Leise Musik aus der Ferne. Manfred Eisner

Leise Musik aus der Ferne - Manfred Eisner


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es …“

      Oliver unterbricht ihn bestimmt mit einer Geste: „Ich hoffe sehr, dass Sie mir meine Offenheit nicht übel nehmen … Ich kann wirklich nicht annehmen … Ich danke Ihnen!“

      Die Kommissionsmitglieder erheben sich. Sie ziehen ihre Wintermäntel über. Drei Händedrücke. Alle gehen zur Haustür. Als die zwei ersten Besucher bereits auf der Straße sind, hält Oliver Udo Dammann am Pelzkragen seines Wintermantels zurück und flüstert ihm leise zu: „Hör zu, du Heuchler, das nächste Mal brauchst du dich mir gegenüber nicht derart zu verstellen, auch wenn du mit solch einer hochkarätigen Abordnung zu mir kommst! Mein guter, alter Freund Udo macht ein Gehabe, als ob er ein Lord im britischen Oberhaus wäre. Nicht zu glauben!“ Dabei lächelt er und hüstelt.

      Dammann sagt: „Aber, aber, mein lieber Oliver!“, lächelt zurück und drückt ihm dabei beide Hände. Danach eilt er seinen vorangegangenen Begleitern auf dem mit Schnee bedeckten Gehweg hinterher.

      * * *

      Juni 1912.

      Der alte Speisesaal glänzt für ein besonderes Fest.

      Hans-Peter und seine Frau feiern mit der ganzen Familie die Taufe ihrer ersten Tochter. Die Namensgebung gab Anlass zu längeren Diskussionen. Hans-Peters Brüder waren der Meinung, dass das Mädchen den Namen seiner Großmutter tragen solle. Der Vater dagegen war von einem Roman begeistert, dessen Heldin Lady Clarissa hieß. Dieser Name gefiel ihm außerordentlich. „Meine Tochter wird Clarissa heißen!“ Oliver von Steinberg stimmte ihm zu. Und so wurde das Kind auf den Namen Clarissa getauft. Johann und Tante Alexandra waren die Taufpaten.

      Jetzt feiern alle das freudige Ereignis. Der Saal ist voller Leute, die sich recht angeregt unterhalten. Onkel Suhl spielt auf seiner Flöte und wird am Klavier von Tante Alexandra begleitet.

      Mit seinem Töchterchen auf dem Arm tritt der stolze Vater ein. Alle treten näher, um das Baby zu betrachten.

      Clarissa öffnet die blauen, runden Äuglein, die sich, vom Licht geblendet, gleich wieder schließen. Das noch runzlige Gesicht verzieht sich mit einem Ausdruck des Missfallens. Die winzigen Händchen fuchteln in der Luft herum.

      „Ist sie nicht allerliebst?“

      „Ganz der Papa!“

      „Ich finde, sie sieht eher ihrem Großvater ähnlich, kein Zweifel.“

      Oliver von Steinberg zwirbelt stolz seinen Schnurrbart. „Typisch, die Nase der von Steinbergs.“

      Gelächter.

      Am Rande des Zimmers beschreibt Tadeusz Rembowski, ganz in einen steifen Kragen und in neue, offensichtlich zu enge Stiefeln eingepfercht, einem Gast die bahnbrechenden maschinellen Neuerungen, die er in seiner Bäckerei eingeführt hat.

      * * *

      September 1914.

      Christian von Steinberg ist bei der mörderischen Schlacht an der Marne gefallen. Die Überführung des Sarges mit seinen sterblichen Resten nach Oldenmoor wurde durch den besonderen Einsatz des Vorsitzenden des Stadtrates, Udo Dammann, ermöglicht.

      Die Nachricht verbreitet sich rasch. Die Freunde der Familie sammeln sich nach und nach im Hause. Der große Spiegel ist zum Zeichen der Trauer verhängt. Oliver von Steinberg ist völlig zusammengebrochen: Er kann es immer noch nicht fassen, dass der jüngste und insgeheim der bevorzugte seiner Söhne nicht mehr ist.

      Der Sarg wird zunächst in der Diele des Hauses aufgebahrt, um dann, unter reger Anteilnahme der riesigen Trauergemeinde, mit militärischen Ehren in der Familiengruft der von Steinbergs beigesetzt zu werden.

      Christians ältere Brüder, Hans-Peter, Johann und Ewald, erhielten zur Beerdigung Heimaturlaub. Stumm stehen sie in ihren Uniformen um ihren Vater herum: Der Älteste ist bei der Feld-Artillerie, die beiden anderen sind Infanteristen.

