Bilanz einer Lüge. Christopher Stahl

Bilanz einer Lüge - Christopher Stahl


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das nicht. Schließlich warst du mal ihr Chef. Und du mischst dich ungefragt in Mandantengespräche oder deren Probleme ein. Dabei greifst du nicht nur in meine Kompetenzen ein. Nein, du bist auch fachlich nicht mehr auf der Höhe. Das kann ja auch niemand mehr von dir verlangen. Aber etwas Zurückhaltung wäre sinnvoll und angebracht, wenn du nicht ausdrücklich um deine Meinung und deinen Rat gebeten wirst.”

      Ich schüttelte den Kopf. Ich und Einmischen, wann sollte denn das gewesen sein?

      „Doch, es ist so. Ganz konkret: Du gibst Hinweise, die nicht mehr im Einklang mit der neuesten Rechtsprechung stehen. Es mag ja sein, dass du dir dessen nicht bewusst bist – aber das macht es nicht besser. Du hast dich letzte Woche in Alzey mit Klaus Köhler unterhalten. Dabei hast du ihm etwas von Ansparrücklage erzählt und ihn ganz kirre gemacht. Er war eben bei mir, um sich zu beschweren, dass wir ihn nicht darauf aufmerksam gemacht hätten. Darius, die Ansparrücklage, wie du sie kennst, gibt’s seit 2007 beziehungsweise 2008 nicht mehr.”

      Ich konnte mich nicht mehr an alle Einzelheiten des Gespräches erinnern. Gut möglich, dass ich etwas in dieser Hinsicht erwähnt hatte. Aber das war doch nur eine Nebenbemerkung. Aus einem Gespräch heraus ohne Beratungshintergrund. Klaus Köhler hatte auch nicht den Eindruck vermittelt, dass diese Sache bei ihm auf größeres Interesse gestoßen war.

      Carlo fuhr fort: „Und nicht nur bei den Mandanten fällt das auf, auch die Mitarbeiter sind irritiert. Ich muss dann die Kohlen aus dem Feuer holen und deine Fehler korrigieren, ohne dich in die Pfanne zu hauen. Auf Dauer geht das aber nicht. Mir fallen nämlich langsam keine glaubwürdigen Ausreden mehr ein. Die Konsequenz ist, dass du drauf und dran bist, den Respekt, den du dir in jahrelanger Arbeit zu Recht erworben hast, zu verspielen. Und das hast du nun wirklich nicht verdient.”

      Sein Tonfall war keinesfalls anklagend oder vorwurfsvoll. Er war väterlich, verständnisvoll. Es wäre mir anders lieber gewesen, denn so verpuffte meine kurz aufkeimende Empörung und löste sich in Luft auf. Dennoch – ich war beunruhigt und wollte seinen Vorwurf nicht stoisch und ohne Diskussion akzeptieren.

      „Bist du nun fertig?” erwiderte ich. „Wenn ich ein derartiger Störfaktor bin, weshalb hast du dann nicht schon früher etwas gesagt?”

      Carlo ging nicht auf mein Ablenkungsmanöver ein. Ich hatte auch nicht wirklich damit gerechnet, dass er auf diesen uralten Argumentationstrick, den Ankläger zum Mitbeklagten zu machen, reinfallen würde.

      Stattdessen blieb er sachlich: „Ich mache dir einen Vorschlag.”

      „Soll ich das Archiv aufräumen?”

      Er ging nicht direkt auf meine zynische Bemerkung ein.

      „Hör doch einfach zu. Du wirst sehen, dass uns beiden damit geholfen ist. Es handelt sich um eine merkwürdige Geschichte. Dafür bist du genau der Richtige.”

      „Also, um was geht es?”

      „Es geht um Gero Arnold. Da tun sich merkwürdige Dinge. Da stimmt etwas nicht. Die ganze Sache stinkt und er ist nicht in der Lage, sich zu helfen.”

      Gero Arnold wohnte in Siefersheim. Direkt neben der Druckerei BEWAG GmbH, die er seit seinem 30. Geburtstag führte und die er von seiner Mutter übernommen hatte. In den 50er Jahren hatte sie einen kleinen Betrieb, in dem sie das Druckerhandwerk gelernt hatte, übernommen und zu einem florierenden Unternehmen entwickelt. Die Bedeutung der Firmierung hatte sie stets geheim gehalten. Zeitweise hatte sie mehr als 100 Mitarbeiter beschäftigt. Im laufenden Jahr waren durchschnittlich nur noch 30 Personen beschäftigt, was vor allem auf den hohen Automatisierungsgrad zurückzuführen war. Die Angebotspalette der BEWAG GmbH erstreckte sich von Visitenkarten über Briefpapier bis hin zu Prospekten. Aber auch Bücher produzierten sie, für Book on Demand- und Selbstverlage.

      Im Jahr 2005, Geros Mutter Gisela arbeitete noch jeden Tag vier Stunden im Betrieb mit, hatte sie festgestellt, dass sich ihr Gedächtnis dramatisch verschlechterte. Vor allem das Kurzzeitgedächtnis. Dadurch war es zunehmend zu Fehlern in der Disposition, die man der Seniorin allerdings nicht nachtrug, gekommen.

