Art of Fake.. Zulehner Christoph

Art of Fake. - Zulehner Christoph


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      Mir passte das ganz und gar nicht. Selbstverständlich wollte ich den Ansprechpartner, der mich so überzeugt hatte, jetzt auch behalten.

      Also sagte ich: „Herr Stangl, das können wir doch miteinander besprechen.“

      „Das darf ich leider nicht“, entgegnete er. „Ich bin noch in der Ausbildung.“

      Selten war ich so überrascht. Beinahe hatte ich schon beschlossen, bei diesem kompetenten Verkäufer zukünftig alle meine Autos zu kaufen. Und dann entpuppte er sich als Lehrling. Herr Stangl hatte das Verkaufsgespräch nur geführt, weil die wirklichen Verkäufer zu Tisch waren. Was für ein cooler Faker!

      BELLA FIGURA MIT SCHLOTTERNDEN KNIEN

      Seit der Spätphase der Industriegesellschaft spielen Spezialisierung und Expertentum eine so zunehmend große Rolle, dass an der Kulturtechnik des Fakes kaum noch jemand vorbeikommt. Es gibt nur noch wenige Wirtschaftszweige, in denen Einsteiger Fuß fassen könnten, ohne zumindest ein wenig zu faken. Im Kundenkontakt ist der Fake ohnehin längst Pflicht. Der Kunde erwartet überall den Experten, den Profi, den kompetenten Berater. Je unübersichtlicher das Angebot, desto mehr zählt Beratung zur Kernleistung. Mehr noch: Die Kombination aus Dienstleistung und tangiblem Produkt wird zum Standardfall. Doch wer kann mit 18 oder 20 Jahren schon ein mit allen Wassern gewaschener Branchenguru sein? Zumal, wenn das Wissen in fast jeder Branche immer schneller veraltet und das in der Ausbildung Gelernte bereits nach wenigen Jahren wertlos ist? Der Markt verlangt heute von den Repräsentanten eines jeden Unternehmens, dass sie gegenüber dem Kunden Bella Figura machen – und sei es mit schlotternden Knien.

      Vielleicht hatten Sie ja nach der Lektüre der ersten drei Faker-Geschichten in diesem Buch den Eindruck, dass der Fake das Erfolgsgeheimnis einer Clique der Supererfolgreichen ist: der Weltunternehmer, der Sportstars, der Paradiesvögel der High Society. Das ist der Fake ganz sicher auch. Doch längst ist er eine unerlässliche Kernkompetenz für alle, die in einer sich immer schneller wandelnden Arbeitswelt überhaupt einen Job haben und produktiv sein wollen. Für einen Johannes Stangl, seinerzeit Lehrling in einem Autohaus in Oberösterreich, gelten genau die gleichen Erfolgsprinzipien wie für einen Elon Musk, den Gründer von Tesla Motors, der wie aus dem Nichts mit Elektroautos reüssierte und damit eine ganze Branche das Fürchten lehrte.

      In meinem früheren Buch „Make the Fake: Warum Erfolg die Täuschung braucht“ erkläre ich diese Zusammenhänge ausführlich. Darin erzähle ich auch die Geschichte, wie der 17-jährige Krankenpflegeschüler Christoph Zulehner einst zum Faker wurde: Während meiner ersten Nachtwache im Krankenhaus, bei der ich allein für 35 Patienten zuständig war, kollabierte prompt eine Patientin – und mir blieb nichts anderes übrig als der Fake. Ich tat so, als ob Reanimation für mich eine tägliche Routine sei. Ähnlich wie Butter aufs Brot streichen oder Kamillentee in Schnabeltassen gießen. Ich gebe zu, dass meine Sympathie für den Lehrling Johannes Stangl auch etwas mit dieser biografischen Parallele zu tun haben könnte. Allerdings gibt es einen Unterschied zwischen den jugendlichen Fakern Stangl und Zulehner: So etwas wie meine damalige Aktion bezeichne ich heute als einen „unbewussten Fake“. Stangl war hingegen schon sehr viel näher am „bewussten Fake“.

      Ein unbewusster Faker hat Vertrauen in sich selbst; ein bewusster Faker gibt zusätzlich ein Versprechen an sich selbst ab. Als während meiner ersten Nachtwache eine sehr nette ältere Dame beschloss, ihre Herztätigkeit einzustellen, rutschte mir nicht nur das Herz in die Hose, sondern mir blieb auch kaum eine andere Wahl, als beherzt zu handeln. Ich traute mir das zu und tat etwas, das ich als Lehrling eigentlich noch nicht durfte. Das war bei Johannes Stangl genauso. Mit dem Unterschied, dass er leichter hätte kneifen können. Er hätte zum Beispiel das tun können, was in vielen Autohäusern ohnehin geschieht: den potenziellen Kunden, der da ohne Termin hereinschneit und um die ausgestellten Fahrzeuge schleicht, einfach ignorieren. Selbst wenn ich ihn angesprochen hätte, wäre es ihm ein Leichtes gewesen, den Fake zu vermeiden. Er hätte sagen können, dass die Verkäufer zu Tisch seien und ich mich bitte gedulden solle, bis sie zurück sind. Selbst wenn er mir eine Tasse Kaffee angeboten und mir ein paar Prospekte gereicht hätte, wäre er auf dem sicheren Boden dessen geblieben, was er als Auszubildender sollte und durfte. Aber Herr Stangl wollte es wissen. Sein Versprechen an sich selbst lautete: Ich zeige dem Kunden jetzt schon, was ich einmal können möchte. So gut es geht. Obwohl ich es noch nicht darf. Nicht um den Kunden zu täuschen, sondern weil ich es sonst vielleicht nie lerne.