      Der alte Oliver liest immer wieder den letzten Brief Christians, zwei Tage vor seinem Tode geschrieben:

       An der französischen Front, den 13. September, 1914.

       Lieber Papa,

       ich hoffe sehr, dass diese Zeilen Dich bei bester Gesundheit erreichen. Nachdem die ersten euphorischen Wochen des Krieges verstrichen sind, fange ich langsam an, über den Sinn und den Unsinn dieses gegenseitigen Völkermordes nachzudenken. Wir hatten schon den Fluss Marne überquert, da haben die Franzosen eine starke Gegenoffensive entfaltet und eine riesige Bresche in unsere Front geschlagen, so dass wir den Befehl zum Rückzug erhielten. Wir haben uns hinter der Aisne eingegraben und halten hier die Stellung.

       Die Franzosen – von den Engländern unterstützt – versuchen immer wieder, uns weiter zurückzudrängen. Bisher ohne Erfolg. Aber bei jedem ihrer Angriffe sowie auch bei unseren Gegenangriffen (zwei Mal versuchten wir bereits den Fluss zu überqueren, um Brückenköpfe am anderen Ufer zu bilden) bleiben Hunderte von Toten und Verwundeten auf dem Schlachtfeld liegen oder ertrinken im Fluss.

       Es ist grauenvoll. Wir liegen im Schützengraben und hören das Schreien und Stöhnen der Verwundeten und Sterbenden. Es ist wie ein Albtraum!

       Ich sende Dir, lieber Papa, diesen Brief mit einem verwundeten Kameraden; er hat einen Lungen-Steckschuss und wird heute nach Hause, nach Rendsburg, verschickt. Der Stabsarzt sagte mir, er wird es wahrscheinlich nicht mehr bis zu seinem Ziel schaffen. (Hoffentlich kommen diese Zeilen irgendwie in Deine Hände, ich hätte es nicht gewagt, diesen Bericht über den – wahrscheinlich zensierten – Feldpostweg zu senden).

       Wie geht es meinen Brüdern? Von ihnen hörte ich nichts und bete darum, dass Gott sie beschützen möge, damit wenigstens sie heil aus diesem Inferno herauskommen.

       Verzeih mir, lieber Papa, aber ich habe die Vorahnung, dass ich von diesem Jüngsten Gericht nicht mehr lebend zurückkommen werde. Sollte mir etwas zustoßen, so bitte ich Dich, meinem letzten Willen zu entsprechen und alle meine Gedichte – Balladen, wie Du immer zu sagen beliebtest – zu vernichten. Es darf keines davon je veröffentlicht werden. Vergib mir, Vater, auch der liebe Gott möge uns allen dieses begangene Unrecht vergeben.

       Es umarmt Dich und alle zu Hause in Liebe

       Dein Christian

      Der Brief war bei der Post in Rendsburg aufgegeben worden.

      * * *

      April 1915.

      Wieder herrscht Trauer im großen Hause, die Spiegel sind mit schwarzen Tüchern verhängt.

      Der Leichnam des alten Oliver von Steinberg ist in seiner Uniform eines Obersten der Kavallerie im Salon aufgebahrt. Die Standuhr, ahnungslos, dass dies in diesem Augenblick des Schweigens vollkommen unpassend sei, schlägt dumpf drei Mal und erntet dafür die vorwurfsvollen Blicke der Trauernden. Das Lenchen eilt hinzu und hält das Pendel an.

      Die Kerzen brennen. Zahlreiche Bewohner der Stadt Oldenmoor wollen von dem angesehenen Toten Abschied nehmen. In sämtlichen Räumen des Hauses drängeln sich die Kondolierenden. Tante Alexandra versucht zu weinen, sie kann es aber nicht. Hans-Peter, inzwischen zum Artillerie-Fähnrich avanciert, und Johann stehen in ihren Uniformen neben dem Sarg und blicken den Verblichenen traurig an. Ewald ist noch nicht eingetroffen.

      Harald Suhl, der enge Freund der Familie, dichtet bereits in Gedanken die Inschrift für Oliver von Steinbergs Grabstein: „Er war ein guter Sohn, ein musterhafter Vater und ein treuer Freund, Wohltäter der Armen, der Ehrlichste unter den Ehrlichen. Ruhe in Frieden für alle Ewigkeit.“

      Das Lenchen weint bitterlich und blickt betrübt auf den Leichnam ihres geliebten Herrn, der nie wieder zurückkehren wird.

      * * *

      Ein Nachmittag im November 1918.

      Die Familie ist nach dem Ende des furchtbaren Krieges wieder vereint. Die drei Brüder sind nach Hause zurückgekehrt; als Letzter Ewald, der einige Monate in einem Lazarett verbringen musste, um sich


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