Letzte-Hilfe-Kurs. Martin Prein

Letzte-Hilfe-Kurs - Martin Prein


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meinen Forschergeist zu beschäftigen begann: die Reaktionen auf meinen Beruf. Ein Bestatter kommt ja auch mit anderen Berufsgruppen in Kontakt, mit Einsatzkräften, Pflegepersonal, Ärzten, Polizisten etc. Dabei nahm ich sehr bald wahr, dass viele auf uns mit einer vorsichtigen Distanz bis hin zu unverhohlener Abscheu reagierten. Aus den Gesichtern ließ sich regelrecht ablesen: „Ihr komischen Typen, die ihr die Toten holt, wer weiß, was ihr für welche seid …“

      Immer wenn es um geheimnisvoll anmutende oder mit einem Tabu belegte Berufe geht, entstehen Mythen und Geschichten, die an der Wirklichkeit weit vorbeigehen. Ich wollte dem entgegenwirken, indem ich aktiv auf die Leute zuging. Wenn sie wüssten, was ein Bestatter eigentlich macht, würden sie sich vielleicht ein wenig leichter mit uns tun, war meine Überlegung. Es war mir ein Bedürfnis, unseren Beruf und alles, was dazugehört, „sichtbarer“ zu machen, um dieser Scheu ein wenig die Basis zu entziehen. So lud ich diese Berufsgruppen ins Bestattungsinstitut ein, um ihnen tiefere Einblicke zu geben. Die meisten sind meiner Einladung gerne gefolgt.

      Und wieder passierte etwas sehr Interessantes, mit dem ich nicht gerechnet hatte: Ich gestaltete die Besuche immer so, dass wir uns zuerst in der Aufbahrungshalle zusammensetzten und ich aus dem Berufsalltag erzählte. Wie wir da so saßen, waren wir uns immer alle einig und nickten uns gedankenschwer zu: „Ja, der Tod gehört zum Leben, die Gesellschaft verdrängt den Tod – aber wir nicht!“ Danach ging es in den Keller und ich zeigte den Besuchern das Sarglager, unseren Obduktionsraum und natürlich den Kühlraum, wo die Leichen aufbewahrt werden. Wenn wir in diesem Kühlraum standen, vor den vielen Türen zu den Kühlfächern, unterlegt vom Surren des Kühlaggregats, dem intensiven Desinfektionsmittelduft und einem Verdacht von Leichengeruch, wurde dieses zuvor in der Aufbahrungshalle geäußerte „der Tod gehört zum Leben“ plötzlich wackelig – ausgelöst durch das Moment der räumlichen Nähe zu den toten Körpern. Das erstaunte mich, und ich sagte den Pflege- oder Einsatzkräften: „Na ja, ihr habt ja auch mit Verstorbenen zu tun, ihr müsst mit den Toten umgehen.“ In den Gesprächen kam dann heraus, dass die direkte und unmittelbare Begegnung mit dem Leichnam doch noch einmal eine andere Nummer ist.

      „Die Bewohner im Sterben zu begleiten, das geht“, hörte ich oft von Pflegekräften. Natürlich sei das schon eine große Herausforderung, aber das Thema Palliativtherapie und Hospiz sei mittlerweile gut in Aus- und Fortbildungen verankert. Aber, so der typische Nachsatz: „Hoffentlich stirbt niemand, wenn ich Nachtdienst habe.“ Womöglich in der ersten Nachthälfte, wenn die Leiche erst am Morgen abgeholt wird. Der Tote hinten im Zimmer ist dann doch eine Herausforderung. Erst diese Gespräche über die Begegnung und den Umgang mit dem toten Körper öffneten mir die Augen. Denn uns Bestattern ist das in Wahrheit ja auch nicht immer egal, legen wir doch auch die eine oder andere Bewältigungsstrategie an den Tag.

      Mittlerweile hatte ich mein Studium beendet und konnte auch aus wissenschaftlicher Sicht an den Leichnam herantreten, konkreter an das psychologische Phänomen: Was macht der tote Körper eigentlich mit uns Lebenden? Auf der Suche nach Antworten war es ganz interessant, dass der Leichnam in unserer gegenwärtigen Kultur gleichsam nicht existiert. Er ist nahezu unsichtbar und wird relativ rasch dem Blickfeld der Lebenden entzogen. Vielleicht können sich die Betroffenen im Altersheim, im Krankenhaus noch verabschieden, je nachdem, wie es in der jeweiligen Institution gelebt wird. Und alles, was die Hinterbliebenen dann noch haben, sind Pfarrer, Sarg und Friedhof. Dazwischen ist es meistens finster, die Leiche liegt buchstäblich im Dunkeln.

      Was ich besonders erstaunlich fand: Der Leichnam kommt in den Sozialwissenschaften und auch in der Psychologie kaum vor. Es gibt tonnenweise Arbeiten und Literatur zum „Vorher“ – zu den Themen Palliativ, Hospiz, Sterbebegleitung und allem, was dazugehört. Und zum „Nachher“, der Trauer. Aber für diesen kleinen Ausschnitt dazwischen, der Begegnung mit dem Körper gewordenen Tod und was er mit uns macht, gab es so gut wie nichts. Und so beschloss ich: Dann mache ich etwas. Ich meldete mich an der Universität für das Doktorat an. Eine Feldforschung, in deren Rahmen ich mir in drei Bundesländern über ein paar Jahre hinweg die sogenannten Leichenberufe näher ansah: Bestatter und Obduktionsassistenten („Kellerprimare“)2. Meine Arbeit ist mit der eines Ethnologen beziehungsweise Soziologen, der sich in eine bisher unerforschte, fremde Kultur begibt, vergleichbar. In diesem Forschungsfeld interessierte mich: Was machen diese Berufskräfte mit dem Leichnam? Aber noch viel interessanter war zu ergründen: Was macht der Leichnam mit ihnen?

