Der Berliner Jargon. Jan Eik
das eigene Selbstbewusstsein, einem Spiel mit den Konventionen. Der Erfolg Ostberliner Politiker und Künstler war eng verbunden mit dem Bekenntnis zu ihrer berlinischen Herkunft, von Gregor Gysi über Regine Hildebrandt bis zu dem Radiomoderator Jürgen Kuttner, der Sängerin Bettina Wegner und dem Kultregisseur Frank Castorf. Berliner Dialekt zu sprechen signalisiert Unangepasstheit und Treue zu sich selber. Bei Gysi reichte ein »Wissense« oder »Sehnse mal«, um seine intellektuellen Gedankengänge realitätsnah und seine Gegner trocken erscheinen zu lassen, Castorf demonstriert künstlerische Mondäne in einer Sprache, die das Nest nicht verleugnet.
Heutzutage zu berlinern bedeutet, sich gegen ein monotones Sitten-Design zur Wehr zu setzen – das kann sich nicht jeder leisten.
Der Berliner Dialekt wird verschwinden. Wie die großen Industriebetriebe nun auch aus Ostberlin verschwinden und mit ihnen die übriggebliebenen Arbeiter, die nicht mehr in der Eckkneipe ihr Bier trinken, sondern Caipirinha in der Cocktailbar. Er wird verschwinden in dem Maße, wie die Uniformierung der Mitte fortschreitet, deren Vertreter reden wie die Zeitung, die sie gerade lesen, also wie gedruckt. Der Berliner Dialekt kapituliert vor dem Reinheitsgebot einer Gesellschaft, die Angst vor der Authentizität hat. Doch wehe einem Berlin, in dem keiner mehr nüchtern feststellt: Allet Mache.
Das Berlinische an sich und als solches Dialekt und Vorurteil
Berlinisch, oder noch schlimmer, Berlinerisch pur – was bleibt übrig von dieser vielgeschmähten Mundart, schließt man das verballhornte Französisch unserer Vorfahren und das Jiddische als Haupteinflüsse aus, die von Ewald Harndt und Andreas Nachama grundlegend behandelt worden sind? Die slawischen Sprachen – Sorbisch oder Wendisch (Berlinisch: Was wissen Sie von den alten Wenden? – Det der Putz abfällt), Tschechisch und vor allem Polnisch und nach 1945 ein bisschen Russisch. Dazu viel Amerikanisch und Denglish. Der übergroße Rest, soweit nicht vor Ort erfunden, ist Niederdeutsch, mit frühen niederländisch-flämischen Einflüssen und – das lesen echte Berliner besonders gerne – Obersächsisch.
Im Westen erschien 1984 das Ergebnis einer »mit Unterstützung des Berliner Senats im Rahmen des Förderungsprogramms Berlin Forschung finanzierten […] zweijährigen soziolinguistischen Untersuchung zum gesprochenen Berlinisch«, im Osten legten die vereinten Sprachwissenschaftler der Akademie der Wissenschaften der DDR, des Märkischen Museums und der Sächsischen Akademie der Wissenschaften 1986 eine gründliche Geschichtliche Einführung in die Sprache einer Stadt vor. Populärwissenschaftliche Wörterbücher folgten auf beiden Seiten, und seit 2001 liegt das Berlin-Brandenburgische Wörterbuch komplett vor.
Da kommt unsereins als autodidaktischer Nicht-Germanist natürlich nicht mit. Von dem Berliner Chirurgen, Philosophen, Forstwissenschaftler und Erfinder des deutschen Stahlhelms August Bier (1861 bis 1949) stammt die (in unterschiedlichen Fassungen überlieferte) Äußerung: »Jedes Ding lässt sich von drei Seiten betrachten, von einer wissenschaftlichen, einer juristischen und einer vernünftigen.« Daran wollen wir uns halten. Erwarten Sie also kein Traktat über den Berliner Jargon als sprachsoziologisches und sozialpädagogisches Kommunikationsphänomen an sich und als solches in Geschichte, Gegenwart und Kunst sowie in seinen globalen Auswirkungen auf das digitale Zeitalter human verschuldeter Klimakatastrophen. Der Verfasser bekennt sich als gebürtiger Berliner auf höchst subjektive Weise zu seiner Muttersprache, und er weiß natürlich auch um die unterschiedliche Ausprägung der Mundart in den verschiedenen Stadtteilen und im Umland. In O 112 geboren und in Lichtenberg aufgewachsen, vertraut er den Kindheits- und Jugenderinnerungen aus Mitte, Neukölln, Wedding, Kreuzberg und Prenzlauer Berg, den Korrekturen der in N 113 gebürtigen Ehefrau, vor allem aber der Sprache von Mutter und Großmutter, die im Verlauf ihrer, zusammengerechnet, immerhin 173 Lebensjahre auf die stolze (und im alten Berlin keineswegs ungewöhnliche) Zahl von mindestens fünfzehn beziehungsweise achtzehn Umzügen zwischen Kreuzberg und Köpenick zurückblicken konnten.
