St. Pauli, meine Freiheit. Sieghard Wilm

St. Pauli, meine Freiheit - Sieghard Wilm


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lernten fürs Leben: Auf den Bauernhöfen entledigte man sich der unliebsamen, bettlägerigen Eltern manchmal dadurch, dass in einer kalten Winternacht die Fenster weit aufgerissen wurden. Am kommenden Morgen war der Körper kalt. Mir lief ein Schauer über den Rücken, wenn Mutter sowas erzählte. Aber ich bewunderte sie auch dafür, dass sie es aushielt mit dem körperlichen Gestank und dem Dreck, die sie ertrug, weil sie das Menschliche liebte. Ich war stolz auf meine Mutter, weil sie alltäglich getan hat, was sie glaubte. Nicht viel reden, sondern tun – das war meine Mutter.

      Bald waren wir Kinder in der Sozialstation häusliche Sekretäre. Unsere Haustür war nicht mal abgeschlossen und es passierte, dass eine muffig riechende Alte in Kittelschürze plötzlich im Hausflur stand und meine Mutter sprechen wollte, die gerade auf den Dörfern unterwegs war. Dann habe ich einen Sessel angeboten, Getränke gereicht und ein höfliches Gespräch gesucht – und gehofft, dass meine Mutter bald wiederkommt.

      Meine Eltern haben sich geliebt. Meine Mutter hat sonntags meinem Vater immer die Kleidung bereitgelegt. Er wäre gar nicht in der Lage gewesen, sich eine passende Krawatte zum Anzug auszusuchen. Aber ich habe meinen Vater niemals im Haushalt helfen sehen. Einige Male hat er Bratkartoffeln mit Zwiebeln und Eiern gemacht. Sonst kam er abends müde und nach Benzin riechend von der Arbeit nach Hause und erwartete, bedient zu werden. Meine Mutter hat die Hausarbeit und das Kochen niemals gerne gemacht. Dabei war sie oft übellaunig. Sie fand ihre Erfüllung in ihrem Beruf als Krankenschwester.

      Meine Eltern wollten eine Familie schaffen, die sie sich selbst als Kinder gewünscht hätten. Der eigene Erwartungsdruck muss für meine Mutter ganz besonders hoch gewesen sein. Ich erlebte sie als Kind meistens als eine starke, selbstbeherrschte Frau, die stolz war, alles im Griff zu haben und zwar immer zack zack. Dann aber konnte es passieren, dass sie ausbrach wie ein Vulkan. Sie konnte sich in einem Moment komplett vergessen und von einem Anfall von Jähzorn gepackt werden. Als Kind erlebte ich, dass diese Wutanfälle nicht meinen älteren Bruder, nicht meine jüngere Schwester trafen – sie trafen mich. Ich habe später viel darüber nachgedacht, warum ich es war. Was an mir falsch war. Ich konnte meinen Fehler nicht finden und das machte mich ohnmächtig. Aus nichtigem Anlass – ein nicht aufgegessenes Leberwurstbrot, in dem mich die Fettstücke ekelten – rastete meine Mutter aus. Sie schlug mich mit dem Teppichklopfer, mit dem Gürtel, mit den bloßen Fäusten auf Arsch und Rücken. Sie auf mir, ich unter ihrer Körpermasse. Ich weiß noch genau, dass in diesem Moment etwas an Vertrauen kaputtging, was niemals wieder gut wurde. Mein Gesicht soll ihr am ähnlichsten sein. Wir sind uns nahe und doch fremd.

      Vater hat uns nie geschlagen. Heute denke ich: Vielleicht war das auch bequem für ihn, unserer Mutter das Erziehungsgeschäft weitgehend zu überlassen. Ich erinnere ihn als müden Mann, nach Benzin und Schweiß stinkend, noch in der roten Arbeitskleidung, eingeschlafen auf dem Sofa.

      Neben den kirchlichen Aktivitäten war mein Vater nach Feierabend ein leidenschaftlicher Gärtner. Mutter herrschte im Haus, Vater hatte sein Gartenreich. Neben Salat, Gurken und Kürbissen gelangen ihm die Tomaten am besten. Er liebte es, uns Kindern eine frische Tomate vom Busch zu pflücken und uns zuzusehen, wie wir die Frucht genossen. Dann lachten seine Augen. Wir Kinder bekamen jeweils wenige Quadratmeter Gartenland zugewiesen, um uns dort mit Gemüseanbau auszuprobieren. Aber nach ein paar Wochen hatten mein Bruder und meine Schwester ihre Parzellen bereits an mich verkauft. Kräuter habe ich gezogen. Salbei, Thymian, Rosmarin. Sie sind immer noch meine Lieblinge im kleinen Pastorengarten auf St. Pauli. Bei der Gartenarbeit denke ich oft an meinem Vater, besonders, wenn ich eine frische Tomate ernte und genieße.

      Die Liebe zu den Pflanzen, die Begeisterung an ihrem Wachstum und die Geduld dazu habe ich von meinem Vater. Auch Bäume habe ich als Kind geliebt und hatte meine Lieblinge, knorrige Knickeichen zwischen den Feldern, die ich gerne besuchte. Ihre raue Borke zu spüren, ihr Laub im Wind zu hören gab mir eine tiefe Kraft, ein Gefühl von Verstandenwerden und Einssein. Auch bestimmte Plätze waren mir heilig. Dort war ich gerne alleine und fühlte mich zugehörig. Als ich zwölf war, bin ich eines Abends mit dem Fahrrad wenige Kilometer den sandigen Feldweg in einen kleinen Wald gefahren. Dort stieg ich die grobe Leiter hoch zu einem Jagdstand. Fern des Dorfes genoss ich die Stille und lauschte dem Knarren der Äste, den Vogelstimmen und dem Rascheln und Grunzen der Wildschweine. Das war meine ganz eigene Religion, die keine Heiligen Schriften kannte. Das wichtigste, was ich damals von den Bäumen gelernt habe, war ein Gebet, das nicht Reden war, sondern Schweigen und Hören.

