Katzmann und das verschwundene Kind. Franziska Steinhauer
wenn sein Sohn zu Besuch kam.
Heute würde es anders sein! Wieder fingerte er im Mantel nach dem Arbeitsvertrag, lauschte glücklich auf das diskrete Rascheln des Papiers.
Träge rumpelte der Zug weiter. Das gleichförmige Ruckeln hatte eine derart beruhigende Wirkung auf Konrad Katzmann, dass er gegen eine zunehmende Schwere der Lider kaum mehr ankämpfen konnte. Bis morgen sollten die ersten Artikel fertig sein, grübelte er im Rhythmus der Räder.
Langsam nahm eine Idee konkrete Gestalt an. Warum nicht über Dresdens gesellschaftliches Leben in Zeiten der Spanischen Grippe schreiben? Natürlich wütete die Influenza auch anderswo, sie war kein singuläres Dresden-Ereignis. Was aber, wenn es keine Aufführungen mehr in der Semperoper geben konnte, weil die Sänger oder Musiker erkrankt waren? Oder wenn die Besucher ausblieben, aus Angst vor Ansteckung? Das wäre dann schon etwas Besonderes. Die Semperoper war weltweit bekannt!
Fielen die Vorstellungen eventuell auch bereits unter das Verbot von Massenveranstaltungen in geschlossenen Räumen? Gleich auf dem Heimweg könnte er die ersten Nachforschungen anstellen.
Seine Gedanken zogen weiter zu Martina. Sie war vielleicht die schönste Frau, die ihm je im Leben begegnet war. Bedauerlicherweise hatte sie kaum Notiz von ihm genommen, als sie sich nach der Arie tief verbeugt hatte.
Katzmann war darüber fast gekränkt, gelang es ihm doch sonst mühelos, die Aufmerksamkeit des weiblichen Geschlechts nicht nur zu wecken, sondern zu fesseln. Er wusste, dass er gut aussah, seine markanten Züge, die dichten Haare, die er asymmetrisch gescheitelt trug, weil er schon vor Jahren erkannt hatte, dass der Mittelscheitel den meisten Männern nicht stand, sie dumm und dröge wirken ließ. Und dann natürlich seine Augen. Die ungewöhnliche Farbe faszinierte seine Gesprächspartner, egal ob sie nun männlich oder weiblich waren. Eisvogelblau. Wenn das Licht in günstigem Winkel einfiel, funkelten goldene Blitze darin. Aber Martina hatte das alles offensichtlich nicht bemerkt.
Dresden, Bahnhof Neustadt. Endlich! Von nun an musste er, der nicht gern Bahn fuhr, die Strecke Dresden—Leipzig—Dresden zum Glück seltener zurücklegen. Sein Arbeitsschwerpunkt lag nun hier. Da blieb mehr Zeit für seine Artikel.
Hastig raffte Katzmann seine Habseligkeiten zusammen, zerrte den Schal fester um den Hals und stopfte die langen Enden vor der Brust fest. Er setzte den Hut auf, rückte ihn zurecht. Sollte es regnen oder gar schneien, würde der ihn wenigstens vor Nässe schützen. Ein Lob auf den Erfinder in Guben, Carl Gottlob Wilke! Ihm verdankte die Welt den wetterfesten Filzhut. Katzmann fuhr in die Handschuhe, die er sich vor ein paar Tagen geleistet hatte. Wenn er seine Eltern besuchte, würde er sie in die Manteltasche schieben, nach Auffassung seines Vaters brauchten wahre Männer so etwas nicht. Handschuhe seien ein Indiz für den Verfall der Tugenden in der Gesellschaft. Schließlich müsse der Soldat an der Front auch mit kalten Händen die Heimat verteidigen können!
Mit einem Schaudern erinnerte er sich an das Abhärtetraining, das sein Vater in jedem Jahr zu Beginn des Winters mit ihm durchführte. Es grenzte fast an ein Wunder, dass ihm alle Finger, Zehen, Ohren und die Nasenspitze erhalten geblieben waren. Nur eine großflächige Erfrierung an delikater Stelle hatte er davongetragen, als er über mehrere Stunden mit unbekleidetem Unterleib im Schnee sitzen musste.
Wie erwartet empfing ihn ein eisiger Wind, dem es mühelos gelang, die Mäntel, Röcke und Hosenbeine der Passanten zu durchdringen. Ein feiner Schleier aus Wassertröpfchen legte sich über Katzmanns Brillengläser und raubte ihm die Sicht. Murrend klemmte er sein Gepäck zwischen die Beine und fischte ungeschickt sein Reinigungstuch aus der Manteltasche.
Ärgerlich - immer diese jahreszeitlich bedingte Blindheit, die den Brillenträger völlig außer Gefecht setzt! Gründlich wischte er die Feuchtigkeit ab, blies seinen warmen Atem über die Sehhilfe, rieb erneut. Dann schob er die Bügel über die Ohren und drückte seine Mappe enger an den Körper. Er griff nach seinem kleinen Lederkoffer und machte sich auf den Weg.
