Die Welt der Poesie für neugierige Leser. Achter Band: Dichter und Dichterinnen in Zeiten der Weltkriege. Anne-Gabriele Michaelis
Rilkes Biografie war weltoffen und weltbewegend, wie kaum eine seiner Zeitgenossen. Prag – Geburtsstadt – München, Berlin und der unauslöschliche Eindruck Russlands, Worpswede, Paris, Italien, Schweden und in Nordafrika das Erlebnis pharaonischer Kultur und schließlich Spanien.
Überall war er nicht nur Gast, sondern die Orte bedeuteten ihm Heimat, prägten sein Lebensgefühl und sein Werk.
Der Erste Weltkrieg und die Revolution in Deutschland, mit der er für kurze Zeit die Hoffnung auf eine Wende verband, der Rückzug in die Schweiz mit dem Glück dichterischer Selbstvollendung im Turm zu Muzot, gehören zu diesem Leben.
Russische Ikonen, Worpsweder Maler, Skulpturen Rodins, Cézanne, malerische Zeugnisse der Renaissance, des französischen Impressionismus und des deutschen Expressionismus bis hin zu Slevogt, Picasso, Kokoschka, Beckmann und Barlach: Ein Bilderreichtum, der in vielfach verwandelter Form in seine Dichtung eingegangen ist.
Rainer Maria Rilke war der letzte Mystiker, der sich und Gott in unserer Zeit suchte.
Er wuchs in der Habsburger Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, in der k. u. k. Zeit in Prag auf und war somit Österreicher. 25.000 Deutsche, fünf Prozent der Einwohner Prags, lebten in dieser Stadt zur Zeit Rilkes.
Am 4. Dez. 1875 wurde Rainer Maria Rilke in Prag geboren. Er war ein Sieben-Monats-Kind, was die Eltern mit umso größerer Angst erfüllt haben dürfte, da eine im Jahr zuvor geborene Tochter nach nur wenigen Wochen starb. Am 19. Dezember wird der etwas schwächliche aber gesunde Junge in der Kirche zu St. Heinrich in Prag auf den Namen René Karl Wilhelm Johann Josef Maria getauft.
„René“ – „der Wiedergeborene“, dieser Name klingt wie die weibliche Form „Renée“. Es kommt nicht selten vor, dass ein nachgeborenes Kind von den Eltern als Ersatz für sein verstorbenes Geschwisterchen angesehen wird, das war wohl auch bei Rilkes Eltern der Fall gewesen.
Bis zu seiner Einschulung steckte ihn seine Mutter in Mädchenkleider und bringt ihn dazu, die Rolle seiner verstorbenen Schwester zu spielen.
Der Vater, Josef Rilke, 1838 im böhmischen Schwabitz geboren, wurde in Militärschulen erzogen, nahm 1859 als Kadettfeuerwerker am Feldzug gegen Italien teil. War während dieses Krieges für kurze Zeit Kommandant des Kastells Brescia. Nach dem Krieg wurde er Lehrer an der Schule seines Regiments, nahm dann 1865 tief enttäuscht seinen Abschied, da ihm trotz mehrerer Eingaben die Beförderung zum Offizier vorenthalten worden war, dazu litt er gesundheitlich schwer angeschlagen unter einem chronischen Halsleiden.
Durch die Hilfe seines Bruders Jaroslaw konnte er bei der k. u. k. Turnau-Kralup-Eisenbahngesellschaft als Bahnhofschef und Magazinvorsteher unterkommen, um schließlich als Inspektor der böhmischen Nordbahn pensioniert zu werden.
Die Selbstbestätigung, die ihm im Beruf versagt blieb, verschaffte sich Josef Rilke nach Feierabend bei regelmäßigen Besuchen in den Cafés der Altstadt. Mit seinen gepflegten Umgangsformen und stets adrett gekleidet beeindruckte er die behüteten, höheren Töchter Prags.
So ließ sich auch die junge Sophie Entz, 1851 geboren, von seinen sorgsam einstudierten soldatischen Posen faszinieren. Von der Ehe mit dem dreizehn Jahre älteren Josef Rilke am 24. Mai 1873 machte sich wohl die 22-Jährige unrealistische Vorstellungen. Einige der von ihr 1900 unter dem Titel „Ephemeriden“ veröffentlichten Aphorismen lassen die Desillusionierung spüren, die Sophie Rilke schon bald erlebte, etwa: „Manche Trauung ist nur das Gebet vor der Schlacht.“
Sophie Rilke stammte aus einer angesehenen Prager Familie: Der Vater war Fabrikant und kaiserlicher Rat, ihre Mutter Caroline, die Tochter eines Fabrikanten für chemische Farben und Produkte. Die Familie Entz wohnte in einem aus der Barockzeit stammenden Haus in der Herrengasse in Prag.
Sophie, „Phia“ genannt, ein kleines, zartes Wesen, signalisierte allen, dass man sie vor allem Ungemach der Welt bewahren müsse.
