Ketzer. Gerd Ludemann
ein innerweltlicher und insoweit durchschaubarer eher pragmatischer Geschehenszusammenhang«42 ist.
Allerdings rechnet eine so verstandene Kirchengeschichtsschreibung43 nicht mit einem besonderen Einwirken Gottes zu einzelnen Zeitpunkten der Geschichte. Den in diesem Zusammenhang oft zu hörenden Einwand44, jede Geschichtsschreibung habe ihre Voraussetzungen, und so setze die theologische Kirchengeschichtsschreibung voraus, dass Gott in den Geschichtslauf eingreife, halte ich für verfehlt. Natürlich ist jede Geschichtsschreibung subjektiv gefärbt. Doch ist daraus lediglich die Forderung abzuleiten, sich dieser Voraussetzung bewusst zu werden45, nicht aber unter der Hand quasi zu einem deus ex machina Zuflucht zu nehmen.
Auch wird gefordert: Wer die Geschichte des Christentums erforsche, müsse gläubig, konfessionell sein. Doch schließt eine solche Forderung die Augen vor dem wirklichen historischen Geschehen.
Der Historiker, der beständig ein dogmatisches Gewicht in die Waagschale legt, um seinen historischen Gegenstand zu wägen, entbehrt des eigentlichen geschichtlichen Verständnisses, das vor allem erforschen, entdecken, aufspüren, prüfen und verstehen will und – wenn überhaupt – erst in zweiter Linie wertet. Z. B. ähneln die Beurteilungen der Kirchenväter nach einem bestimmten dogmatischen Maßstab eher einem nachträglichen Herumdoktern, dem nicht mehr Sinn beizumessen ist als dem Unternehmen eines Arztes, der heutzutage die alten Griechen und Römer von den Krankheiten heilen will, an denen sie gestorben sind. Ein solches Unternehmen kann nur als Ausbund von papierener Gelehrsamkeit bezeichnet werden.46
Echte Geschichtsforschung will vor allem ihrem Gegenstand gerecht werden, ihn lebendig beschreiben, statt ihn nach von außen bezogenen Kriterien zu richten. Das schließt aber die Beschreibung des inneren Problemgehalts, der internen Spannungen des Betrachteten nicht aus, sondern ein.
Die Wissenschaft lebt in und von ihren Methoden, aber das heißt nicht, dass sie in diesen Methoden aufgeht und dass »sie ohne weiteres ihr ihren Wert verleihen. Denn es gibt gute und schlechte Methoden, und nur die kritischen sind gut, vor allem diejenigen, deren Bevorzugung die Wissenschaft ihre Selbstkritik verdankt.«47 Eine allgemeingültige Methode, die für jede Quelle passt, gibt es nicht. Sie ist in der Geschichtsforschung auch gar nicht zu erwarten, da diese nicht mit einer vorher feststehenden Meinung an den Stoff herantritt, sondern aus dem Gegenstand selbst erwächst und sich selbst ständig daraufhin überprüft, ob sie dem Objekt gerecht wird.
Dabei ist nichts lähmender für die historische Kritik, als die Lösung der geschichtlichen Probleme außerhalb ihrer oder gar in einem Eingreifen Gottes zu suchen. Es muss ein selbstverständlicher methodischer Grundsatz sein, das Unbekannte zunächst aus dem Bekannten herauszufinden. Wir setzen bei den Tatsachen ein48, um von dort auf weniger Sicheres zurückzuschließen.49
Meine im Anschluss an Franz Overbeck50 entwickelte Idee einer profanen Kirchengeschichte mündet ein in die Forderung: Entheiligt und gereinigt von allen kirchlich-theologischen Sonderbestimmungen und Erkenntnisprivilegien, »in reiner Weltlichkeit und, wie die wörtliche Übersetzung des Wortes profan lautet, in ›Ruchlosigkeit‹ soll der kirchenhistorische Prozeß verfolgt werden.«51
Damit ist noch nichts über die Wahrheit oder Unwahrheit, über die Wirklichkeit oder Unwirklichkeit des zu beschreibenden Objektes ausgesagt. »Die profane Kirchengeschichte beruht nicht auf der Annahme, daß das religiöse Leben der Menschen ein Irrtum sei, wohl aber setzt sie voraus, daß es möglichst ohne Vorurteile erforscht werden müsse.«52
Allerdings meine ich, dass, wenn Gott sich in Jesus von Nazareth den Menschen gezeigt hat, die profane Kirchengeschichtsdarstellung als ehrliche Wahrheitsforschung ihrem Gegenstand nicht entgegenstehen wird. Im Anschluss an Erich Seeberg gesagt: »Ich möchte meinen, daß die geschichtliche Arbeit imstande ist, ein geschichtliches Bild vom Christentum zu erzeugen, das gewissermaßen wie ein Urbild selbst produktiv wirkt.«53
Nun ist klar, dass zur Verarbeitung des riesigen historisch-literarischen Materials – auch in den ersten beiden christlichen Jahrhunderten – über die bereits gegebene Bestimmung einer Geschichte des Urchristentums hinaus die Aufgabe sinnvollerweise von einer bestimmten Fragestellung aus zu erfolgen hat. So könnte der leitende Gesichtspunkt z. B. der Kult bzw. der Gottesdienst oder die Liturgie sein54, ein anderer die Theologie55, ein weiterer die religionsgeschichtliche Frage, wie sich in den ersten beiden Jahrhunderten die Hellenisierung des Christentums als einer ursprünglich jüdischen Religion vollzog.56 Zugleich ist auf die Wichtigkeit der lokalen Frühgeschichte hinzuweisen (Rom57, Korinth58, Ephesus59, Philippi60, Antiochien61, Alexandrien62 usw.).
