Tod im Thiergarten. Horst Bosetzky

Tod im Thiergarten - Horst Bosetzky


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wo beim Schneidermeister Hoppe eine Weste abzuholen war. Aber nicht nur dieses Kleidungsstück trieb ihn dorthin, sondern auch die Neugierde. Warum sich ein derart lebensfroher Mensch wie der Geselle Ludwig Dölau erhängt hatte, wollte ihm nicht so recht eingehen.

      Hoppe entschuldigte sich vielmals, dass Gontards Weste noch nicht fertig war, doch der winkte ab. »Ich weiß: Dölau …«

      Hoppe rang die Hände. »Ja, wir sind fassungslos. Wo er immer so fröhlich gewesen ist! Aber da muss etwas gewesen sein …«

      Gontard horchte auf. »Was muss gewesen sein?«

      Der Schneidermeister verwies auf den Abschiedsbrief, dessen Inhalt er auswendig kannte. »Meine liebe Braut, ich bitte Dihr um Vergebung, aber ich konte nicht anders. Meine Schult wiecht zu schwer. Dein Ludwig.«

      »Meine Schuld wiegt schwer …«, wiederholte Gontard.

      »Aber was das für eine Schuld ist, darüber ist noch nichts bekannt?«

      »Nein, seine Braut, die Anna, weiß auch nichts Genaueres, sagt aber, dass er manchmal mehr Geld hatte, als er bei seinem Lohn hätte haben dürfen.«

      Gontard fiel dazu auch nichts weiter ein als ein langgezogenes »Hm …«. Vielleicht hatte sich Dölau auf dieselbe Art und Weise ein kleines Zubrot verdient wie dieser Karbusch, denn auch ein Schneidergeselle hörte viel und hatte immer wieder spät fertig gewordene Kleidungsstücke zu den Kunden zu bringen, konnte sich also unauffällig in der Stadt bewegen. Aber ach, was ging ihn dieser Dölau an! Was ihn interessierte waren Morde - aber keine Selbstmorde. Die waren Sache der Pfaffen.

      »Wenn ich Sie höflich bitten darf, einen Augenblick zu warten, Herr von Gontard«, sagte der Schneidermeister mit einer leichten Verbeugung. »Ich werde Ihre Weste selbst mit den letzten Knöpfen versehen.«

      »Gern.« Gontard hatte ja Muße genug.

      Hoppe brachte ihm zudem ein Journal. »Wenn Sie sich damit ein wenig Ihre Zeit vertreiben möchten …«

      Gontard bedankte sich und begann, darin zu blättern. Der Name Magnus Kahlbaum stach ihm ins Auge, den kannte er von Stehely her. Hin und wieder schrieb der etwas, diesmal war es ein Essay über das Rauchen, das in Berlin immer mehr zur Mode wurde.

      IN BERLIN RAUCHT ES NICHT NUR AUS ÖFEN UND SCHORNSTEINEN

       Das Kraut, das in England von Sir Walter Raleigh eingeführt wurde, hat nun auch Berlin erobert und verbreitet sich in allen Gesellschaftsschichten. Jeder - ob hoch oder niedrig - zieht den Dampf der virginischen Blätter mit mehr oder weniger Wohlbehagen in sich hinein und stößt ihn mit mehr oder weniger Andacht von sich. Schon die Jugend, die noch das harte Holz der Schulbank drückt, schleicht sich mit einer stibitzten Cigarre heimlich ins entlegene Gartenhaus, um später von der Mutter, deren Geruchssinn sie nicht täuscht, mit dem Rohrstock gestraft zu werden - was aber auch nichts fruchtet. Später, als Commis oder Student, frönen die Jungen weiterhin dem geliebten Laster. Der Verkehr mit den Damen, die um ihre feinen Tüllesachen fürchten, erlaubt dem Commis den ersehnten Genuss aber nur nach geschlossenem Geschäft. Wird er zum Dandy, steckt er, um seine zarten Lippen besorgt, seine Cigarre in eine Spitze aus Horn. Eine akademische Laufbahn berechtigt zur Benutzung einer Pfeife. Der Beamte nimmt die möglichst lange Röhre aus Buchsbaum oder Meerschaum, die vorn mit Silber beschlagen ist, und raucht aus ihr seine Cigarre. Der Jüngling dagegen, der des Ladenhütens überdrüssig geworden ist und sich der großen Kaste der Handlungsreisenden angeschlossen hat, gibt sich kosmopolitisch und damit der türkischen Pfeife den Vorzug. Mit Schibuck und Fez liegt er jeden Morgen, ehe er sich zum Kundenbesuch auf den Weg macht, in den Fenstern seines Gasthofes und lorgnettiert die Fürstin wie das Dienstmädchen. Gütig lächelt er auf arm und reich; sol lucet omnibus!

