichen Mystik, in Literatur und bildender Kunst, im Stierkampf, wohl auch in Tanz und Musik. Es scheine Hispana consuetudo (hispanische Eigenart) zu sein, meinte der ältere Seneca (controv. 1,16), „was immer passiert, so zu leben und auf keine Einrede zu hören.“ Der Geograf Ptolemaios wusste das Gleiche oder glaubte dem Poseidonios: „Die Hispanier sind anarchisch, sie lieben die Freiheit und die Waffen, sie sind kriegerisch, fähig zur Führung, sauber und großherzig.“ (Apotel. 64,13).
Ein weiterer Grund für den vorliegenden Versuch resultiert aus der seit vielen Jahren beobachteten Unfähig- bzw. Unwilligkeit weiter Teile der peninsularen Geschichtsforschung zu tieferer quellenkritischer Reflexion. Ferner kommt er aus meinem Missbehagen an dem vielfach herrschenden alten und neuen Positivismus und der verbreiteten Neigung zu ganzheitlicher Erklärung historischer Vorgänge, die ich – keineswegs als erster – u. a. auf die Nicht-Teilhabe des Landes an der Reformation des 16. Jhs. mit ihren philologischkritischen Errungenschaften und Folgewirkungen sowie auf das Scheitern jedweder Bemühung um „Aufklärung“ im 18. und 19. Jh. zurückführe! So radikal sich iberischer Antiklerikalismus und Liberalismus zuzeiten gerierten: Zäh halten sich Tendenzen zu wenig reflektierter Rezeption von ,Offenbarung durch Autoritäten‘, ganz gleich, ob diese durch anerkannte Universitätslehrer, politische Essayisten oder Kardinäle der römischen Kirche verkörpert werden. Dass die Geschichtsforschung als wissenschaftliche Disziplin auf der Halbinsel erst vor zwei Generationen begründet wurde und dass vordem Alte Geschichte und ihre Schwestern Archäologie, Numismatik, Epigrafik einigen ehrlich bemühten, vielfach der Aristokratie angehörenden ‚Dilettanten‘ sowie Romanciers und Essayisten überlassen waren, liefert weitere Erklärungen für einen altbackenen Positivismus, resultierend aus einem beklagenswerten Defizit an kritisch-reflektierter Erforschung des hispanischen Altertums. Die Tatsache, dass die „Tartessos“-Fiktion des deutschen Althistorikers Adolf Schulten aus dem Jahre 1922, obzwar seit Jahrzehnten widerlegt, zäh ihren Rang in der spanischen Frühgeschichtsforschung behauptet, ist dafür ein markantes Beispiel. Versuche reflektierender Korrektur, wie derjenige von Ricardo Olmos und anderen (Al otro lado del espejo, 1996), bleiben Ausnahmen.
Neuerdings wird auf der Halbinsel vielfach eine ebenso unkritische Übernahme angelsächsischer Erklärungsparameter, speziell im Bereich der Vorgeschichte, betrieben. Dabei handelt es sich einerseits um ein nicht minder erkenntnisgefährdendes Überstülpen häufig unvermittelbarer Fremderklärungen auf Vorgänge und Entwicklungen auf der Iberischen Halbinsel ohne gewissenhafte Prüfung möglicher Kompatibilitäten, andererseits nicht selten um die Anwendung banaler Gemeinplätze auf hochkomplizierte, ausschließlich der Halbinsel vorbehaltene Phänomene. Ähnliche Bedenken sind gegenüber Bemühungen angebracht, auf minimaler Quellenbasis theoretischen Konstruktionen von Staatlichkeit, Gesellschaftsmodellen, Sozialstrukturen und dergleichen, die aus den Sozialwissenschaften entlehnt sind, zu fabrizieren und so den hermeneutisch gänzlich falschen Eindruck zu erwecken, mit ‚modernen‘ Kategorien problemlos zum Verständnis antiker Gegebenheiten zu gelangen. Das führte nicht selten dazu, dass wahrnehmbare Wirklichkeiten den Bedürfnissen theoretischer Modelle angepasst wurden. Umgekehrt ist auch eine wachsende Neigung zu