Ich möchte für meine Arbeit stattdessen als leitenden Gesichtspunkt den Aspekt der Ketzerei bzw. des Ketzers wählen.63 Ketzerei hat in der heutigen deutschen Sprache den Sinn von Abweichungen »von einer allgemein als gültig erklärten Meinung oder Verhaltensnorm«64 angenommen. Deshalb eignet sich der Begriff gut als leitender Gesichtspunkt einer auf allgemeines Interesse zielenden Darstellung. Demgegenüber ist der Ausdruck »Häresie« auf den kirchlichen Bereich beschränkt und kann den Leser daran hindern, Interesse für den behandelten Gegenstand zu entwickeln.65 Übrigens kommt das Wort Ketzer nicht etwa von Katze, wie man lange meinte, sondern von Katharer (griech. katharoi = die Reinen; ital. gazzari = Ketzer).66
Die letzte Ketzergeschichte des Urchristentums entstammt der Feder des Jenenser Professors Adolf Hilgenfeld aus dem Jahre 188467 und ist gewissermaßen Ausläufer einer Vielzahl von Ketzerhistorien, die allerdings z. T. die ganze Kirchengeschichte umspannen.68 Sein Werk orientiert sich daran, welche Gruppen von der katholischen Kirche als Häretiker angesehen wurden, und beginnt nach einem Überblick über die antihäretischen Schriften der ersten Jahrhunderte mit Simon, dann folgen Menander, Satornil, Basilides usw.69
Diese Vorgehensweise, die in etwa der seiner Vorgänger entspricht, strebe ich hier nicht an. Ich orientiere mich im Folgenden vielmehr an der Fragestellung des Göttinger Patristikers und Neutestamentlers Walter Bauer, der im Jahre 1934 ein wahrhaft denkwürdiges Werk veröffentlichte: »Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum«. In der Einleitung dieses leidenschaftlich geschriebenen Buches führt Bauer aus:70
»Es ist für uns heute doch wohl keinem Streit mehr unterworfen, daß die neutestamentlichen Schriften wissenschaftlich nicht zu verstehen sind, wenn man vom Ende des kanonbildenden Prozesses auf sie als auf heilige Bücher zurückblickt und sie nun als Bestandteil der überirdischen Heilsurkunde mit allen daraus sich ergebenden Eigenschaften wertet. Wir haben uns längst angewöhnt, sie aus ihrer Zeit heraus zu begreifen, die Evangelien als mehr oder weniger gelungene Versuche, das Leben Jesu zu erzählen, die Paulusbriefe als Gelegenheitsschriften, an bestimmte, unwiederholbare Sachlagen gebunden mit örtlicher wie zeitlicher Beschränkung ihres Geltungsbereiches. So müssen wir auch den ›Ketzern‹ gegenübertreten. Auch sie wollen wir aus ihrer Zeit heraus erfassen und messen sie nicht an einer werdenden oder gar der späterhin fertiggewordenen Kirchenlehre als dem Normalmaßstab …
Um alle modernen Stimmungen und Urteile von vornherein auszuschließen, gehe ich von der Auffassung aus, welche die alte Kirche bereits im 2. Jahrhundert bezüglich der Ketzer und ihrer Lehren hegt, und prüfe sie auf ihre Haltbarkeit in der Hoffnung, bei solchem kritischen Verfahren einen Weg zum Ziel zu finden. Der kirchliche Standpunkt umfaßt etwa die folgenden Hauptgesichtspunkte:
1. Jesus offenbart die reine Lehre seinen Aposteln, teils vor seinem Tode, teils in den vierzig Tagen vor der Himmelfahrt.
2. Nach seinem endgültigen Scheiden teilen die Apostel die Welt unter sich und jeder bringt dem Lande, das ihm zugefallen, das unverfälschte Evangelium.
3. Auch nach dem Tode der Jünger breitet sich dieses weiter aus. Doch erwachsen ihm jetzt Hemmungen innerhalb der Christenheit selbst. Der Teufel kann es nicht lassen, Unkraut in das göttliche Weizenfeld zu säen; und er hat Erfolg damit. Von ihm verblendet geben gewisse Christen die echte Lehre preis. Die Entwicklung vollzieht sich in folgender Weise: Unglaube, Rechtglaube, Irrglaube. Dafür, daß man den Unglauben unmittelbar mit dem vertauschen könne, was die Kirche Falschglauben nennt, zeigt sich kaum irgendwo auch nur eine Ahnung. Nein, wo es Häresie gibt, muß zuvor Orthodoxie bestanden haben. ›Alle Ketzer‹, sagt etwa Origenes, ›kommen zuerst zur Gläubigkeit; später weichen sie dann von der Glaubensregel ab.‹…
4.