      „ICH LERNE NOCH“ – WER EIGENTLICH NICHT?

      Es hätte nur ein winziges Detail am Outfit von Johannes Stangl anders sein müssen und sein mutiger Fake wäre ihm unmöglich gewesen. Ahnen Sie, was ich meine? Bestimmt sind Sie als Kunde irgendwo schon einmal von einem jungen Menschen bedient worden, der einen Anstecker mit dieser Aufschrift trug: „Ich lerne noch.“ Was macht ein solcher Anstecker mit Ihnen als Kunde? Keine Frage: Er schraubt Ihre Erwartungen auf die Höhe der Auslegeware herunter. Sie glauben sofort zu wissen: Der kann noch nichts – und der wird deshalb auch nichts für mich tun können. Vielleicht geben Sie dem Lehrling dennoch eine kleine Chance, einfach weil Sie ein fairer, höflicher und geduldiger Mensch sind. Aber selbst dann wünschen Sie sich insgeheim, dass Ihr Ansprechpartner bald von einem erfahrenen Kollegen abgelöst wird.

      Johannes Stangl konnte unerkannt faken, weil er ein Namensschild trug wie alle anderen Mitarbeiter. Darauf stand lediglich: „Herr Stangl“. Er fakte insofern bewusst, als er sich zu Beginn des Verkaufsgesprächs noch nicht als Lehrling zu erkennen gab. Sicher, er sah sehr jung aus. Doch die Lebenserfahrung lehrt: Es gibt 16-Jährige, die aussehen wie 26 – und 26-Jährige, die aussehen wie 16. Ich jedenfalls zweifelte keine Sekunde an Herrn Stangl. Weder an seiner Fachkompetenz noch an seiner Berechtigung, mir ein Auto zu verkaufen. Am Ende kaufte ich nicht nur einen neuen Geschäftswagen, sondern wurde Stammkunde in diesem Autohaus. Das bin ich übrigens bis heute. Die Grundlage dafür hat Herr Stangl gelegt. Getreu dem Motto: Es gibt keine zweite Chance für einen ersten Eindruck. Ob ich einem Lehrling mit dem Anstecker „Ich lerne noch“ einen Satz wie „Rechnen Sie in der Praxis mit etwa 7,5 Litern Verbrauch“ geglaubt hätte, ist dagegen sehr fraglich. Selbst das zartest aufkeimende Flämmchen fachlicher Autorität erstickt dieser Anstecker doch sofort wieder.

      Trotzdem habe ich den Eindruck, dass solche Buttons bei Arbeitgebern gerade immer beliebter werden. In meinen Augen ist das ein Unding. Und dies nicht allein wegen des Paradoxons, dass in Zeiten immer kürzerer Halbwertzeiten des Wissens so gut wie alle arbeitenden Menschen noch, wieder oder jetzt erst recht lernen. „Ich lerne noch“ – wer eigentlich nicht? Schlimmer noch als dieser Denkfehler ist, dass der Kunde durch den Kennzeichnungsirrsinn um einen Gesprächspartner auf Augenhöhe betrogen werden soll. Der informierte, zumindest jedoch der vorinformierte Kunde ist im Internetzeitalter nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel. Auch ich wusste, bevor ich Herrn Stangl begegnete, schon einiges über die Modelle von VW und Audi. Der Konfigurator, den ein Autoverkäufer nutzt, unterscheidet sich ja nicht einmal von dem, der auch dem Kunden online zur Verfügung steht. Ich wäre maßlos enttäuscht gewesen, keinem echten Fachmann zu begegnen, der mein Vorwissen vertieft und ergänzt.

      Wenn ich einen Anstecker mit der Aufschrift „Ich lerne noch“ sehe, dann denke ich mir: Na ja, da kenne ich mich dann wahrscheinlich besser aus als der. Manchmal stimmt das ja tatsächlich. Wer als Vielreisender ständig Autos mietet, der dürfte die einzelnen Schritte des Anmietvorgangs und die Optionen – wie Versicherungsschutz, Winterreifen und so weiter – besser kennen als ein Lehrling in der Autovermietung an seinem ersten Tag. Bei einem gekennzeichneten Auszubildenden denke ich nur: Hoffentlich hält der mich jetzt nicht zu lange auf! Und der Lehrling? Der kann, gekennzeichnet wie tropisches Obst, eigentlich gar nicht anders, als befangen zu sein: Ich lerne noch, ich kann noch nichts, alle sehen es – also ist es auch so. Eine klassische sich selbst erfüllende Prophezeiung. Im besten Fall wird der Lehrling hoffen, dass der Kunde besonders nett zu ihm ist. Im schlechtesten Fall wird er sich sagen: Ich habe das Recht, keine Ahnung zu haben – es sieht ja eh jeder, also soll sich auch keiner beschweren. Eine Chance, sich zu beweisen, bekommt er so oder so nicht.

      KENNZEICHNEN SIE GEFAHRGUT, ABER NICHT


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