Lebensstapfen. Tief ist meiner Heimat Spur. Gerhard Polzin
(H)Ahnenforschung
Bei uns wurde eigentlich nicht plattdeutsch gesprochen, doch verwendeten viele Nachbarn und nicht wenige unserer Vorfahren dieses Idiom. Es war uns also durchaus vertraut. Wenn Frau Dickow uns Jungs einschmeichelnd mit: „Na, mien Höhning (Hähnchen), mien lütten Hohn (Hahn)!“ (ö und o wie bei Hörner und Horn ausgesprochen, weil anders – unpassenderweise – ausgerechnet ein plattdeutsches Hühnchen und Huhn daraus geworden wären) ansäuselte, wussten wir, dass sie etwas auf dem Herzen hatte. Ja, und meine Mutter nannte vier solche „Gockelchen“ ihr Eigen, deren beide Väter nicht mitgerechnet. Ich war der Letzte und somit auch der Kleinste in der Reihe. Naturgemäß war also vor mir schon so dies und das geschehen, was die Familienbildung betraf und hier kurz skizziert werden soll. Da meine Mutter für mich immer eine – viele Jahre lang sogar die – Hauptperson im Leben war, werde ich dabei trotz des obigen Titels in erster Linie ihren Spuren folgen, die eigenen natürlich zu gegebener Zeit ebenfalls berücksichtigend.
Mein Großvater mütterlicherseits war ein so wohlhabender Fleischermeister in Sassnitz, dass er sich fünf Söhne und fünf Töchter leistete.
„Klein Erna“ – später meine Erziehungsberechtigte – wurde 1907 geboren. Als Mädchen erlitt sie beim Spielen einen schweren Unfall, der sie viele Jahre, eigentlich ein Leben lang, gesundheitlich beeinträchtigte. Körperlich eher schwach, besaß sie dennoch eine unglaubliche Zähigkeit, war klug und stets dem Leben zugewandt. Wegen der labilen Gesundheit wies man „Fräulein Erni“ im Elternhaus den Posten einer Küchenchefin zu. Das war übrigens eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe, wenn man bedenkt, was zur Versorgung eines so großen Haushaltes – plus einer ganzen Reihe von Angestellten – an Beschaffung, Bevorratung und Verarbeitung nötig war.
Mitte der dreißiger Jahre kam dann auch für sie die Zeit, sich aus der Großfamilie davonzumachen und es mit der Gründung einer eigenen, kleineren zu versuchen. Buchstäblich am anderen Ende der Insel, Stralsund genau gegenüber, fand sie ihr neues Zuhause bei einem jungen Mann, der ein ganz anderes, „supermodernes“ Gewerbe betrieb: Er war Elektriker! Gerade in dieser Zeit sehr gefragt, wurde doch mit Hochdruck an dem Jahrhundertprojekt Rügendamm gearbeitet. Straße und Bahnstrecke sollten ab 1936 die uralte Fährverbindung ablösen. Da galt es für den „Herrn Elektrischen“ bei Wind und Wetter auf dem Sund zu sein. Auch der Stralsunder Hauptbahnhof musste erweitert werden, um den neuen Anforderungen zu genügen. Ein Rügendammbahnhof entstand aus dem Nichts. All das stellte sehr hohe Anforderungen an die Arbeitskraft. Immerhin blieb dem glücklichen Ehemann offenbar noch soviel „Kapazität“, sich seiner jungen Frau zu widmen, denn 1935 und 1936 erblickten zwei neue Erdenbürger das Licht der Welt. Ersterer erbte den vollständigen Namen seines stolzen Papas, und das ist gewissermaßen wörtlich zu nehmen; denn beider Söhne Vater starb nicht lange nach der Einweihung des Rügendammes und der Familiengründung an einem Lungenleiden, das er sich möglicherweise bei dem Jahrhundertwerk geholt hatte.
Ja, und was nun? Der so „sturmerprobte“ Opa Fleischermeister verlor auch jetzt nicht die Übersicht und meinte, er wisse für die junge Witwe Rat, was ihren künftigen Lebensunterhalt angehe: „Da bau ich dir in einem Inselbadeort ein Pensionshaus. Da kannst du mit den Kindern drin wohnen und die anderen Zimmer an Badegäste vermieten!“
Gesagt, getan! Die Wahl fiel auf Lietzow am „Minirügendamm“, den es immerhin schon seit 1868 als Straße und seit 1891 zusätzlich als Eisenbahnboddenüberquerung gibt. 1939 war alles fertig, und die Umsiedlung aus Altefähr konnte erfolgen.
Im selben Jahr wurde eine Normalspurbahnlinie von Lietzow nach Binz eröffnet, die auch Prora berührte, wo ein riesiges KDF-Bad für zirka 20.000 Urlauber im Bau war. Lietzow erfuhr dadurch vor allem eisenbahnmäßig eine deutliche Aufwertung, was bald auch für die junge Familie praktische Bedeutung erlangen sollte.
