Leise Musik aus der Ferne. Manfred Eisner
Metamorphose: Meine Hauptfiguren, Clarissa und Vasco, spukten immer heftiger in meiner Fantasie herum, und siehe da, eines Tages verwandelten sie sich in Clarissa und Heiko! Und so entstand nach und nach diese ‚Leise Musik aus der Ferne‘.“ Er blätterte in dem abgegriffenen Heft. „Aus dem kleinen Städtchen Jacarecangá im Staate Rio Grande wurde Oldenmoor, irgendwo im Nordwesten Schleswig-Holsteins zwischen Marsch und Geest. Die stolze Sippe der Albuquerques wandelte sich in die herrschaftliche Familie von Steinberg; Seu Locadio Santarem, mein liebenswerter und schalkhafter Pseudoweise, schlüpfte in die Hülle von ‚Onkel‘ Harald Suhl. Aus dem italienischen Bäckersohn ‚Pé de Cachimbo‘ Gamba wurde sein polnisches Konterfei ‚Klumpfuß‘ Rembowski. Den anderen Romanfiguren erging es ebenso.“
Er trank einen Schluck und besann sich für einen Augenblick. Dann fuhr er fort: „Die geänderten Persönlichkeiten, der Umzug aus dem fernen Brasilien in die hiesige Umgebung, eine vollkommen anders geartete Welt, und, vor allem, der rundweg ungleiche zeitlichhistorische Hintergrund, der gerade in dem Deutschland der schicksalhaften neunzehnhundertdreißiger Jahre eine so bedeutende Rolle spielt, verliehen den Figuren und deren Rollen in meinem Roman eine besondere Eigendynamik, die allerdings, wie ich recht hoffen will, dem Charme meiner ursprünglichen Geschichte keineswegs geschadet hat.“
Ich hatte ihm aufmerksam zugehört und war tief beeindruckt. „Könnte ich mir vielleicht das Buch einmal ansehen?“, fragte ich darauf.
„Ich hätte eigentlich nichts dagegen“, antwortete er mit dem ihm so eigenen Schmunzeln. „Doch leider ist meine Handschrift ziemlich unleserlich und dieses Manuskript steckt voller Korrekturen. So ergibt es wirklich keinen Sinn!“
Während der folgenden Pause sah er mich an. Dabei musste er offensichtlich die Enttäuschung, die auf meinem Gesicht geschrieben stand, bemerkt haben, denn er fügte rasch hinzu: „Wenn Sie es aber wirklich möchten, kann ich Ihnen ein wenig daraus vorlesen.“
„Das finde ich sogar noch viel besser!“, sagte ich.
Der Schriftsteller klappte sein Manuskript auf und las mit melodischer Stimme vor.
1. Clarissa
Clarissa zeichnet mit Kreide jene Landschaft auf die Tafel, die ihre Schüler später nachzeichnen sollen. Ein Häuschen mit Tür und Fenstern auf einem Hügel, daneben eine mächtige Esche. Wie bei uns zu Hause, denkt sie im gleichen Augenblick, in dem sie den mächtigen Stamm und die Äste zeichnet. Dazu einen Weg, der sich durch die Landschaft schlängelt, um sich am Horizont zu verlieren. Kreidewölkchen auf dem schwarzen Tafelhimmel, eine runde und fette Sonne mit funkelnden Strahlen, ein kleiner Teich, in dem Enten schwimmen …
Clarissa geht einige Schritte zurück, um ihr Werk zu begutachten. Das Murmeln der Stimmen hinter ihr nimmt zu und ebbt wieder ab, wie Orgelmusik. Ein Stuhl fällt um. Explosives Lachen.
„Ruhe!“, ruft die Lehrerin, indem sie sich den Schülern zuwendet. „Passt jetzt gut auf und seht euch das Bild, das ich auf die Tafel gezeichnet habe, genau an.“
Alle Augen richten sich auf das schwarze Rechteck. Ein kleiner Finger zeigt zur Decke.
„Fräulein von Steinberg!“
„Was willst du, Hannes?“
„Wie kommt es, dass das Dach von dem Haus bis in die Wolken hineingeht?“
Gelächter. Clarissa unterdrückt ein Lächeln. „Pst! Ruhe!“, ruft sie streng. Und dann fährt sie mit einer weichen Stimme fort: „Nein, Hannes. Das Dach ragt nicht in die Wolken hinein. Wenn man ein Haus von Weitem ansieht, bekommt man zwar diesen Eindruck, und auch auf Bildern und Fotografien ist es immer auf diese Weise zu sehen. Es kann ja auch gar nicht anders sein.“
Hannes gibt nicht auf. „Warum nicht?“
„Weil es nicht anders geht.“
Eine andere Hand schnellt hoch.
