Im Licht betrachtet. Bernd Berndsen

Im Licht betrachtet - Bernd Berndsen


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zu entschuldigen. Ein uniformierter Bahnbeamter tauchte auf, mein Gegenüber merkte, dass er das brennende Requisit noch in der Hand hielt, und kopfschüttelnd ging er in die Einfriedigung zurück.

      Ich schämte mich, dass ich unbeherrscht wie ein arger Kunstbanause dazwischengefahren war. Dann wurde mir an der Reaktion des Mannes bewusst, mit welchem Ernst er sein Spiel betrieben und wie sehr ihm meine Störung zugesetzt hatte. Chapeau, dachte ich erfreut und nickte anerkennend hinüber.

      Was für Menschen waren das, die da so einsatzfreudig und gewissenhaft am Werk waren. Welcher kreative und kunstsinnige Kopf hatte dieses Oeuvre ersonnen, wer hatte es in Szene gesetzt. Weltweit! Und völlig uneigennützig. Eintritt frei, keine Blechdose, kein Hut.

      Als ich im anfahrenden Zug langsam an ihnen vorbeifuhr, hob keiner von ihnen den Blick zu mir hinauf, so versunken waren sie in ihrem Spiel. Und du, sagte ich mir, du bist nicht dabei, weder hier noch in Bangkok. Ich fasste spontan den Entschluss: Ich habe noch nie geraucht, aber jetzt fange ich an, und dann überschreite ich die gelbe Grenze und trete ein in das Glashaus, und schon bin auch ich ein Lebenskünstler!

      Ich helfe gern. Auch im Haushalt. Ja, selbst da. Natürlich bei der einen Arbeit lieber als bei der anderen. Zur letzteren Art gehört das Einkaufen. Dabei bietet diese Beschäftigung durchaus mehrere Annehmlichkeiten. Sie schmutzt nicht, ich befinde mich immer im Trocknen oder im Schatten, einfühlsame Musik umschmeichelt mich, und manchmal treffe ich Bekannte. Und ich muss keinen Kittel tragen. Zudem bewege ich mich zwischen den Regalen sehr routiniert, gehöre nicht der Gruppe jener Männer an, die, den Einkaufszettel am angewinkelten Arm 40 cm vor der Brust, mit irrem Blick auf verzweifelter Suche nach einem Produkt durch die Gänge hasten, wobei sie ihren Einkaufswagen als Rammbock vor sich herstoßen und die Grundregel Rechtsvorlinks missachten. Nein, ich habe im Sektor Einkaufen schon so oft geholfen, dass ich weiß, wo Bunter Zuckerstreusel und Geriebener Emmentaler, Basmatireis und Papiertaschentücher ihren Platz haben.

      Meine Frau hat alles auf einen Zettel geschrieben, so wie es ihr eingefallen ist, teils der plötzlichen Eingebung, teils dem Zwang einer konkreten Mangelsituation folgend. Sie legt fest, ich führe aus.

      Wenn die Stunde des Aufbruchs für mich gekommen ist, nehme ich diesen kreuz und quer und in Blau, Schwarz und Rot schwungvoll beschriebenen sowie küchenmäßig angeschmuddelten Zettel und begebe mich in die Ruhezone meines Schreibtisches und ergreife einen makellosen weißen, glatten Bogen und schreibe alles noch einmal ab. Nicht weil mich der Fettfleck stören würde, nein, nein, ein Spießer bin ich nicht. Ich schaffe vielmehr Folgendes: Die ungeordnete Sammlung bringe ich in eine Ordnung. In ein sinnvolles, praktisches System. Einen Führer durch den Irrgarten des Konsums. Ein Navigationssystem für Konsumenten. D. h.: Ich schreibe Butter, Zucker, Milch und Mehl in der Reihenfolgeuntereinander, wie sie in meinem Supermarkt angeordnet sind, vom Eingang durch das rechtwinklige Labyrinth bis zu den Kassen. So etwas spart Zeit, schützt vor jenem lächerlichen hechelnden Herumhasten. Gibt Übersicht und Selbstbewusstsein. Ich bin abgesichert.

      So macht der Einkauf Freude. Ich arbeite das Programm ab, nicht überhastet, aber zügig, konzentriere mich auf die Vorgaben meines Zettels und bin stolz, auf diese Weise gegen alle Verführungen gewappnet zu sein, hier noch eine Tafel Edelbitter, dort zusätzlich eine mit Zimt verfeinerte Pflaumenmarmelade aufzuladen.

      Dann aber kommen Ort und Augenblick, die zu beherrschen mir nicht gegeben ist (zumindest noch bin ich nicht so weit): das Gelände vor den fünf Kassen. Wenn an jeder eine junge Dame ihr Werk verrichtet, ist alles gut. Und wenn ich dabei manchmal an einen jungen Mann gerate, der meine Einkäufe gezielt über den Scanner schiebt, enttäuscht mich das nicht, ich bin ja zum Arbeiten hier. Aber heute muss ich beim Einkurven in den Aufmarschplatz einmal wieder zur Kenntnis nehmen, dass die Lage an diesem kritischen Punkt just in diesen Minuten nicht unproblematisch ist, vielmehr sich krisenhaft zugespitzt hat. Nur die Kassen Nr. zwei und Nr. vier sind bestückt mit je einer Kassiererin. Also zwei Schlangen, lange Schlangen. Zu lang. Einen Rückzug in die Warteschleifen der bergenden Schluchten aus gestapelten Waschmitteln oder Feingebäck verbietet die Selbstachtung. Und dann ist es soweit. Die Kassiererin hinter Kasse zwei beugt sich vor, schätzt die Schlangenlänge und kommt zum gleichen Ergebnis wie ich: zu lang.