      2011, einige Monate nach dem Besuch einer Rettungsorganisation im Bestattungsinstitut, meldete sich deren Leiter bei mir. Er sagte, der Einblick ins Bestattungswesen habe seinen Mitarbeiterinnen aus dem Rettungs- und mobilen Pflegedienst gut gefallen und vor allem für ihre Arbeit sehr viel gebracht. Er fragte mich, ob ich nicht für sie ein Tagesseminar im Sinne einer Fortbildung veranstalten könnte. Ich entgegnete, dass ich keine Ahnung hätte, was ich einen Tag lang tun beziehungsweise was ich eventuellen Teilnehmerinnen anbieten sollte. Doch der Leiter blieb hartnäckig und ich stimmte letztendlich zu, entwickelte ein Konzept.

      Das Seminar kam zu meiner Freude, aber auch zu meiner Verwunderung, sehr gut an. Daraufhin traute ich mich, es auch anderen Organisationen anzubieten. Ich konzipierte einen Flyer, nannte das Seminar „An der Seite der Toten“ und kontaktierte vornehmlich Berufsgruppen, welche in ihrer Tätigkeit sehr intensiv mit dem Tod in Berührung kommen, die mit dem Leichnam und in einem ersten Moment mit den hinterbliebenen Angehörigen umgehen müssen. Das Seminar stieß sehr rasch auf reges Interesse. Ich machte mich selbstständig, arbeitete aber zunächst nebenher immer noch in einer Bestattung.

      Sehr schnell lud man mich auch zu Abendvorträgen in Gemeinden ein, wo ich vor einer interessierten Öffentlichkeit referieren durfte. Nach solchen Vorträgen kamen dann immer viele Zuhörerinnen zu mir und meinten: „Das, was du da erzählst, muss man einmal gehört haben, das braucht ja jeder!“ Und sie sagten, sie würden auch ein Tagesseminar absolvieren wollen. Anfangs winkte ich immer ab, denn das Seminar war in erster Linie für die genannten Berufsgruppen gedacht. Doch die Nachfrage wurde immer größer, und es war klar, ich musste ein Seminar für alle Interessierten anbieten. Doch dafür musste ein anderer Seminartitel erdacht werden: So entstand der „Letzte-Hilfe-Kurs“.

      Dass wir alle einen Erste-Hilfe-Kurs brauchen, ist klar und wird kaum in Abrede gestellt. Auch wenn es gar nicht so unwahrscheinlich ist, dass man das darin Erlernte nie in seinem Leben anwenden muss. Aber, so mein Argument: Einen Letzte-Hilfe-Kurs brauchen wir zu hundert Prozent. Denn es kann gar nicht sein, dass man mit dem Thema Tod nicht konfrontiert wird. Weil man im eigenen Familienkreis geliebte Menschen an den Tod verliert oder Mitmenschen, die einen schweren Verlust zu betrauern haben, begegnet. Wir können überall auf akut Trauernde treffen: die beste Freundin, deren Bruder sich kürzlich das Leben nahm, der Nachbar, dessen Frau vor wenigen Tagen verstarb, die Arbeitskollegin, deren Sohn einen tödlichen Unfall hatte. Und wir begegnen ihm nicht erst irgendwann vielleicht einmal, sondern oft sogar täglich.

      Ich bezeichne mich übrigens nicht als Psychologe oder Bestatter, sondern als Thanatologe. Die Thanatologie versteht sich als die Wissenschaft vom Tod, Sterben und von der Bestattung in ihren soziologischen und psychologischen Aspekten. Es handelt sich um kein eigenes Studienfach. Immer, wenn sich Sozial- oder Kulturwissenschaftler intensiv damit forschend und lehrend beschäftigen, kann man das als Thanatologie beziehungsweise diese als Thanatologen bezeichnen. Folgen Sie mir in die Welt des Letzte-Hilfe-Kurses. Ich hoffe sehr, dass Sie für sich vieles mitnehmen können – einfach nur, weil wir Menschen und vor allem Mitmenschen sind.

      Dazu darf ich Sie gleich zum Leichnam hinführen, den wir mit mindestens zwei Brillen betrachten können. Die erste ist die rational-sachliche, die biologisch-medizinische: Wann ist überhaupt jemand tot? Ich möchte Sie aber einladen, zunächst die andere Brille aufzusetzen, die phänomenologisch-psychologische: Was macht der tote Körper mit uns Lebenden? Diese Brille ist notwendig, um uns und andere in der Begegnung mit dem konkreten Tod voller Verständnis betrachten zu können. Um schon eine erste Spur zu legen, was damit gemeint sein könnte: Manche kennen das Gefühl, dass man ganz anders in einen Raum hineingeht, in dem ein Verstorbener liegt. Viel ruhiger, leiser, andächtiger.

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