Große Brüder und kleine Prinzessinnen .... Hanna Backhaus
Die Familienforschung legt ein großes Gewicht auf die Eltern-Kind-Beziehung. Welch bedeutende Rolle die Geschwister für die Entwicklung eines Kindes haben, ist dabei allzu häufig vernachlässigt worden. Schließlich sind es die Geschwister, die in erster Linie den Alltag miteinander verbringen. Sie spielen miteinander, helfen sich gegenseitig, trösten sich, und natürlich sind sie auch eifersüchtig aufeinander und streiten oft und verbissen. Dennoch halten sie im Ernstfall zusammen gegen die Übermacht der Eltern und die der ganzen Welt.
Geschwister haben durch ihre ständige Präsenz großen Einfluss aufeinander. Ihre oft ähnliche Körpergröße, Motorik, Mimik und Stimmlage macht sie füreinander zum Spiegelbild. Schon bei Kindern unter einem Jahr lässt sich beobachten, dass sie voller Interesse auf andere Kinder reagieren, mit ihnen Kontakt aufnehmen und sie berühren wollen und anders auf sie zugehen als auf Erwachsene. Manchmal können wir auch beobachten, dass sich ein Kleinkind, das weint, eher von einem Geschwisterkind als von Mutter oder Vater trösten lässt. Es kann passieren, dass ein Geschwisterkind den Eltern erklärt, was dem Kleineren fehlt.
Was wir in unserer ersten Familie lernen
Eltern sind der Dreh- und Angelpunkt im Leben eines Kindes. Die Aufmerksamkeit der Eltern auf sich zu lenken, das ist Sinn und Ziel der meisten Unternehmungen eines kleinen Kindes. Sobald es Geschwister bekommt, beginnt der Kampf um die elterliche Zuwendung. In der Familie erleben Geschwister erstmals Konkurrenz.
Die Angst, dass der andere von den Eltern besser behandelt oder die andere in irgendeiner Weise bevorzugt wird, erzeugt eifersüchtige Gerechtigkeitsfans und echte Neidhammel. Und immer dreht sich der Streit der Geschwister um den besseren Platz unter der elterlichen Sonne. Im Mittelalter war es vielleicht noch das größere Stück Brot, das diese Angst hervorrief, heute ist es das bessere Weihnachtsgeschenk des Bruders.
Jedes Kind entwickelt in diesem „Überlebenskampf“ seine eigene Strategie.
Weil Erstgeborene sich am Vorbild der Eltern orientieren, übernehmen sie die Rolle eines Erziehers für die jüngeren Geschwister. Die Erkenntnis, die Liebe der Eltern teilen zu müssen, schmerzt sie und macht sie reizbar. Eigenschaften wie Eifersucht, Rachegelüste, die Neigung zur Gewalttätigkeit, aber auch Disziplin und Verantwortungsbewusstsein zeichnen sie aus, während die später geborenen Kinder gezwungen sind, eine eigene Nische zu suchen, die ihrem Temperament und ihren Begabungen entspricht. Darum zeichnet sie eine Flexibilität aus, mit welcher die älteren Geschwister häufig nicht aufwarten können. Meist sind sie kreativ, friedlich und freundlich, genauso haben sie einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit, der sie immer wieder in die Rebellion treibt oder sie zu sanften Widerständlern macht: Sanfte Widerständler tragen ihre Rebellion nicht nach außen, sondern gehen still, wenn es sein muss, auch gegen den Widerstand der Eltern und Geschwister ihren eigenen Weg.
Der Wissenschaftshistoriker Frank J. Sulloway hat in seinem Buch „Der Rebell der Familie“ dargelegt, dass in diesem Konkurrenzkampf der Kinderstube das Potenzial für Kreativität und Innovation liegt. Mit dem Kampf ums Überleben wird ein Mensch also konfrontiert, sobald er in den Kreis seiner Familie eintritt. Hier erlebt er die engsten und intimsten Beziehungen seines Lebens, bis er später eine eigene Familie gründet. Niemals aber ist er prägenderen Einflüssen ausgesetzt als denen seiner ersten Familie.
Dies beruht allein schon auf der Tatsache, dass ein Menschenkind bei seiner Geburt unfähig ist, sich selbst am Leben zu erhalten. Es ist also total abhängig von der Fürsorge der Erwachsenen. Diese Phase extremer Abhängigkeit zeichnet sich aus durch ungeheure Prägbarkeit. Das Kind lernt in erster Linie durch Nachahmung, zu einem lebenstüchtigen Individuum zu werden.
Die Beziehung zu den Eltern ist aber nicht nur von immenser Bedeutung, sie gestaltet sich auch fließend und dynamisch. Sobald ein neues Kind in die Familie hineingeboren wird, verschiebt sich das gesamte Familiengefüge. Die Karten werden neu gemischt, das Spiel beginnt von vorne. Jeder Mitspieler muss nun aus dem Blatt, das er in der Hand hält, das Beste machen. Er (oder sie) bekämpft dabei andere, verbündet sich mit dem nächsten, preist sich an, teilt sich mit, kombiniert, täuscht und gewinnt oder verliert am Ende mehr oder weniger für sich. Einen wesentlichen Anteil am Ausgang des Spiels für das einzelne Familienmitglied haben die Eltern. Ihre Träume, ihre Vorstellungen, ihre Prägung bestimmen den Umgang miteinander.
Natürlich trägt auch das angeborene Temperament eines jeden Mitspielers dazu bei, wie sich die Familie entwickelt. Was ein Kind an innerfamiliären Verhaltensmustern geerbt und erlebt hat, wendet es später in seinen außerfamiliären sozialen Beziehungen wieder an. Je größer die Ähnlichkeit zwischen frühesten und späteren Beziehungen, desto besser ist die Aussicht auf Erfolg und Bestand der letzteren. So nimmt schon mit dem allerersten Schrei das seinen Anfang, was sich im späteren Leben abspielt.
Eltern sind auch Geschwister
Wer sich mit der eigenen Rolle im Familienverband auseinandergesetzt hat, hat ganz andere Chancen, seine Kinder bei der Entwicklung positiver geschwisterlicher Beziehungen zu unterstützen.
Wer selbst Vater oder Mutter ist, hat einen zusätzlichen Grund, sich intensiv mit dem Thema „Geschwister“ zu befassen. Wer sich mit der eigenen Rolle im Familienverband auseinandergesetzt hat, hat ganz andere Chancen, seine Kinder bei der Entwicklung positiver geschwisterlicher Beziehungen zu unterstützen. Die Erinnerungen an eigene Erlebnisse und Emotionen mit Geschwistern helfen, die eigenen Kinder in ihrer Situation besser zu verstehen. Dabei muss uns bewusst bleiben, dass wir das eigene Erleben immer auch auf unsere Kinder übertragen.
Untersuchungen belegen: Elternteile identifizieren sich am ehesten mit demjenigen Kind, das die gleiche Geschwisterposition wie sie selbst einnimmt. Sie können sich einfach viel besser in dieses Kind hineindenken und hineinfühlen. Sie übertragen so auch die eigenen Erfahrungen auf ihre Kinder.
Auf diese Weise spielt die eigene Geschwisterposition mit ihrem ganz individuellen Erleben in die Erziehung eigener Kinder mit hinein.
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