beobachten, den wissenschaftlichen Diskurs durch Rückgriffe auf längst erledigte Fragestellungen einerseits und mangelnde Bereitschaft zur Akzeptanz weithin einvernehmlicher Forschungsergebnisse zu belasten. Zweifellos lebt Wissenschaft von kritischer Dialektik, doch müssen erledigte Schlachten nicht alle zehn Jahre neu geschlagen werden, zumal dann nicht, wenn die ‚Ergebnisse‘ hinter früher gewonnene Erkenntnisse zurückfallen. Arbeiten, die nichts anderes sind als willkürlich zusammenfassende Wiedergaben älterer und neuer Forschungsergebnisse ohne jeden eigenen, gegebenenfalls wertenden, Gedanken, sind Legion. Darüberhinaus gilt es, ein für die Halbinsel nach dem Ende der Diktaturen ebenso charakteristisches wie verblüffend diachrones Phänomen zumindest durchsichtig zu machen: Der in der Geschichte des Landes, Portugal eingeschlossen, früh und durchgehend erkennbare Regionalismus spiegelt sich auch in der Altertumsforschung. So, wie die Universitäten Sevilla, Córdoba und Málaga die Welt andalusisch sehen, so tun das die entsprechenden cátedras in Barcelona und Valencia „iberisch“ bis katalonisch; Santiago de Compostela predigt à la gallega während die kastilischen Institute von Salamanca bis Alcalá de Henares und Valladolid auf den Spuren der Cisneros und Unamuno die Übersicht zu behalten versuchen. Konsequenterweise zählt für Portugal nur Portugal, allenfalls das seit jeher vielfach verwandte Galicia. Solchen Tendenzen muss man nicht begegnen, aber man muss sie kennen und begreifen. Einstweilen hat es den Anschein, als sei die in den 1960er- bis 1980er-Jahren erlebte Forschungs-Kooperation auf Augenhöhe und mit wechselseitigem Respekt verloren gegangen. In bestimmten Bereichen werden auswärtige Beiträge zu zentralen Forschungs-Schwerpunkten nicht mehr zur Kenntnis genommen, geschweige denn zitiert. Ausnahmen werden immer seltener.
Andererseits gibt es Erkenntnis-Erschwernisse objektiver Art, die verständlicherweise die Anwendung immer neuer Erklärungsmodelle in der Hoffnung auf passende Lösungen provozieren.
Zu diesen Erschwernissen gehören Datierung und Interpretation der ältesten literarischen Quellen, die, da nicht selten auf merkwürdigen Wegen überliefert, die Wissenschaft vor nahezu unlösbare Probleme stellen. Zu ihnen gehört beispielsweise die in der Ora maritima des spätantiken Autors Rufius Festus Avienus enthaltene sehr viel ältere punische (oder aus dem Punischen übersetzte griechische) Quelle, aber auch bei klassischen Autoren enthaltene Informationen, etwa die über eine große binnenländische Keltenmigration bei Strabon (3,4,12).
Ein durch kein theoretisches Erklärungsmodell und keine philologische Fein-Analyse zu bewältigendes Problem, ja, ein Grundproblem der Geschichte der Halbinsel überhaupt, stellen neben den teils friedlichen, teils gewaltsamen Invasionen/Penetrationen von außen die immerwährenden Binnenwanderungen dar [Abb. 2]. Über eine potentielle Urbevölkerung auf der Halbinsel wissen wir so gut wie nichts. Nur mit allergrößten Bedenken kann man von ethnischen Blöcken reden, die von Indoeuropäern, nichtindoeuropäischen „Iberern“ und semitischen Einwanderern gebildet wurden: In der indoeuropäischen Zone gibt es in vorrömischer Zeit zahlreiche nicht-indoeuropäische Enklaven, sprachlich/kulturelle Überlagerungen von älteren indoeuropäischen Landnahmen durch jüngere, ebenfalls indoeuropäische, keltisch sprechende Siedlungs-Gebiete in der südiberischen Zone, umgekehrt iberische in den Randgebieten