Ich finde Gott in den Dingen, die mich wütend machen. Nadia Bolz-Weber

Ich finde Gott in den Dingen, die mich wütend machen - Nadia Bolz-Weber


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schmiss einfach Samenkörner auf den trockenen Boden und dachte, wir könnten von dem leben, was dabei herauskam. Aber es wuchs nichts. Und ich hatte immer noch Hunger. Daneben dekorierte ich den Rand des Linoleumfußbodens in meinem Kellerzimmer mit meinen leeren Wodkaflaschen, die ständig von meinen Mitbewohnern und ihren Freunden und Freundinnen (mit denen ich hin und wieder „versehentlich“ schlief) umgestoßen wurden.

      Sonntagmorgens, wenn ich meinen Kater abschütteln konnte, schlich ich mich manchmal, ohne recht zu wissen, warum, zu einer Quäkerversammlung in der Nähe. Das war eine liberale Gemeinde, wo niemand etwas sagte. Ihr Gottesdienst bestand aus einem gemeinsamen Erleben der Stille. Es gab keine Predigt und keine Männer, die sich in endlosen wichtigtuerischen Gebeten ergingen. Es war ein beruhigendes, vertrautes Gefühl, mit einer Gemeinschaft von Leuten auf diesen Eichenbänken zu sitzen. Außerdem gefiel es mir, dass niemand mir dort sagte, was ich tun müsse, um ein guter Mensch zu sein. Die Leute, die an diesen stillen Vormittagen dort um mich herumsaßen, bestellten richtige Gärten und protestierten gegen Kriege und lasen die New York Times. Sie waren freundlich und verloren nie ein Wort über den Geruch des noch nicht vollständig verstoffwechselten Alkohols vom Vorabend, den ich verströmte.

      Doch obwohl die Quäker eine Gemeinschaft waren, gehörte ich nicht wirklich dazu. Ich war eher so etwas wie eine Zuschauerin. Meine Gemeinschaft lag ein paar Häuser weiter noch in den Betten und schlief ihren Rausch aus. Doch bei uns zu Hause liefen die Dinge allmählich aus dem Ruder. Die Leute wurden immer schlampiger. Ein Typ hatte sich eine Knarre zugelegt, und unser Redneck aus Alabama hatte angefangen, mit Speed zu handeln. Immer mehr Fremde tauchten bei uns auf. Um den Garten kümmerte sich niemand. Mir war der Garten eigentlich auch egal. Wir alle taten einfach nur das, wozu wir Lust hatten. Ich war von allen enttäuscht, und Brot zu backen versuchte ich auch nur das eine Mal.

      Wie sich herausstellte, hätte eine Gemeinschaft, wie sie mir vorschwebte, aus Leuten bestanden, die nicht auf die Idee kamen, den Motor eines 1981er Honda Civic auseinanderzunehmen und vier Monate lang im Wohnzimmer herumstehen zu lassen. Aus Leuten, die, wenn ihr Kater auf meine Bettdecke pinkelte, in Erwägung ziehen würden, den Kater kastrieren zu lassen oder wenigstens die Reinigung zu bezahlen. Sie würden diesen Vorfall nicht einfach als Gelegenheit nutzen, mich mit glasigem Blick darüber aufzuklären, wie verkrampft ich doch sei und dass eigentlich niemand das Recht habe, sich an den Fortpflanzungsorganen eines anderen Tiers zu schaffen zu machen … Mann! Und vielleicht vor allem anderen wollte ich in einer Gemeinschaft mit Leuten leben, die nicht nur imstande waren, ein einstmals froschäugiges Mädchen zu lieben, sondern auch zuverlässig die Toilettenspülung zu bedienen. Und verdammt, vielleicht legten sie auch Wert auf eine Mitbewohnerin, die nicht mit ihren Freunden und Freundinnen schlief.

      Am Anfang hatten wir uns gegenseitig gemocht, aber letzten Endes wusste keiner von uns, wie man sich umeinander kümmert. Doch diese Erfahrung lehrte mich, dass eine Gemeinschaft, die darauf fußt, dass Regeln und Vorschriften bei allen verhasst sind, letztlich genauso enttäuschend und bedrückend ist wie eine Gemeinschaft, die auf der Fähigkeit fußt, Regeln und Vorschriften zu befolgen.

      Ich zog aus. Zwei Wochen später nahmen die Bullen das Haus auseinander.

       Kapitel 4

       La Femme Nadia

      Denn ich weiß nicht, was ich tue. Denn ich tue nicht, was ich will; sondern was ich hasse, das tue ich.

      – Römer 7,15 (Luther)

      Am Sonntag nach Neujahr 1992 war ich seit sechs Tagen trocken und saß in einem trüben, schmucklosen Raum voller Zigarettenqualm und trockener Frauen – Vorstadthausfrauen, ausgemergelte Cocktailkellnerinnen, ein paar Großmütter und eine Anwältin – im ersten Stock der York Street. Die „York Street“ ist ein altes viktorianisches Haus, das als Zentrumfür Alkoholiker-Selbsthilfegruppen in Denver dient. Der Glanz des Hauses war in den zwanzig Jahren, in denen es durchweg als Treffpunkt für trockene Trinker gedient hatte, ziemlich verblasst. Auf der prächtigen umlaufenden Veranda, auf der vor langer Zeit viktorianische Damen in Korsetten und elegante Herren im Kummerbund lustgewandelt waren, tummelten sich halb volle Aschenbecher, obdachlose Männer und Anwälte, die flugs in ihre Audis schlüpften, um nicht von Kollegen oder Mandanten, die vielleicht gerade die eigentliche York Street entlangfuhren, in einer Reha-Einrichtung gesehen zu werden.