In Wirklichkeit war ihre vermeintliche Schwäche nur eine Maske, hinter der sich eine starke und durchaus lebenstüchtige Persönlichkeit verbarg, die stets ihren Willen durchzusetzen wusste, wie z.B. ihre spätere Trennung von ihrem Mann nach elf Jahren Ehe, was im 19. Jahrhundert in bürgerlichen Kreisen ein durchaus schwieriger Schritt war.
Zur Kompensierung ihrer Enttäuschungen kultivierte sie dafür eine lebensabgewandte, in Ritualen erstarrte katholische Kirchenfrömmigkeit, die sich im zunehmenden Alter zu regelrechtem religiösen Fanatismus steigerte. Sie kleidete sich stets ganz schwarz, um den Anschein einer großen Dame zu erwecken, und litt unter meist eingebildeten Krankheiten.
Wenn Josef Rilke seine kapriziöse Gattin nicht mehr ertrug, machte er sich auf den Weg in die Altstadt. Der gemeinsame Sohn aber war den Launen seiner Mutter ausgeliefert.
Die Welt des kleinen Renés ist eng, bedrückend eng, räumlich wie seelisch.
Tagtäglich erfährt er die Unzufriedenheit seiner Eltern mit sich selbst, mit dem anderen und dem Leben, das sie führen. Besonders bedrückend empfindet er das aber, weil seine Mutter sich allein auf ihn konzentriert, ohne sich ihrer erzieherischen Verantwortung bewusst zu werden. Bedenkenlos verwickelt sie ihn in ihre religiösen Rituale, bei jedem Kirchenbesuch musste René „die Wunden Christi küssen“, die Mutter überträgt ihre hypochondrischen Befürchtungen auf ihn und sie hält ihn vom Kontakt mit Gleichaltrigen fern.
Rilkes Mutter behandelt ihren Sohn nicht als ein Wesen mit eigenen Gefühlen, Wünschen und Bedürfnissen, sondern als einen Teil ihrer selbst, als ein Objekt, in dem sie sich großartig gespiegelt sehen kann, wann immer sie das will und René erfüllt die Wünsche seiner Mutter, weil er abhängig von ihr ist. Er befürchtet zu sterben, wenn er ihre Zuneigung verliert.
Es gibt nur einen einzigen Bereich in dem René sich in seinen ersten zehn Lebensjahren ungehindert entfalten kann, wenn er seiner eigenen Fantasie freien Lauf lässt, da werden ihm von der Mutter keine Grenzen gesetzt.
In seiner Freude am Zeichnen erfährt er ihre Bestätigung, wie bei den gemeinsamen Träumen von einer vornehmen Herkunft der Familie, die bis heute nicht beweisbare adlige Herkunft.
In seiner frühen Begeisterung für Dichtung wird er ebenso bestärkt, wie in seinen eigenen dichterischen Versuchen.
Seine Mutter ermöglichte es ihm zweifellos, ein Gefühl für seine einzigartige sprachliche Begabung zu entwickeln und sie hat seinem Ziel, Dichter zu werden, immer positiv gegenübergestanden, wenn auch sicher nicht uneigennützig. Solange der Sohn mit ihr zusammen war, hatte sie in ihm einen Verbündeten, der ihre schöngeistigen Interessen teilte, anders ihr Mann, dem die Welt der Kunst zeitlebens nicht viel sagte.
Zum Weiterlesen: Erste Gedichte des Zwanzigjährigen, seiner Heimatstadt Prag gewidmet um 1895 „Im Alten Hause“, „Auf der Kleinseite“, „Der Hradschin“, „Frühling“ im Stil eines impressionistischen Jugendstils.
Diese Gedichte des Zwanzigährigen erschienen als zweiter Gedichtsband mit dem Titel „Larenopfer“. Der Titel symbolisiert die Volks- und Heimatverbundenheit der Texte, so wie die Römer den „Laren“, den Schutzgöttern der Familie und der Feldflur opferten, so bringt der junge Dichter seiner Vaterstadt Prag, der böhmischen Heimat und dessen Volk seine Werke als Gabe dar. Es sind Schilderungen Prags.
Als René in die von Piaristen geleitete, hauptsächlich von Söhnen des gehobenen deutschsprachigen Mittelstands besuchten „Deutschen Volksschule“ in Prag kam, änderte sich an den gefühlsmäßigen Verwobenheiten zwischen Mutter und Sohn nichts.
Obwohl der Schulweg nur wenig von der Wohnung entfernt ist, bringt sie ihren Sohn bis zum Schultor und holt ihn ebenso wieder ab.
Als Gegengewicht zum Schulfach Tschechisch bringt sie ihm Französisch bei.
Um diesem unheilvollen Einfluss seiner Frau etwas entgegen zu setzen, fängt der Vater an seinen Sohn mit den Erwartungen des gescheiterten Offiziers zu konfrontieren.
Er soll mit Hanteln trainieren, sich die Zeit mit Säbel, Helm und Bleisoldaten und durch Spiele, die einem Jungen angemessen sind, seine körperliche Konstitution verbessern. René bestens vorbereitet, elterliche Erwartungen zu erfüllen,