„Was ist, Gisela?“
„Hat das Haus nicht auch einen Schornstein?“
Clarissa lächelt. „Möchtest du, dass ich einen Schornstein hinzufüge?“
Gisela nickt eifrig mit dem Kopf.
„Also zeichnen wir eben einen Schornstein hinzu.“ Sie baut einen Schornstein aus Kreidestrichen auf das Dach.
Noch ein piepsiges Stimmchen: „Es feh’t noch was, Fräu’ein ’ehrerin!“
„Also sag schon!“
„Der Rauch.“
„Ach so. Ja, du hast recht!“ Und bald steigt Rauch aus dem Kamin in die Wolken empor. „Fehlt noch irgendetwas?“
„Es fehlt!“
„Was denn?“
„Eine Kuh.“
Lachen.
Die Lehrerin wirft einen hilflosen Blick auf ihre Schüler.
„Um Gottes willen, Wiebke! Warum willst du denn ausgerechnet eine Kuh auf diesem Bild haben?“
„Weil mir Kühe so gut gefallen.“
„Na gut. Wir zeichnen also noch deine Kuh hinein …“
Sie wendet sich wieder der Tafel zu und fängt an, die Kuh zu skizzieren. Die Schnauze, die Hörner, den Nacken, den Körper, den Schwanz …
„Da fehlt noch etwas, Fräulein von Steinberg!“
„Sag, Jochen, was fehlt?“
„Der Titt!“
Lautes Lachen, Aufruhr.
Clarissa schreit: „Ruuuhe! Jochen, benimm dich!“
Jochen senkt die Augen.
Clarissa bittet um Aufmerksamkeit. „Jetzt schaut euch bitte alle diese Landschaft genau an. Danach werde ich das Bild löschen und jeder von euch wird es in seinem Heft aus dem Gedächtnis nachzeichnen.“ Sie lässt einige Minuten verstreichen. „Achtung, ich lösche jetzt.“
Sie nimmt den Schwamm und die Landschaft aus Kreidestrichen verschwindet in einem weißen Nebel.
„So, und jetzt los, alles zeichnet!“
Sie geht an ihr Pult zurück. Vom Podium aus sieht sie auf ihre Schüler herab, und als sich die kleinen Köpfe über die Hefte beugen, hat sie den Eindruck, als ob eine Vielfalt farbiger Früchte – blond, braun, rötlich und hier und da dunkel – auf den Wellen eines Stromes schwimmen würde.
Welch eigenartiger Vergleich! Früchte! Wer weiß wohl, was einmal aus diesen Kindern wird? Wie viele große Männer und Frauen der Zukunft sitzen hier auf ihrer Schulbank, mit der Bleistiftspitze an der Zunge, eifrig bemüht, die Landschaft aufs Papier zu zaubern, die ihnen das „Fräu’ein ’ehrerin“ auf der Tafel vorgezeichnet hat?
Clarissa versinkt in ihren Gedanken. Helles Licht scheint durch die Fenster. Der Vormittag altert dahin. Ein Kalenderblatt an der Wand verkündet, dass wir heute den 20. September 1931 haben. Eine Weltkarte behauptet, dass die Erde eine Kugel mit abgeflachten Polen sei. Von den anderen Klassen dringen markante Stimmen herüber: Lehrer, die laut sprechen. Die dunkle Stimme von Herrn Möller aus der Fünften, Heikes schrille Stimmlage aus der Zweiten.
Clarissa steigt vom Podium herab und wandert mit den Händen auf dem Rücken durch die Reihen der Schulbänke. Sie gewöhnt sich jetzt langsam an die Kleinen. In den ersten Tagen war es ihr sehr mulmig zumute: Sie stand zum ersten Mal allein vor einer Schulklasse und sie hatte sogar Hemmungen, laut zu sprechen. Sie wurde rot, wenn sie sprach. Diese kleinen Gesichter – einige ernst, andere boshaft oder gehässig, andere wieder anscheinend gleichgültig oder frech und alle insgesamt irgendwie geheimnisvoll – hielten sie stets in Alarmbereitschaft. Sie befürchtete, dass irgend so ein kleiner Lümmel sie beschimpfen würde oder dass sie sich alle weigern würden, ihre Anordnungen zu befolgen.
Ihre Ängste schwanden jedoch nach und nach. Jetzt ist sie Herr der Lage