      Früher durfte man in der York Street rauchen, aber nur im ersten Stock. Rauchen hilft, wenn man vom Nichttrinken den Tatterich hat und sowieso schon nicht ganz sicher ist, ob das mit dem Entzug überhaupt funktionieren wird. Ich war mir keineswegs sicher, ob ich das schaffen würde, was ich in der York Street eigentlich zu suchen hatte oder ob irgendeine dieser Frauen je durchgemacht hatte, was ich gerade durchmachte. Ich wusste nur, dass ich sie alle nicht leiden konnte.

      Wir saßen im ersten Stock im Kreis, alle schwafelten von Gott, bla bla bla, von Ergebung, bla bla bla, und ich glaubte kein Wort davon. Meine Haut fühlte sich an wie die raue Seite eines Klettverschlusses, und jedes Geräusch riss an meinen Nerven. Mein rechter Fuß ließ mein Bein wild auf- und abwippen, als wäre er zu nichts anderem da. Ich musste an meine trockene Freundin Nora denken, die einmal gesagt hatte, wäre sie keine Alkoholikerin, würde sie sich jeden Tag besaufen. Ich lächelte darüber, wie genau das die Sache traf. Was ich eigentlich wollte, waren ein paar Gläser Wodka, aber was ich hatte, waren sechs trockene Tage und offenbar so etwas wie eine nervöse Störung.

      Während die Anwältin redete, wanderten meine Gedanken eine Woche zurück zum Weihnachtstag, an dem ich um zehn Uhr morgens mit dem Trinken angefangen hatte, um vierundzwanzig Stunden später im Bett eines Kochs aus dem Restaurant, in dem ich arbeitete, aufzuwachen. Ich konnte mich nicht erinnern, je Zeit mit ihm verbracht oder ihn auch nur attraktiv gefunden zu haben. Was mich aber am meisten erschreckte, war nicht, dass ich so viel getrunken hatte, dass ich in einem fremden Haus gelandet war, ohne mich an den Vorabend erinnern zu können. Zu dieser Zeit hatte ich mich schon eine ganze Weile lang durchgehend dämlich verhalten: Ich hatte mich im Wohnzimmer eines Junkies tätowieren lassen, auf der Toilette bei Nell’s in New York Koks geschnupft und auf einer vereisten Straße einen Motorradunfall gebaut (da ich nicht nüchtern genug war, um mir zu überlegen, dass der Winter vielleicht nicht unbedingt die beste Jahreszeit fürs Motorradfahren ist). Das eigentlich Erschreckende an jenem Weihnachtstag war, dass nichts von alledem mich noch erschreckte.

      Hätte meine arme Mutter auch nur die leiseste Ahnung davon gehabt, so wäre sie geradewegs in Ohnmacht gefallen, aber vor mir hatte ich so getan, als gehörte das alles einfach nur zu meiner Starrolle in Andrew Lloyd Webbers Version von Nadia. Und war ich nicht fabelhaft in meiner Rolle? Ich trug meine Trinkerei mit einer Tollkühnheit, als wäre ich eine Heldin der Ausschweifung. An diesem Weihnachtstag aber fühlte es sich beschissen an. Mir wurde undeutlich bewusst, dass ich einfach nur versuchte, ein bestimmtes Bild von mir zu verwirklichen, das ich für zutreffend hielt.

      Ich rechnete damit, mit dreißig tot zu sein. Woher genau dieser Gedanke kam, weiß ich nicht genau, aber ich vermute, aus einem Film über Jim Morrison. Oder vielleicht war es auch Sid and Nancy. Welchen Hollywoodstreifen ich mir auch als Abbild meiner selbst zu eigen gemacht hatte, jedenfalls brauchte ich Jahre, bis ich bereit war, diese Vorstellung von mir selbst zu überdenken. Die Vorstellung, dass ich leicht neben der Spur war (aber auf zauberhafte Weise) und jung sterben würde, war mir zu so etwas wie einem Lieblingsoutfit geworden, das ich nicht variieren wollte, weil ich mir darin so gut gefiel. Anfangs fand ich das toll. Als Teenager fand ich mich super in der Rolle, Drogen zu nehmen und alle Weisheit zu verschmähen. Ich hatte das Outfit anprobiert, mich darin vor dem Spiegel gedreht und mich bewusst für dieses Aussehen, dieses Image, diese Identität entschieden. Aber mit der Zeit hatte ich, ohne es zu merken, die Fähigkeit verloren, darüber zu entscheiden. Ich war zu dem geworden, als was ich mich anfangs nur verkleidet hatte.

      Wenn man etwas nicht im Griff hat, wie ich zum Beispiel – ich brauche nur ein Glas zu trinken, und schon sind alle Leinen los, wie sehr ich auch motiviert sein mag, mich zu beherrschen –


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