Das Geheimnis der Väter. Daniel Eichenauer
sagte eine innere Stimme zu mir. Ich bäumte mich auf. Warum sollte Neele so etwas tun? Das ist deine gerechte Strafe! Woher nimmst du das Recht, glücklich sein zu wollen? Glück muss man sich erarbeiten! Und was hast du bisher dafür getan?
Mehrmals hatte ich schon gedacht, Neeles Auto gesehen zu haben, als ich vor meiner Wohnung auf sie wartete. Aber die Wagen hatten ihrem auf den zweiten Blick nicht einmal farblich geglichen. Siehst du!, höhnte die innere Stimme, als ich mich wieder einmal getäuscht hatte. Doch dann bog Neele tatsächlich um die Ecke.
«Siehst du!», äffte ich meine zweifelnde Stimme laut lachend nach und zeigte ihr eine lange Nase. Sie war besiegt! Hoffentlich ein für alle Mal. Vor mir lag eine wunderbare Zukunft mit einer wundervollen Frau. Überglücklich stieg ich zu Neele ins Auto und stellte mir vor, wie mein innerer Widersacher allein auf dem Bürgersteig zurückblieb. Auf dass es ihm eine Lehre sein mochte! Mich umzudrehen, um mich zu vergewissern, dass ich ihn wirklich abgehängt hatte, traute ich mich allerdings nicht. Zu groß wäre die Enttäuschung gewesen, wenn ich mich getäuscht hätte.
Ich freute mich darauf, das ganze Wochenende auf einem Schloss zu verbringen. Bei der Ankunft erwartete uns bereits die mecklenburgische Dunkelheit. Aber sie vermochte es nicht, die Schönheit des abgeschiedenen Ortes unter ihrem langen schwarzen Mantel zu verstecken. Die kunstvolle Beleuchtung des alten Schlossguts Groß Schwansee und des rustikal verzierten Stalls unterstrich die würdevolle Atmosphäre. Vom Balkon unseres Zimmers aus konnte man die Sterne sehen, so klar war der Himmel und so dunkel die Umgebung. Wir genossen den Anblick und lauschten der Melodie der Stille. Einzig das entfernte Rauschen des Meeres war zu hören. Die Luft schmeckte frisch, ein wenig salzig und mit einer Prise Alge versetzt. Die Pappeln raschelten, ihre Silhouetten zitterten im Mondschein. Das spärliche Licht ließ den Park nur erahnen.
Wir gingen zurück ins Innere und nahmen auf dem Sofa Platz. Neele schlängelte sich um mich herum, als ob ihr Körper ohne Knochen auskäme. Ich öffnete eine Flasche Champagner. Worüber wir sprachen? Ich weiß es nicht mehr. Ich genoss ihre Gegenwart. Allmählich verloren unsere Berührungen an Schüchternheit, sie wurden intensiver und vertrauter. Meine Hände streiften ihren Oberschenkel, meine Lippen küssten ihren Hals. Wir sanken aufs Bett. Champagner perlte auf ihrem Körper. Meine Hand glitt in ihren Schoß. Sie stöhnte. Einige Zeit später schliefen wir erschöpft ein.
Mitten in der Nacht wurde ich aus dem Schlaf gerissen. Neele war hochgeschreckt und starrte aus dem Fenster in die Dunkelheit hinaus. Sie war aufgewühlt. «Mein Gott», hörte ich sie leise ausrufen, «jetzt weiß ich, woher ich den Namen kenne!»
Vom Schloss führte eine Allee zum Strand. Durch die Baumwipfel konnte man das Wasser schon von Weitem erkennen. Das Wetter war umgeschlagen. Der Wind blies heftig und kalt. Er zerpflügte das Meer nach seiner Façon. Schaumkronen tanzten auf den riesigen Wellen, die gierig am Strand leckten. Auf der anderen Seite der Bucht lag Travemünde fast unsichtbar hinter den tief hängenden Wolken. Der Sturm presste salzige Meeresluft in unsere Lungen. Ich brüllte ihn an und war ob seiner Lautstärke doch so klein und unwichtig, dass Neele neben mir mein Gebrüll nicht einmal wahrnahm. Auf der wütenden See hatten einige übermütige Schwäne einen Riesenspaß. Sie bewegten sich zur Musik des Meeres, begleitet vom prächtigen Farbenspiel der wenigen Sonnenstrahlen, die sich ihren Weg durch die Wolken erkämpften. Ein einzelnes Boot mit Sturmsegel bahnte sich entgegen aller Vernunft seinen Weg durch die Wellen. Vor uns lag die Steilküste. An einer geeigneten Stelle kletterten wir empor und blickten hinab.