       Von diesen hier aufgeführten Rauchern unterscheiden sich der Arbeitsmann und die Grisette. Der Arbeiter nimmt seine kurze Holz- oder - wenn es hochkommt - Thonpfeife und stopft sie mit allem möglichen Gemüse, nur nicht mit Tabak. Die Grisette und im Allgemeinen die Damen, welche die öffentlichen nächtlichen Soireen besuchen, haben den Entschluss gefasst, sich mit der Cigarre wenigstens vertraut zu machen. Sie nehmen die uns aus Frankreich und Spanien überkommene Cigarette, gefüllt mit Tabak aus Maryland, und rauchen mit einer Verwegenheit, die einen Nachtwächter rasend machen könnte.

       Mit allen gemeinsam raucht der gemeine Bummler, der sich die Cigarrenreste zusammensucht, die Pfälzer ebenso gut wie die Havanna.

       Alle rauchenden Menschen machen mir einen glücklichen Eindruck, und so will ich mit dem Dichterworte schließen: Wo man raucht, da magst du ruhig harren, / Böse Menschen rauchen nie Cigarren.

      Gontard, der selten zur Cigarre griff, legte das Journal beiseite. Eine auffällige literarische Begabung schien ihm bei Kahlbaum nicht vorzuliegen. Aber das konnte ja noch werden, wenn man ihn in bestimmte Kreise einführte, zum Beispiel in den literarischen Verein »Tunnel über der Spree«. Während er darüber nachdachte, kam der Victualienhändler Vogel in die Schneiderei gestürzt, um ihm überschwenglich für die Rettung seines Vermögens zu danken. Fast hätte er den Offizier umarmt. »Wie kann ich das nur wiedergutmachen, Herr von Gontard?«

      »Indem Sie darüber Stillschweigen bewahren.«

      »Aber einen kleinen Korb Kiebitzeier und eine Flasche Champagner darf ich Ihnen doch nach Hause schicken, oder?«

      »Nun ja …« Es gab Versuchungen, denen auch Gontard nicht widerstehen konnte.

      »Ihre Weste ist fertig!«, rief Hoppe. »Sie können sie anprobieren.«

      »Wunderbar!« Gontard tat es und war mit dem teuren Stück - die Vorderseite bestand aus roter Seide - so zufrieden, dass er es nach der Anprobe gar nicht ausziehen wollte. »Damit laufe ich gleich zu Stehely.«

      Trotz aller Schnüffelei und Repression wurde in Berlin lebhaft über alles Politische diskutiert, vor allem in den Weinstuben, von denen es fast dreißig gab - Lutter & Wegner allen voran –, und den Conditoreien und den Lesecafés, von denen zeitweise an die hundert gezählt wurden. Es seien nur Spargnapani, Kranzler und d’Heureuse genannt, besonders Stehely & Comp. in der Charlottenstraße 53 am Gensdarmen-Markt, der französischen Kirche gegenüber. Hier lagen inländische, vor allem aber ausländische Zeitungen aus, die von der geistigen Elite Preußens begierig gelesen wurden, um das, was sich in London, Paris, St. Petersburg oder Wien getan hatte, anschließend zu diskutieren und kritisch mit der Lage in Berlin in Beziehung zu setzen. Stundenlang konnte man sich hier die Köpfe heißreden über die Pressefreiheit und eine moderne Verfassung.

      Christian Philipp von Gontard bevorzugte das Stehely. Als er die Tür öffnete, um einzutreten, stieß er mit einem jungen Mann zusammen, dessen hageres, feingeschnittenes Gesicht noch ernster aussah als sonst. Es war Karl Theodor Seydel aus Minden, der nach staatswissenschaftlichem Studium, Ableistung seines Militärdienstes und Ablegung des Assessorexamens in den Dienst des preußischen Staates getreten war und derzeit im Finanzministerium arbeitete.

      »Was ist denn passiert, lieber Seydel?«, fragte Gontard.

      »Sie sehen ja aus, als ob Sie von Ihrer eigenen Beerdigung kommen!«

      »Das nicht, aber sie haben mich strafversetzt nach Oppeln.«

      Gontard glaubte, den Grund zu kennen. »Weil Sie wieder einmal etwas in Gazetten veröffentlicht haben, die von Dr. Wiesenburg als regierungsfeindlich eingestuft werden?«

      »Genau so ist es«, antwortete der Mann, der zwanzig Jahre später Berliner Oberbürgermeister werden sollte.

      »Seien Sie froh, dass es nur Oberschlesien ist!«, sagte Gontard. »Ovid haben sie ans Schwarze Meer verbannt. Und tragen Sie es wie einen Orden!«

      Sie umarmten sich kurz, dann eilte Seydel nach Hause, seine Koffer zu packen. Gontard trat ins Stehely ein und setzte sich an einen Zweiertisch in der rechten hinteren Ecke des Lesecafés, von wo aus er am besten die anderen Gäste im Auge hatte, und wartete auf seinen Freund, den Arzt Friedrich Kußmaul, der vor Jahren aus der Nähe von Karlsruhe nach Berlin gekommen war. Doch der Gute ließ noch auf sich warten, so dass Gontard Zeit genug


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