Zu seiner Überraschung war in den Straßen ein dichtes Gedränge. Männer und Frauen eilten, ohne einen Blick nach links oder rechts zu werfen, den Bürgersteig entlang, andere standen in kleinen Gruppen diskutierend in Hauseingängen zusammen.
Und doch hatte sich seine Stadt stetig verändert. Das Lachen war aus Dresden verschwunden, als stünde es unter Strafe. Längst hatte sich das Novembergrau in den Herzen und im Denken der Menschen eingenistet. Besorgt registrierte er die vielen Kranken, die sich hustend und schniefend unter den anderen bewegten. An den Ecken entdeckte er einige Bettler, einer hockte der Kälte zum Trotz auf dem eisigen Boden, den Blick leer wie die Dose zu seinen Füßen. Katzmann kramte in seiner Manteltasche und fand eine Reichsmark. Scheppernd fiel sie in das Gefäß, und der Mann bedankte sich leise. Doch das hörte der junge Reporter schon nicht mehr.
Er musterte die Menschen. Bildete er sich das ein, oder waren es tatsächlich mehr Soldaten, die hier entlanggingen? Heimkehrer, die ziellos durch die Straßen streunten, weil In-Bewegung-Sein noch immer besser war als still in einer Ecke zu stehen, der gnadenlosen Kälte schutzlos preisgegeben. Katzmann wusste, dass man in einigen Schulen Notunterkünfte eingerichtet hatte, damit die heimgekehrten Kämpfer erst einmal eine Anlaufstelle und ein Dach über dem Kopf fanden.
Graue Gesichter in grauen Mänteln, die in einer grauen Stadt unterwegs waren. Deprimierend.
Ein Zeitungsjunge brüllte über die Straße: «Extrablatt! Extrablatt! Schon wieder Opfer der Grippewelle zu beklagen. Prominenter unter den Toten! Extrablatt! Extrablatt! Maler Egon Schiele an Grippe gestorben! Meuterei der deutschen Seekriegsflotte in Wilhelmshaven! Extrablatt! Extrablatt!»
Kunden bestürmten den Jungen, rissen ihm die dünne Ausgabe förmlich aus den Händen.
Katzmann beschloss, am Alberttheater vorbeizugehen. So konnte er gleich feststellen, ob Vorstellungen wegen der Erkrankungswelle abgesetzt worden waren.
Der Albertplatz war rund angelegt, und sternfömig trafen an dieser Stelle zwölf Straßen zusammen. Das Alberttheater war hier nicht der einzige Prunkbau. Gegenüber lag die Villa Eschebach, die Dresdenbesuchern gern gezeigt wurde. Das auf einem quadratischen Grundriss errichtete Gebäude verfügte über einen eindrucksvollen Segmentbogen, der zwei Putten zeigte, die eine Kartusche mit den Initialen Eschebachs hielten. Konrad gefielen allerdings die Brunnen auf diesem Platz am besten. Ganz besonders die «Stürmischen Wogen». Hier sah man kämpfende Tritonen über dem runden Steinbecken. Ihre durchtrainierten Körper faszinierten ihn. Solche Muskeln bekommt man als Journalist eher nicht, dachte er ein wenig neidisch nach einem letzten Blick die Hauptstraße hinunter und setzte seinen Weg über die Georgenstraße fort.
Schnell hatte er das Haus in der Wolfsgasse erreicht, das sein Großvater ihm vor wenigen Jahren vererbt hatte, stellte sein Gepäck ab und machte auf dem Absatz kehrt. Er würde sofort zu seinen Eltern gehen. Die Melanchthon Straße war schließlich nur ein paar Minuten entfernt. Er schmunzelte amüsiert über sich selbst. Da bemühe ich mich um Unabhängigkeit, doch kaum bekomme ich einen neuen Vertrag, schon habe ich nichts Eiligeres zu tun, als ihn den Eltern zu zeigen! Der Sohn möchte noch immer gelobt werden, es ist doch nicht zu glauben, kicherte er in sich hinein, als er vor der Tür des Elternhauses stand, einem großen, hellen Gebäude mit drei Etagen, das der Vater gekauft hatte, als er nach Großvaters Tod die Leitung der Tabakwarenfabrik übernommen hatte. Es ist wie früher mit dem Zeugnis: Du buhlst noch immer um ihre Anerkennung. Konrad, Konrad, vielleicht solltest du üben, erwachsen zu sein!
«Konrad, herzlichen Glückwunsch!», jubelte die Mutter und schloss ihren Sohn fest in die Arme, während der Vater den Arbeitsvertrag gründlich studierte, um darin verborgene Fallstricke zu entdecken.
«Dresdenkorrespondent - was für ein Wort! Ich bin ja so stolz auf dich!»
«Der Leipziger Volkszeitung », setzte sein Vater bitter hinzu.
«Wenigstens muss ich sie nicht auch noch lesen!»
«Ach Wilhelm, nun gib schon zu, dass du dich freust!» Der Vater schwieg.
«Aber Konrad, nun wirst du doch sicher daran denken, endlich eine Familie zu gründen?», schaffte Frau Katzmann mühelos die Überleitung zu ihrem Lieblingsthema. «Sieh mal, es ist ja