Misstrauen bleibt dennoch angebracht, denn die Sprache ist ein höchst lebendiges und eigenwilliges Wesen. Das fundamentale Werk zur berlinischen Sprachgeschichte ist mehr als achtzig Jahre alt und stammt von Agathe Lasch, Deutschlands erster Germanistik-Professorin. Agathe Lasch (1879 –1942), von den Nazis nach Riga deportiert und dort am Tag ihrer Ankunft ermordet, hat immerhin das Berlinische zur Mundart oder vielmehr zum Dialekt geadelt, was sich bis heute nicht überall herumgesprochen zu haben scheint. Nun ist aber laut Professor August Bier ein Professor derjenige, der anderer Ansicht ist. Dennoch hält das meiste, was die gebürtige Berlinerin Agathe Lasch in Jahrzehnten so verdienstvoll zusammengetragen hat, noch heute wissenschaftlicher Prüfung, vor allem aber dem berlinischen Sprachgefühl stand.
Ob das vorliegende Büchlein solchen Ansprüchen ebenfalls genügt, sei dahingestellt. Für alle, die es ohnehin besser wissen, ist es möglicherweise eher zur Pflege ihres Bluthochdruckes geeignet.
Immerhin wollen wir mit einem nicht zu widerlegenden Satz der neueren Sprachforschung beginnen: »Erst durch die Vertreter der sozialen Dialektologie sind die Stadtdialekte als Forschungsdesiderat in den Brennpunkt linguistischen Interesses gerückt« – wat uff jut Berlinisch heißen soll: Jahrzehntelang hat sich keen Aas drum jekümmert. In den späten Achtzigern des vorigen Jahrhunderts allerdings mutierte Berlins Jargon in seiner halben Heimatstadt Westberlin – wo die ganzen Loite halt längst eine bizarre Abart nordund südwestdeutscher Dialekte übernommen hatten und für gängiges Hochdeutsch hielten – sogar zum Schulstoff. In Ostberlins Schulen hingegen war er (zumindest außerhalb des Unterrichts) Sprachpraxis. Berliner nicht so schrecklich! ist eine Mahnung, mit der seit mehr als hundert Jahren beinahe jedes Kind in der Stadt aufgewachsen ist – egal ob in Ost oder West. Unter halbwegs gebildeten Westberlinern und solchen, die sich dazu rechnen, gilt das Berlinische allerdings als ein besonders verwerfliches Kennzeichen des Ostens und des Prekariats. Die Kinder werden es ihren Eltern danken: Sie beherrschen die Sprache ihrer Heimatstadt nicht mehr. Dabei handelt es sich laut der freien Online-Enzyklopädie Wikipedia um einen der seltenen (!) »Metrolekt[e]«, und was selten ist, hat doch gewöhnlich einen hohen Marktwert.
Bei Metro denkt der gebürtige Berliner sogleich an die süddeutsch-österreichischen Sprachverbieger, die um die Jahrtausendwende meinten, Berlins Nahverkehr neu ordnen und benennen zu müssen, und dafür Unwörter wie Metro-Tram erfanden. In den guten alten Zeiten (die so gut nun auch nicht waren, wie der Autor sehr wohl weiß) hieß die Straßenbahn schlicht Elektrische und erzeugte die zum Fahren erforderliche Elektrizität durch die Reibung mit der Oberleitung, wie manche Berliner glaubten. Woher aber kam der Strom zum Anfahren? – Dafor hat der Mann ja vorne die Kurbel!, lautete die einleuchtende Antwort.
Womit wir bei dem wären, was das Berlinische neben seiner multikulturellen Verwurzelung insbesondere ausmacht: dem ihm innewohnenden lakonischen Witz, der drastischen Über- oder Untertreibung, der Berliner Schnauze. In einer Buchhandlung in Warschau begegnete mir ein Mann, der verzweifelt ein gutes Deutsch-Polnisches Wörterbuch suchte. Er wollte einen Text übersetzen und scheiterte an dem Begriff Berliner Schnanze. Dass es sich um einen Druckfehler handelte, wollte ihm nicht einleuchten. »Schnauze – das heißt so beim Hund …«, lautete sein Einwand.
Er kannte eben die Berliner nicht. Bei denen vermag sogar noch Halt die Fresse, Herzchen! eine Spur von Zuneigung auszudrücken.
Die verdruckte Schnanze stand übrigens in einem Plattentext mit Liedern von Marlene Dietrich.
Dennoch oder gerade wegen solcher Besonderheiten ist das Berlinische – wie das Sächsische, dem eine ähnlich enge Beziehung zur Komik anhaftet – nie zu einer wirklichen Literatursprache aufgestiegen. Kein Politiker vor Regine Hildebrandt oder Gregor Gysi hat je gewagt zu berlinern, während die Sachsen wenigstens auf den unerschrocken piepsenden Zaunkönig Ulbricht verweisen dürfen. Von anderen, in Politik und Medien beliebten Dialekten wollen wir aus Höflichkeit schweigen. Wer da unbelehrbar schwäbelt oder sich des Rheinisch-Ripuarischen bedient, nicht zwischen Kirche und Kirsche oder als und wie zu unterschieden vermag, gilt in Berlin schnell als zu bequem oder zu hochmütig, um Hochdeutsch lernen und sprechen zu wollen, wie wir es können – wenn wir nur wollen. Allenfalls räumen wir den unverbesserlichen Bayern das Recht auf ein eigenes Idiom ein.
Das