      Damit man mich richtig versteht: Nicht weil ich die mit der Ordnung auf meinem Zettel herausgeschlagenen sechs Minuten wieder verliere, ist sie mir zu lang. Das nähme ich gern in kauf, bliebe mir erspart, was nun zwangsläufig seinen Lauf nimmt von elektrisierender Unruhe bis zum explodierenden Chaos. Die Kassiererin nämlich ergreift noch im Zurücklehnen ihr Mikro, zieht es zu sich heran und spricht die bedeutungsschweren Worte „Kasse bitte!“. Alle sind mit einem Schlag hellwach. Wann kommt die dritte Kollegin? Aus welchem Gang kommt sie? An welche Kasse geht sie? Kundinnen und auch Kunden mit Einfallsreichtum und Routine dirigieren ihren Wagen in zentimeterkurzem Vor- und Zurückschieben um ein Stückchen zur einen Seite hinaus, und selbst stellen sie sich schräg neben das Gefährt auf die andere, sodass Hinterfrau und Hintermann nicht ohne Umweg schnurstracks an ihnen vorbeischießen können. Ein anderes bewährtes Mittel ist das Ausfahren der Ellenbogen durch Abstützen der Arme auf den Hüften. Wer noch jung oder einfach nur physisch stabil ist, verlässt sich auf sein Reaktionsvermögen, seine Schnelligkeit und Stoßkraft. Die Neue könnte ohne Umwege und -schweife einen der leeren Kassenplätze ansteuern und dort Platz nehmen. Sie bremst aber plötzlich ab und macht eine Kehrtwendung, um noch ein Wort zu wechseln mit einer ihrer beiden Kolleginnen. Unter uns hat der unübersichtliche Bewegungsablauf der jungen Frau mehrere zu Fehlstarts verleitet mit daraus resultierendem Rückstau, der zu kleineren Verwerfungen führt mit ersten Bodychecks. Aber da die im Rahmen des Unvermeidlichen bleiben, nimmt keiner übel, verteilt und erwartet niemand über beiläufig Gemurmeltes hinaus ernst gemeinte Entschuldigungen., Zumal der Blick alleweil nach vorn gerichtet bleibt. Bleiben muss. Konzentriert auf den Augenblick, da die da vorn sich setzt. Sie tut es. Das ist der Startschuss: In Drängen und Schieben, Stoßen und Stürmen explodiert die angestaute Energie im entschlossenen Kampf um einen der vorderen Plätze der neuen Reihe. Fast lautlos wird gekämpft, schweigend, aber verbissen. Auch du hast eine Chance, also los, nutze sie, sage ich mir. Aber ich bleibe mal wieder eher passiv, lasse mich unentschlossen stoßen, drängen, schieben, hierhin und dorthin. Autoscooterei. Nicht einmal auf dem Jahrmarkt mag ich das. Alten Mitbürgern und Kindern bleibt nichts, als den Kopf zwischen die Schultern zu ziehen, die Füße in den Steinfußboden zu bohren und den Griff des Einkaufswagens zu umklammern. Der zurückhaltende Mensch aus der Querstraße, mit dem ich in der vergangenen Woche so nett über Farbe und Duft der neuen Rosenzüchtung geplaudert habe, zieht mit dynamischem Antritt an mir vorbei. Auf der rechten Spur!

      Dieses Erdbeben dauert nicht länger als zwanzig Sekunden. Dann ist die Harmonie einer neuen Menschenkette nebst fahrbaren Vorsätzen aus entfesselten Urkräften geboren, die wir längst gebändigt wähnten. Den ersten da vorn im neuen Glied sehe ich auch von hinten die Freude darüber an, dass sie mit eigener Kraft das Wort umzusetzen vermochten, die Letzten würden die Ersten sein. Derweil pendelt ganz hinten das Nachbeben in gesittetem Aufrücken und friedlichem Ausgleich unterschiedlicher Längen der drei Stränge harmlos aus.

      Die Ordnung in meinem Wagen ist etwas derangiert, gewisse Verschiebungen zwischen Gemüse und Backwaren und das Türmchen aus Joghurtbechern ist eingestürzt, aber das kriege ich beim Aufsetzen auf das Laufband wieder hin.

      Ich trete ins Freie, die Sonne scheint in meinen gefüllten, übersichtlich gepackten Wagen, ich habe den Tumult ohne nennenswerten Schaden überstanden. Es ist schön, eine Aufgabe zur eigenen Zufriedenheit gelöst zu haben. Im Schutz des aufgeklappten Kofferraumdeckels reibe ich unauffällig in zart massierendem Auf und Ab die Stoßstelle am Steiß, es ist nicht arg. Voriges Mal der Schlag gegen den Hüftknochen war schlimmer, sogar ein kleiner Bluterguss. Oder im März die Abschürfung an der rechten Achillessehne nebst Loch im Socken.

      Statistisch gesehen, habe ich nun 4,7 Einkäufe ohne Turbulenzen vor mir. Und dazugerechnet werden kann, dass meine Frau so ungefähr jeden fünften Einkauf tätigt.

      Doch, ich helfe gern.

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