In den sogenannten Beamtenhäusern zwischen Bahnhof und Bahnübergang zum Spitzen Ort – einer Halbinsel, die in den Kleinen Jasmunder Bodden ragt – lebte nämlich seit Kurzem ein alter Schrankenwärter mit seiner recht zahlreichen Nachkommenschaft. Er war als zusätzlich notwendig gewordene Arbeitskraft von Pyritz jenseits der Oder hierher versetzt worden. Fünf seiner sechs Söhne zogen nach und nach als Soldaten in den Krieg. Einer aber, der wegen eines Glasauges nicht eingezogen wurde, blieb bei den Eltern. Mit seinen 22 Lenzen war er durchaus eine interessante Person, gab es doch praktisch keine jungen Männer mehr im Dorf. Es dauerte denn auch gar nicht so lange, bis eben dieser und die junge Pensionshausbetreiberin scheinbar ihren gegenseitigen „Nutzen“ erkannten. Sie zählte zwar zehn Jahre mehr als er und hatte zwei kleine Jungs, war offenbar dennoch so attraktiv und – nicht zu vergessen – wohlhabend, dass er sich um sie eifrig bewarb und 1940 Hochzeit gehalten wurde. Dann war es gewissermaßen auch nur noch eine Frage der Zeit, bis im Januar 1941 ein drittes Hähnchen im Nest auftauchte, das, ebenso wie das erste, den kompletten Namen seines Vaters erhielt.
Es wird sicher niemanden überraschen, zu hören, dass kriegsbedingt das KDF-Projekt Prora nicht zu Ende geführt wurde und die Badegäste generell mehr und mehr ausblieben. Letzteres galt natürlich auch für Lietzow. Die Pensionsidee fiel dann schließlich auch dieser Entwicklung zum Opfer, stattdessen siedelten sich Familie Dickow und andere fest im schönen, neuen Hause der dreifachen jungen Mutter an.
Auf Letztere, auf den Vater sowie auf zwei „halbe“ und einen „ganzen“ Bruder traf ich dann im Januar 1945, was nunmehr das Bild komplettiert.
Es sei der Vollständigkeit halber hinzugefügt, welcher traurigen Tatsache ich meinen Namen verdanke: Der jüngste Bruder meines Vaters kehrte nicht aus der unsäglichen Schlacht um Stalingrad zurück. Ihm zum Gedenken wurde ich Gerhard genannt.
So, nun sind hier alle Viere, die „halb“ und „ganz“ nicht unterschieden, versammelt! Henner, Bubi, Berni und mir – wie auch meinen Eltern – werdet ihr in den nachfolgenden Geschichten aus der Kindheit hie und da wiederbegegnen, dazu weiteren bereits erwähnten und natürlich auch bisher unerwähnten „Damaligen“. Heute würdet ihr davon übrigens fast nur noch Bubi und mich antreffen.
Chronistenpflicht gebietet einen kleinen Nachtrag: Die fünfziger Jahre bescherten mir weit in der Ferne noch einmal drei „Halbe“, darunter gar ein „Hühnchen“, mit einer mir fremden Mutter und einem uns längst fremd gewordenen Papa, doch das ist eine ganz andere Geschichte!!
Im Dezember 2013
Stehvermögen
Nicht wenig gibt’s, die Hoffnung hegen,
man schätzt sie schon von Amtes wegen.
Auch Alter, mag so Mancher denken,
muss doch die Ehrfurcht auf mich lenken.
Was wirklich bleibt von deren Traum:
Respekt vielleicht, doch Achtung kaum.
Die zu erringen fordert mehr
als äuß’ren Ruhm und äuß’re Ehr.
Was uns Dein Beispiel hat zu sagen,
ist Mut an nicht so leichten Tagen,
ist, sich nicht unterkriegen lassen,
wenn’s manchmal leichter scheint zu passen.
Dem Tag das Beste abgewinnen
aus eigner Kraft mit allen Sinnen,
dazu Humor und Übersicht,
wer wünschte so zu sein sich nicht!
Meiner längst verstorbenen Mutter voller Bewunderung
Im Juni 1997
Wolfsgeheul
Ziemlich lange habe ich mich bei der Titelwahl für diese Geschichte nicht zwischen „Hundeelend“ und dem nun gewählten entscheiden können. Warum, das wird wohl bei der anschließenden Lektüre bald einleuchten.
„Die Russen kommen!!!“ Dieser Aufschrei riss das Dörfchen am Bodden im Frühsommer 1945 aus seiner – trotz des Krieges – bis dahin recht beschaulichen Ruhe, sah man einmal von den entsetzlichen