      Mein Vater konnte auch streng sein. Einmal hatten mein Bruder und ich von irgendwoher ein Kartenspiel. Wir waren damals 14 oder 15 Jahre alt. Heimlich spielten wir Mau Mau. Als das mein Vater sah, hielt er uns eine Moralpredigt: Die Karten seien vom Teufel. Haus und Hof hätten Männer schon verspielt beim Kartenspiel, das nur einen Gewinner kennen würde – Satan höchstpersönlich. Damals hatten wir einen Holzofen, den mein Vater nun mit dem Kartenspiel befeuerte, während mein Bruder und ich kleine Münder und große Augen machten.

      Mein Vater war sonst ein herzenswarmer Mann, offen und aufmerksam gegenüber jedem. So kannten ihn seine Kunden an der Tankstelle in der Kreisstadt. Diese Tankstelle hatte er aufgebaut, sie war sein Stolz. Mit einer Zapfsäule fing es an, die zuerst nur den Betriebsfahrzeugen eines Möbelgeschäfts zugedacht war. Dann wollten Kunden billig tanken und das Unternehmen wuchs über 20 Jahre. Mein Vater wurde Chef von 30 Mitarbeitern. Sein Stolz war es, die günstigste freie Tankstelle Norddeutschlands zu betreiben. Sollte ihm zu Ohren gekommen sein, dass der Liter Super, Diesel oder Benzin irgendwo einen Zehntel Pfennig günstiger war als auf seiner Tanke, dann unterbrach er sogar den Sonntagsfrieden, fuhr zum Betrieb und steckte die Preistafeln um. Die Konkurrenz wurde immer unterboten.

      Mein Vater machte sich einen Spaß daraus, sich einen Tankwart und einen Dankwart zu nennen. Sonntags schrubbte er seine breiten Hände, die sonst immer nach Benzin rochen und kratzte den Dreck der Woche unter seinen Fingernägeln hervor. Er ging nicht nur regelmäßig in den Gottesdienst und sang im Kirchenchor mit, sondern er war auch ehrenamtlicher Prediger bei der altpfingstlerischen Stundengemeinde, eine kleine Freikirche, in der sich vor allem ostpreußische Erweckungsfrömmigkeit bewahrte. Ich war immer stolz, ihn dort vorne so schick angezogen stehen zu sehen. Mutter hatte ihm eine schöne Krawatte ausgesucht und gebunden.

      Aber auch in der Landeskirche durfte der Tankwart zum Dankwart werden und als Lektor den Gottesdienst halten, wenn der Pastor mal Vertretung brauchte. Das gab im Dorf natürlich etwas Gerede: „Ist das nicht der Kurt Wilm, der Tankwart? Wusste gar nicht, dass der auch Pastor ist. Darf der das überhaupt?“

      Schlichte Sätze waren das, die mein Vater fand. Ruhig und sanft waren seine Worte. Interessant wurde es, wenn er Erfahrungen von der Tankstelle anbrachte, dann hörten die Leute richtig zu. Auf keinen Fall war er ein Schwätzer. Er erzählte frei von seinem Glauben, das überzeugte die Leute.

      Auch auf der Tankstelle bot er neben Scheibenwischen und Luftdruckmessen dazu noch Lebenshilfe an. Er konnte den Kunden gut zuhören und entdeckte missionarische Chancen zwischen Zapfsäule und Ölwechsel. Als Tankwart war er immer ein Dankwart. Und als Prediger versteckte er nicht den Tankwart. Das machte ihn glaubwürdig für mich.

      In der Grundschule war ich mit vielen Kindern in der Klasse noch befreundet. Das sollte sich dann mit dem Wechsel aufs Gymnasium in der Kreisstadt ändern. Ich hatte als Grundschüler sogar eine eigene Freundin. Unser Abenteuerort war ein kleines Wäldchen. Unbesorgte Stunden verbrachten wir dort und im Sommer schwammen wir über den See, der modrig roch, wenn er in voller Algenblüte stand.

      Spielten wir anfangs noch mit den anderen Kindern in der Siedlung, so änderte sich das bald. Zunehmend trafen wir uns nur noch mit den „Gläubigen“ im Dorf. Kinderfasching durften wir nicht mitmachen, das war Heidenkram. Die Gemeindeveranstaltungen banden alle Freizeitaktivitäten. Sonntags traf sich die Dorfjugend zum Fußballspiel, während wir in der Kirche saßen. Bald hatten wir den Ruf, die Frommen zu sein. Die Fremdheit zum übrigen Dorf wuchs.

      Mit dem Pastor und seiner Frau wuchsen wir wie mit zweiten Eltern auf. Das kinderlose Paar hatte zwei Dutzend Jugendliche um sich versammelt. Bald wurde neben unserem Gemeindehaus ein Volleyballplatz angelegt. Nachdem wir uns dort ausgetobt hatten, hieß es wieder Singen, Beten, Bibel lesen. Meine Eltern fanden uns in dieser Gemeinschaft gut aufgehoben. Die Gemeinde würde uns wenigstens vor den Dorfdiskos mit ihren


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