Mamsellenmord in der Friedrichstadt. Horst Bosetzky
mir mit inne Jartenstraße«, lallte Orje.
Sie setzten sich in Bewegung, und unterwegs stieß auch noch Heinrich zu ihnen. Zu dritt zogen sie weiter, kamen aber nur bis zum Hamburger Thor, wo ihnen ein Trupp lärmender und rauchender Arbeitsmänner den Weg versperrte. Die hatten sich mit dem Wachhabenden angelegt, dem Grenadier Bienert, der vor dem Wachtgebäude stand und nach dem Rechten sah. Er nahm einen der Arbeitsmänner ins Visier.
»Sie da, det Roochen is an diese Stelle tunlichst zu unterlassen!«
Der lachte nur. »Dumme Bemerkungen sind ooch zu unterlassen.«
Daraufhin packte Bienert ihn und wollte ihn in die Wache schleppen, doch sofort löste sich ein Arbeitsmann aus der Menge, um seinem Kollegen beizuspringen. Er packte Bienert an der Brust und suchte, ihn zu Boden zu stoßen. Augenblicklich kam eine ganze Mannschaft aus dem Wachtgebäude, um die beiden Aufsässigen zu packen und in Arrest zu nehmen. Als man sie in die Wachstube gebracht hatte, forderten die Arbeitsmänner draußen deren Freilassung, und als die Sprechchöre keinen Erfolg hatten, stieß man Drohungen aus und bewarf das Wachthaus mit Steinen. Da konnten Bölzke und seine Freunde nicht anders, als mitzumachen. Fensterscheiben gingen zu Bruch. Die Wachmannschaft stürzte heraus, um die Menge zu attackieren. Gut gezielte Würfe trafen sie an Helm und Körper. Derart herausgefordert, zog einer seinen Infanteriesäbel, um sich damit Respekt zu verschaffen. Schläge mit der flachen Seite auf den Kopf waren dazu ein bewährtes Mittel. Als einen der Ersten traf es Albert Bölzke.
Heinrich sah, wie er leblos auf dem Pflaster liegen blieb, und murmelte: »Det is nu die Strafe, detta die Matschke abjestochen und uffgeschlitzt hat.«
Vier
Der Criminal-Commissarius Waldemar Werpel lebte nach der Devise »Eile mit Weile«, und so ließ er die Suche nach dem Mörder der Mamsell Amalia Matschke langsam angehen. Bevor er mit den Gästen sprach, die am Mordabend im Hause Wilhelmstraße 97 mit Willibald Alexis das Erscheinen des Romans Die Hosen des Herrn von Bredow gefeiert hatten, wollte er hören, welche Erkenntnisse der Stadtphysicus beim Betrachten der Leiche gewonnen hatte. Zu diesem Zweck hatte er sich in die Charité zu begeben.
Das erste Berliner Leichenschauhaus für die Stadtphysici, wie die Rechtsmediciner zu dieser Zeit hießen, war 1811 errichtet worden. Wegen der unzumutbaren Bedingungen dort wurden ab 1839 Räume des Leichen- und Sektionshauses der Charité für diesen Zweck genutzt. 1833 war an der Friedrich-Wilhelms-Universität die Praktische Unterrichtsanstalt für die Staatsarzneikunde gegründet worden, in der die Gerichtliche Medicin und die Medicinalpolizei zusammengefasst waren. Erster Lehrstuhlinhaber war der gerichtliche Stadtphysicus Karl Wilhelm Ulrich Wagner, der die Staatsarzneikunde auch als akademisches Fach etablierte.
Wagner war am 21. Januar 1793 in Braunschweig geboren worden. Er hatte 1813 in Göttingen die medicinische Doktorwürde erlangt und war danach in den braunschweigischen Militärdienst eingetreten, wo er 1815 nach der Schlacht bei Waterloo zum Generalstabsarzt aufgestiegen war. 1819 hatte er sich in Berlin habilitiert, um ein Jahr später außerordentlicher Professor der Staatsarzneikunde zu werden. 1826 hatte man ihn zum ordentlichen Professor ernannt, 1828 war er Criminal- und 1829 Stadtphysicus geworden.
Als Werpel ins Wagner’sche Kabinett in der Charité eingetreten war und Platz genommen hatte, war aber nicht die Mamsell Amalia Matschke das bevorzugte Thema, sondern die Schlacht bei Waterloo, an der auch er teilgenommen hatte.
»Am 28. Juni des Jahres 1815 haben wir beim Dorfe Plancenoit gestanden«, erklärte Werpel dem Stadtphysicus und legte dessen Briefbeschwerer in die Mitte der Schreibunterlage. »Das hier ist das kleine Städtchen Waterloo in der belgischen Provinz Brabant, fünfzehn Kilometer südöstlich von Brüssel. Folgt man in südlicher Richtung der Straße nach Charleroi, so trifft man wenige Kilometer von Waterloo entfernt auf zwei Höhenrücken.« Er markierte sie mit einem Brieföffner und einem Lineal.
