Die Zerstörung der EU. Peter Michael Lingens

Die Zerstörung der EU - Peter Michael Lingens


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absurd, ihr eine „überfällige“ (Grasse) Mindestsicherung und Mindestpension zuzugestehen.

      „Nachhaltige“ Investitionen des Staates im vorhin angeführten Sinn fehlten im Entwurf aber so gut wie vollständig. Ob aus Angst vor einer noch größeren Überschreitung des Defizits oder aus Unverstand, kann ich nicht eruieren. (Schon weil nicht klar ist, welche Infrastruktur-Investitionen der mittlerweile gelockerte Sparpakt nicht mehr dem Defizit zurechnet und damit zulässt.)

      Für Hans-Werner Sinn ist es (erwartungsgemäß) klar, dass Italien auf keinen Fall zusätzliche Schulden machen darf. Für mich ist unklar, wie seine Wirtschaft dann wachsen soll. Aber ich gebe sofort zu, dass Italiens Sanierung sehr viel einfacher wäre, wenn das vor Geld strotzende Deutschland diese Schulden machte und Großaufträge vergäbe, die zum Beispiel u. a. von der italienischen Industrie wahrgenommen werden könnten.

      Die Möglichkeit, die an Deutschland verlorenen Marktanteile wieder zurückzugewinnen, was das Problem an der Wurzel löste, sind in Italien nämlich noch theoretischer als in Frankreich: Es müsste sein Lohnniveau um 35 Prozent absenken, um deutsche Preise zu unterbieten. Die Kaufkraft, und mit ihr die Inlandskonjunktur, bräche in der Sekunde zusammen – der Aufstand folgte in der Sekunde.

      Aber in Deutschland ist man sich leider keine Sekunde bewusst, was man im Nachbarland mit seinem Lohndumping und seinem Sparpakt angerichtet hat.

      Deshalb kann ich für Italien nicht optimistisch sein. Ich kann im Moment nicht sehen, wie eine inkongruente italienische Regierung mit der Summe aus Marktanteilsverlusten aufgrund einer wahnwitzigen deutschen Lohnpolitik, Wachstumsschwächen aufgrund einer verfehlten EU-Sparpolitik und der zusätzlichen Belastung durch eine nicht funktionierende EU-Flüchtlingspolitik zurande kommen soll.

      Hans-Werner Sinn sieht die einzige realistische Möglichkeit im Austritt aus dem Euro. Wenn er recht hat, ist der Euro Geschichte.

       DAS GELEUGNETE FIASKO

      Weil ich meine, dass sich das Wesen der EU-Wirtschaftspolitik am deutlichsten bereits ganz zu Beginn, bei der Griechenland-Krise, gezeigt hat, möchte ich auf sie zurückkommen, obwohl sie angeblich überwunden ist.

      Denn genau das stimmt in keiner Weise – sie ist so akut wie eh und je. Die Ruhe, die sie begleitet, ist allenfalls eine Friedhofsruhe und böte Stoff für eine tragische Komödie: Wie man ein Fiasko unwidersprochen und ungeniert in einen Erfolg verkehrt.

      So hat die EU-Kommission im Sommer 2018 stolz verkündet, dass Griechenland mit 1,2 Prozent das zu diesem Zeitpunkt höchste Wirtschaftswachstum der EU ausweise. Das trifft zu und ist dennoch, was Griechenlands wirtschaftlichen Zustand betrifft, das absolute Gegenteil der Wahrheit.

      Griechenland ist am Boden zerstört.

      In der Physik kennt man das sogenannte Experimentum Crucis: eine möglichst eindeutige, zugespitzte Versuchsanordnung, die es erlaubt, eine Theorie auf ihre Brauchbarkeit zu prüfen. Bewährt sie sich, dann ist sie mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit richtig, bewährt sie sich nicht, dann ist sie mit Sicherheit falsch („falsifiziert“). Griechenland war das Experimentum Crucis der EU-Wirtschaftspolitik – dort vermochte man zu prüfen, ob diese Politik sich bewährt.

      Worin bestand die Versuchsanordnung? Der griechische Staat war bekanntlich aus unterschiedlichsten Gründen – Misswirtschaft, Korruption, Betrug, ein Kaufrausch im Zuge der Euro-Euphorie – in eine Lage geraten, in der seine Zahlungsunfähigkeit befürchtet wurde. Aus dieser Lage sollte er sich auf der Basis der wirtschaftspolitischen Thesen der EU – die ihn zu diesem Zweck unter Kuratel stellte – befreien.

      Im Sommer 2018 verkündete EU-Finanzkommissar Pierre Moscovici den erfolgreichen Abschluss des Experiments: „Die griechische Krise ist heute Abend vorbei.“ „Mit dem Ende der Hilfe für Griechenland beweist die Europäische Union, dass sie Krisen überwinden kann“, resümierte der Stern für das breite deutschsprachige Publikum. Das war zu diesem Zeitpunkt für deutsche Leser deshalb so wichtig, weil sie befürchteten, dass demnächst Italien geholfen werden muss, und weil Deutschlands Medien vom Stern bis zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung klarstellen wollten, dass diese Hilfe selbstverständlich wieder nur nach bewährtem deutschem Rezept erfolgen kann: indem dem italienischen Staat befohlen wird, zu „sparen“ und „endlich seine Hausaufgaben zu machen“.

