Mörderisches Taucha. Jürgen Ullrich
er noch, denn er wurde in seiner beruflichen Laufbahn doch schon einige Male zu Tatorten an diesen Fluss gerufen. Er war froh, dass das Verbrechen, welches ihn im letzten Jahr im Atem hielt, nicht in der Parthe endete. Man hatte den kleinen geschundenen und missbrauchten Mädchenkörper in einem Seitenarm der Mulde gefunden. Der Fall wurde vor allem dank Georgs aufopferungsvoller Arbeit schnell gelöst. Derartige Täter hatten keine Chance, unerkannt zu bleiben. Heute und im Moment war er nur Zuhörer, und er lauschte den Worten seines Freundes Jürgen Schulze, alias Nachtwächter Johann Christoph Meißner.
Agatha war bisher zurückhaltend der Gruppe gefolgt. Sie hatte Wasser und Brot, neben einer Taschenlampe, in der mitgebrachten Umhängetasche verstaut. „Das war eben eine gute Idee, die mit Brot und Wasser“, dachte sie sich. „Man fühlt sich doch damit gleich in die Kriminalgeschichte rein versetzt.“ Sie machte sich also mit den anderen dreißig „Gefangenen“, auf den Weg und genoss die prickelnde Stimmung, welche schon seit Beginn die Tour beherrschte. Agatha hing Jürgen Schulze förmlich an den Lippen. Sie schob ihren schmalen Körper in die erste Reihe, denn der abendliche Autolärm verschlang unwiederbringliche Wortfetzen. Auch Agatha schaute, wie vorher schon Georg Tandler, von der Brücke hinab zur Parthe. In Richtung Schöppenteich bildeten sich schon einige kleine Nebelschwaden über dem ruhig dahin plätschernden Fluss. Agathas Blick schweifte zu dem Platz auf dem früher das Café Sitz stand. „Tolle Wortkombination“, dachte Agatha, „das Café Sitz stand … hihi.“
Jürgen Schulze nahm den lächelnden Blick von Agatha wahr und erklärte ihr mit wenigen Worten den historischen Zusammenhang.
„Im Jahre 1929 wurde mit dem Bau und der Gestaltung des Großen Schöppenteichs begonnen. In unmittelbarer Nähe wurde auch gleich eine schöne Gaststätte errichtet. Das Gelände gegenüber der Sparkasse wurde im gleichen Jahr an den Pächter Albert Sitz verpachtet. Danach gab es viele Wechsel in der Bewirtschaftung bis das im Volksmund genannte „Café Sitz“, in den neunziger Jahren abgerissen wurde.“
Hier gleich rechts neben der Parthe war sie als junges Mädchen des Öfteren in eben diesem Café Sitz zum wochenendlichen Tanz aus Leipzig mit der Straßenbahn angereist und wurde dann weit nach Mitternacht per Fuß nach Hause gebracht. Das Städtchen hatte sie schon damals gemocht, nicht ahnend, dass sie hier einmal zu Hause sein würde.
Im Moment hielt sie aber die Parthenbrücke in ihrem Bann. Der Gedanke, dass hier auf der Brücke vor vielen Jahren ein Verbrechen sein Ende fand, ließ Agatha leicht frösteln.
IV. Johann Christoph Meißner – Nachtwächter der Stadt Taucha
„Natürlich muss ich mich ihnen erst einmal vorstellen. Mein Name ist Johann Christoph Meißner“, begann Jürgen Schulze seine Erzählung.
„Uff“, stöhnte er, schnaufte ein wenig. „Man ist nicht mehr der Jüngste. Und als Nachtwächter ist man auch ganz ordentlich gefordert.“ Er schaute sich um, sein Blick ging hinüber zur Sparkasse. „Was ist das für ein Haus? Das kenne ich doch noch gar nicht. Also früher, zu meiner Zeit. da stand hier nichts. Gar nichts. Wir wären bereits im Niemandsland außerhalb der schützenden Stadtmauern gewesen. Nur die Parthe, dieses ruhig dahinplätschernde Flüsslein, ja die waren schon immer hier. Obwohl, zu meiner Zeit waren da mehrere Flussarme und so ruhig wie heute floss der Fluss gar nicht. Ja früher …“ Er schaute sich noch mal um.
„1722. Das waren noch Zeiten. Ich, Johann Christoph Meißner, trat meinen Dienst als städtischer Nachtwächter an. Ich erinnere mich noch genau meines ersten Arbeitstages, als ich vom Hohen Rat der Stadt vereidigt wurde. Was war ich aufgeregt, als ich den Amtseid sprach:
Ich gelobe und schwere.
Das ich mich auf die wacht Zue rechter Zeit einstelle,
und bis 0 lassen:
Die Stunden jedmahls fleissig
und deudtlich ausrueffen.