»Hier ist es gewesen, hier hat die Schlacht getobt. Ach ja, wie der General Wellington sagte: Ich wollte, es wäre Nacht oder die Preußen kämen.«
Auch Prof. Wagner konnte sich lebhaft an alles erinnern und berichtete, wie seine Braunschweiger in ihren schwarzen Uniformen die britische berittene Artillerie unter Captain Mercer für Franzosen gehalten und beschossen hätten. »Die haben nun mit ihrer Batterie das Feuer erwidert, und was meinen Sie, Werpel, was ich für Arbeit damit hatte, meine Leute wieder zusammenzuflicken!
Schließlich haben wir einen Reiter zu Mercer geschickt, und der hat dann in einer merkwürdigen Mischung aus breitem braunschweigischem Platt und ein paar Brocken der englischen Sprache die Anhöhe hinaufgerufen: ›Ah, mine Gott, mine Gott! Vot it is you doos, sare? Dat is your friends, de Proosiens; and you kill them! Ah, mine Gott, mine Gott! Vill you no stop, sare?‹«
Nachdem sie diese und andere Episoden ausführlich durchgegangen waren, kamen sie endlich auf Amalia Matschke zu sprechen.
»Ich habe zwölf Einstiche in den Rumpf gezählt«, sagte der Stadtphysicus. »Und dann ist ihr auch noch der Leib aufgeschlitzt worden.«
Werpel schüttelte sich. »Das erinnert mich an das Schwein vom Tillack.«
Wagner schloss die Augen. »Mich eher an die Schlachtfelder, auf denen ich …«
»Wer kann denn so was tun?«, fragte Werpel.
»Die Kaiser, Könige und Feldherren.«
»Nein, ich meine das Schwein vom Tillack und den Mord bei Willibald Alexis.«
Der Stadtphysicus musste nicht lange nachdenken.
»Nur einer aus dem Irrenhaus.«
»Da ist aber keiner entwichen. Danach habe ich mich bereits erkundigt«, sagte Werpel.
»Dann ist er bis jetzt noch nicht eingesperrt.«
Werpel nickte. »Genau das habe ich mir auch gedacht. Und meinen Sie, Herr Professor, dass der Mörder bei dem Schwein von Tillack nur geübt hat?«
»Das kann man zweifelsohne sagen. In so einem Kerl schießt es plötzlich hoch, und er stürzt sich auf alles, was lebendig ist und sich schlecht wehren kann.«
»Und woran kann man einen solchen Menschen erkennen?«, wollte Werpel wissen.
»Man kann ihn nur daran erkennen, dass man ihn an nichts erkennen kann. Das ist gerade das Schlimme. Es wird ein Mensch sein, der aussieht wie Sie und ich. Er ist im alltäglichen Leben durch und durch gewöhnlich, vermute ich, aber etwas zwingt ihn dazu, einen anderen zu töten, wenn sich eine günstige Gelegenheit bietet.«
»Der Tillack meint, dass es bei seiner Jolanthe eine Rotkappe gewesen ist«, sagte Werpel.
»Eine was?«, fragte der Stadtphysicus.
»Ein Wesen, das Krallen hat und rotglühende Augen und Menschen tötet, um mit deren Blut die Farbe seiner Kappe immer wieder zu erneuern. Vertreiben kann man es mit einem Bibelzitat.«
Wagner war zu sehr Naturwissenschaftler, um bei solchen Aussagen nicht die Augen zu verdrehen. »Ich meine keinen Kobold oder bösen Geist, sondern eine teuflische Kraft, die in der Psyche eines kranken Menschen steckt und ihn zu Grausamkeiten treibt.«
»Einerlei«, sagte Werpel. »Es ist jedenfalls blutdürstig.«
»Also suchen Sie mit aller Kraft den Mann, der von ihr befallen ist!«, rief der Stadtphysicus. »Damit mich der Leichen-Commissarius nicht zu weiteren aufgeschlitzten Leibern rufen muss.«
Werpel schnappte sich also den Constabler Krause, um mit ihm gemeinsam zur Wilhelmstraße 97 zu laufen.
»Warum mussten Se denn jrade mir nehm?«, fragte Krause. »Imma bin ick der Dumme.«
Werpel schmunzelte. »Selbsterkenntnis ist der erste Weg zur Besserung.«
Krause strahlte. »Ach so, ick soll befördert wer’n. Na, denn isset wat anderet.«
Bei Willibald Alexis in der Wilhelmstraße 97 wollte sich Werpel noch einmal den Tatort ansehen und ließ sich und den Constabler von der Gattin des