      Die Diagnose eines Neurologen hatte ihre Vermutung bestätigt: Demenz im Anfangsstadium. Mit der ihr eigenen Mischung aus intuitivem Realitätssinn und unerbittlicher Konsequenz, mit der sie das Unternehmen geführt und auch ihren Sohn erzogen hatte, hatte sie auch ihre eigene Zukunft geregelt. Solange sie noch „alle Murmeln beisammen” hatte, wie sie selbstironisch bemerkt hatte, wollte sie autonom über ihr Leben entscheiden. Dreizehn Kilometer entfernt von ihrer langjährigen Wirkungsstätte war sie in ein Seniorendomizil in Bad Münster am Stein gezogen. Vor drei Jahren war sie gestorben.

      Doch einige Monate nach ihrem Umzug in das Seniorendomizil, so erfuhr ich nun von Carlo, war es zu Entwicklungen gekommen, die inzwischen ein Stadium erreicht hatten, welches auf kriminelle Machenschaften deutete. Ob eventuell außer dem zeitlichen auch ein sachlicher Zusammenhang mit dem Umzug von Gisela Arnold bestehen könnte, fragte ich mich spontan. Aber wie sollte das zusammenhängen?

      Ich hatte mich inzwischen gesetzt. Meine Neugierde war nun doch geweckt. Auch Carlo hatte wieder hinter seinem Schreibtisch Platz genommen. Wie so oft staunte ich über seine perfekte Ordnung. Wie schaffte es ein normaler Mensch nur, eine derart akribische Architektur seiner Unterlagen aufzubauen? Wohl ein Relikt aus seiner Zeit beim Finanzamt, beruhigte ich mein aufkeimendes schlechtes Gewissen.

      Zielsicher zog er eine blaue Mappe aus einem der Aktenstapel und öffnete sie. Er entnahm das oben aufliegende Schriftstück. Dabei schilderte er, dass er schon seit einiger Zeit einen ungewöhnlichen Umsatzrückgang in der Druckerei von Gero Arnold registriert hätte. Aber Arnold habe stets plausible Gründe dafür genannt. Mal war es in langjähriger Großkunde, der seinen Betrieb aufgegeben hatte. Mal war ein potenzieller Neuauftrag geplatzt, weil die Konkurrenz ihn, trotz engster Kalkulation, unterboten hatte. Dann wieder hatte ihm ein wichtiger Mitarbeiter gekündigt, der nur schwer zu ersetzen war. Zudem war es wegen unterschied­licher Dinge zu anonymen Anzeigen gekommen, deren Abwehr Zeit und Kosten verursacht hatte.

      Vorige Woche endlich hatte Gero Arnold Carlo um ein vertrauliches Gespräch gebeten. Auch ich sollte nicht über den Inhalt informiert werden. Gestern hatte er jedoch auf Drängen von Carlo meiner Einschaltung zugestimmt.

      „Du sprichst von den anonymen Anzeigen wegen Steuerhinterziehung, Zollvergehen und Schwarzarbeit? Ich dachte, das hättest du geklärt.”

      „Nein, die rechtliche Seite ist geklärt. Da war nichts dran. Aber was noch im Raum steht ist, dass hinter den anonymen Beschuldigungen irgendjemand stecken muss. Und diese Person oder Personengruppe wird ja wohl etwas damit bezwecken wollen. Ich vermute Wirtschaftskriminalität oder etwas Ähnliches. Vielleicht aber auch Erpressung.”

      „Das heißt, wir haben es mit einem kriminellen Motiv zu tun. Entweder ist die BEWAG GmbH im Fokus oder aber Gero Arnold persönlich. Im Klartext: Da will jemand das Unternehmen in Misskredit bringen. Vielleicht, um es zu ruinieren, damit es dann billig übernommen werden kann?”, spekulierte ich.

      „Oder es geht ausschließlich um Gero Arnold? Man will ihn verunsichern, um ihn für irgendetwas weich zu klopfen?”, spielte Carlo den Ball weiter.

      „Wobei das eine das andere nicht ausschließt. Klingt nach einer verzwickten Angelegenheit.”

      „Also hatte ich recht: Genau das Richtige für dich. Etwas Abwechslung wird dir gut tun!”

      „Hat Arnold denn eine Vermutung geäußert, wen er als diesen dubiosen Jemand vermutet?”

      „Mmhm”, Carlo machte es spannend, „du kennst ihn auch.”

      „Das Sandmännchen? Peter Pan?” Seine Verzögerung empfand ich als unangemessen. Außerdem sind solche Albernheiten in der Regel mein Part. „Sag schon!”

      „Dieter Knober. Sein ärgster Konkurrent.”

      „Mit seinem Vater Sigurd hatte Frau Arnold doch über viele Jahre Streit. Weißt du eigentlich, worum es dabei ging? Mir hat sie nie etwas gesagt, obwohl ich sie mehrmals darauf angesprochen habe.”

      „Nein. Noch nicht einmal ihr Sohn kennt die Hintergründe. Er vermutet etwas


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