       Das deutsche Rezept und sein Erfolg

      In Wirklichkeit gibt es kein krasseres Beispiel für das völlige Versagen dieses deutschen Rezeptes als Griechenland. In nüchternen Zahlen: Um es zu „retten“ wurde seit 2010 von der EU und vom Internationalen Währungsfonds in mehreren Tranchen die gewaltige Summe von 298 Milliarden Euro vergünstigter Kredite aufgewendet; unter der befohlenen bzw. faktischen Aufsicht einer EU-„Troika“ machte Griechenland im Gegenzug die ihm abverlangten „Hausaufgaben“.

      Wie ist es nunmehr um das solcherart „gerettete“ Land bestellt?

      Quelle: The World Bank

       Griechenlands reales BIP pro Kopf, das 2007 bei 32.073 US-Dollar gelegen war, ist bis 2010 im Rahmen der Krise auf 28.726 US-Dollar abgestürzt. Zu diesem Zeitpunkt begann die „Sanierung“. Im Jahr 2013, dem Jahr, in dem für die gesamte EU der Sparpakt voll wirksam geworden war und Griechenland bereits 3,5 Milliarden Euro Kredit erhalten hatte, erreichte sein BIP/Kopf mit 23.746 US-Dollar seinen Tiefpunkt. Um sich seither unter Erhalt der angeführten fast 300 Milliarden seitwärts zu bewegen und bis 2017 auf nur gerade 24.574 US-Dollar zu erholen. Das ist – nach 300 aufgewendeten Milliarden – ein Minus von 23,4 Prozent gegenüber der Zeit vor der Krise.

      • Griechenlands Staatsschuldenquote (die Staatsschuld pro BIP), deren Höhe der Anlass zur „Rettung“ gewesen ist, stieg im Zuge des „Sparens“ von 146,25 Prozent im Jahr 2010 auf 181,91 Prozent im Jahr 2017. Die „Quote“ selbst ist zwar – entgegen ihrer ständigen Zitierung in den Medien – keine relevante Zahl (wie ich später eingehend begründen werde), aber ihr derart dramatischer Anstieg in so kurzer Zeit ist es insofern, als er den dramatischen Einbruch des BIP im Nenner des zughörigen Bruches signalisiert. (Griechenlands Staatsschuld selbst ist nämlich so gut wie unverändert hoch geblieben.)

      • Griechenlands Arbeitslosenrate, die noch 2010 bei 12,73 Prozent lag, schnellte bis 2017 auf 21,45 Prozent hoch, obwohl seit 2009 mindestens 400.000 von 11,12 Millionen Griechen das Land auf der Suche nach Arbeit verlassen haben. Wären sie geblieben, so hätten sie die Arbeitslosenrate auf dreißig Prozent gesteigert. Die Jugendarbeitslosigkeit (Arbeitslosigkeit der 15- bis 24-Jährigen) liegt bei gespenstischen 43 Prozent. Was in Griechenland auf dem Arbeitsmarkt wirklich passiert ist, illustriert am besten die Zahl der Beschäftigten: Von 4,53 Millionen im Jahr 2006 ist sie bis heute auf 3,68 Millionen gesunken.

      • Das Realeinkommen der Griechen ist zwischen 2010 und 2017 um mehr als ein Viertel, um 26,5 Prozent, zurückgegangen. Um es etwas hautnäher zu beschreiben: Stellen Sie sich vor, Sie hätten als Geringverdiener nur mehr drei Viertel des zuvor schon knappen Geldes in der Tasche.

      In diesem niederschmetternden wirtschaftlichen Zustand befindet sich Griechenland auf der Basis seiner „gelungenen Rettung“ durch neun Jahre EU-Wirtschaftspolitik gemäß deutscher Rezeptur und unter deutscher Anleitung und Aufsicht.

      Dass im Jahr 2017 tatsächlich ein Wirtschaftswachstum von 1,2 Prozent eingesetzt hat, ändert nichts an diesem niederschmetternden Befund, denn selbstverständlich ist irgendwann nach Jahren des Schrumpfens – das ist fast immer und fast überall so – selbst bei der schlechtesten Wirtschaftspolitik eine Talsohle erreicht, von der aus es wieder aufwärtsgeht. Die konkrete Talsohle – ich muss mich wiederholen – liegt, trotz 298-Milliarden-Kredits, um 23,4 Prozent unter dem Vorkrisenniveau.

      Wo liegen demgegenüber die Verbesserungen dank erledigter „Hausaufgaben“?

      Möglicherweise ist zwischen 2010 und 2017 so etwas wie ein griechisches Grundbuch entstanden (ich vermag es nicht zu überprüfen) und ist


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