Auch uff feuer, und Andern und dieberei
Gemeiner burgerschaft schaden, gute achtung geben.
Und mich eines Ehrn Vesten Raths gebott,
und anordnung Allenthalben gemeß,
und ehorsam lichen Verhalten will:
Auch melden, was ich melden solle: und schweigen,
was ich schweigen soll:
So wahr mir Gott helffe. Und sein heilig worth.
1764 kaufte ich ein kleines Häuschen in der Neustadt von Marie Biermann, geborene Zimmermann und verwitwete Schultzin und zahlte dafür 12 Schock. Das Schock war eine Rechnungsmünze und entsprach 60 alten silbernen Groschen, sogenannten Wilhelminern. Also bezahlte ich 7.200 Silbergroschen, für meine Zeit und für meine Verhältnisse eine recht ordentliche Summe, die ich gerade aufbringen konnte. Haus und Hof waren klein, aber für mich ausreichend. Zusammen bemaßen sie rund 3 Ruthen, das anliegende Gärtlein noch mal 5 Ruthen. Eine Ruthe sind nach heutiger Rechnungsweise etwa 4,3 qm. Haus und Hof maßen folglich etwa 13 qm, mein Gärtlein 22 qm.“ Der Nachtwächter schaute sich abermals um, fingerte lange in seinem Leinenbeutel herum, den er stets schräg über die Brust gehängt bei sich trug, und zog schließlich eine blecherne Flasche hervor. Umständlich und sehr vorsichtig entfernte er den Korken von der Flasche und trank dann ein paar Schlucke. Nachdem er sich mit einem Ende seines Umhanges die Lippen abgewischt hatte, verschloss er die Flasche sorgfältig und verstaute sie in dem unendlich großen Beutel.
„Trinken muss der Mensch schließlich. Bier? Wein? Nein, nein, das geht nicht. Das lässt meine Entlohnung nicht zu.
Wein ist ohnehin für die edlen Herrschaften der Stadt bestimmt. Zu teuer, obwohl es in der Umgebung feine Rebenberge gibt. Was in der Flasche ist? Wasser, klares Wasser mit einem Spritzer saurer Essenz. Gut gegen den Durst. Ja, bei einem Brandwein sage ich nicht nein. Am liebsten den von den wilden Pflaumen, die es vor den Toren der Stadt in Hülle und Fülle gibt. Der Brandwein wärme fein durch“, murmelt er, verschmitzt lächelnd „vor allem im Winter. Im Dienst trinke er sowieso nicht, dafür ist ihm sein Amt zu wichtig.“
„Nun würde es aber langsam Zeit. Pünktlich um halb sechs abends würden die Stadttore geschlossen. Das war Sache der Stadtwachen. Die zogen denn noch eine Schlussrunde durch die Stadt, um danach ihren Dienst zu beenden. Bis morgens um halb sieben. Da sperrten sie die Tore wieder auf und die Stadt begann zu pulsieren. Die Zeit dazwischen – ja, das ist dann meine Zeit. Die Zeit des Städtischen Nachtwächters.“
Irgendwie lag Genüsslichkeit in der Stimme Meißners. Berufsstolz? Berufsethos? Kannte Meißner solche Begrifflichkeiten überhaupt? Sicher nicht, aber Gewissenhaftigkeit und Ehrbarkeit. Das war er seinem Berufsstand schuldig. Schließlich war er so etwas wie Beamter auf Lebenszeit. Seine Diäten, vom Rat ihm zuerkannt und personengebunden (!), waren weit entfernt davon, als üppig zu gelten. Auch eine schmale Leibberentung war im sicher, wenn er mal nicht mehr konnte. Und wenn er mal krank würde? Das wäre dann eine Strafe Gottes. Aber Meißner wurde nicht krank. Nie. In seinen langen Nachtwächterdienstjahren fehlte er nur an 15 Tagen.
15 Tage in 47 Dienstjahren.
Meißner räkelte sich ein wenig. Die Herbstsonne freute ihn. Da waren dann auch die Nächte noch nicht so kalt.
Sein Dienst begann abends sieben Uhr.
Acht Mal hatte er Nachtens durch die Stadt zu gehen. Acht Mal. Immer die gleiche Route, vorbei an allen Stadttoren, die nachts umbesetzt waren. Zwischen ein Uhr und drei Uhr brauchte er nicht. Aber er ging trotzdem.
Nur das mit dem Singsang … also er sang nicht.
„Hört ihr Leute, lasst euch sagen, die Uhr hat eben …“ Nee, er, Johann Christoph Meißner sang nicht. Nie. Er hatte ja sein Horn. Und die Dienstvorschrift sah vor, er möge um acht Uhr abends und um halb sechs Uhr morgens laut vernehmlichem Signal geben.