«Kannst du dir vorstellen, dass sich dieser friedliche Ort vor gar nicht so langer Zeit ganz anders präsentierte? Bestens bewacht und abgesichert? Für niemanden zugänglich und doch Schauplatz zahlreicher Fluchtversuche?», sinnierte Neele laut. «Schau mal da vorne zum Beispiel», sagte sie und schlang einen Arm um meine Hüfte, während sie mit der anderen Hand direkt vor meiner Nase herumfuchtelte und auf irgendeinen Punkt am Strand zeigte. «Da vorne stieg bestimmt ein junger Mann mit seiner Liebsten ins Wasser, um sich ans gegenüberliegende Ufer abzusetzen. Flucht in den Westen. Schon Monate zuvor schlichen sie deswegen heimlich hier umher und erkundeten die Umgebung. Eines Nachts, es war stockfinster, der Mond war von Wolken bedeckt, glitten sie gemeinsam ins Wasser. Sie waren jung und gut trainiert, schwammen los und ließen alles hinter sich.»
«Ich liebe deine Fantasie!»
«Ach, tu nicht so!», schmollte sie. «Du hast ja recht, Männer mögen lieber Technik. Also gut, vielleicht benutzten sie diese Propellerbrettchen, die man aus Agentenfilmen kennt.» Sie lachte, umkreiste mich, zog mich an sich und küsste mich, bevor sie mir zuhauchte: «Wenn es die damals schon gab …»
«Dir ist ja heute sehr agentisch zumute», stotterte ich.
«Ich bin zu einer Hobbyagentin geworden.» Sie entfernte sich von mir mit herausforderndem Blick, streckte mir die Hand entgegen und zog mich zu sich. Dann erzählte sie mir von ihrem Vater und ihren Nachforschungen.
Hilmar van Lenk, 1985
Hilmar van Lenk brach jeden Abend zur gleichen Zeit zu einem Spaziergang mit dem Familienhund Schlünz auf. Besonders mochte er den Herbst, nicht nur seiner Farbenpracht wegen, sondern auch wegen der ungefesselten Kräfte der Natur. Starker Wind und kräftiger Regen zogen ihn hinaus in den Wald und zu den kleinen Wiesen. Der Regen machte ihm nichts aus, im Gegenteil, er war das Besondere. Hilmar von Lenk liebte den Regen. Er liebte ihn nicht um seiner selbst willen, er liebte ihn, weil er in ihm die Sehnsucht nach dem warmen Heim mit den hellen Fenstern, dem Kamin mit dem prasselnden Feuer und dem Sofa mit der weichen Decke weckte. Sehnsucht, davon war er überzeugt, war keine unangenehme Empfindung, die es zu bekämpfen galt. Sehnsucht lieferte ihm Energie, Sehnsucht führte ihm den Wert seines Lebens erst vor Augen.
Hilmar unternahm Ausflüge, um zurückzukehren. Selten fühlte er sich so frei wie in diesen Momenten, deshalb genoss er sie. Im Alltag überkam ihn häufig ein Gefühl der Enge, obwohl ihn weder seine Familie noch seine Arbeit einengten, im Gegenteil, sein Leben war wunderbar. Er hatte eine liebevolle Frau und eine zauberhafte kleine Tochter, er ging in seinem Beruf auf und kam mit seinen Kollegen gut aus. Es war das Leben in dieser Stadt, die von einer Mauer umgeben war, das ihm die Luft zum Atmen nahm. Die physische Enge, das bloße Bewusstsein, eingeschlossen zu sein, schnürte ihm die Kehle zu. Wie oft hatte er darüber nachgedacht, hinaus aufs Land nach Westdeutschland zu ziehen! Aber seine Tätigkeit als Journalist konnte er nur hier so ausüben, wie er es sich vorstellte.
Wenn er an einem typischen Herbsttag abends im Dunkeln unterwegs war, freute er sich über die Einsamkeit. Dann konnte er sicher sein, dass ihm weder auf der Straße noch im Wald jemand begegnete. Keine verliebten Pärchen, die einen «total verrückten» Spaziergang im Sommerregen unternahmen. Selbst der Hirsch würde ihn nicht stören, denn auch der hatte sich an einen trockenen Ort verkrochen.
Am regnerischen Abend des 18. Oktober 1985 trug Hilmar van Lenk seinen gelben Friesennerz, den er so lieb gewonnen hatte. Allen Familienmitgliedern hatte er solch einen praktischen Mantel geschenkt, dennoch wollten ihn Tochter und Frau nie auf seiner Runde begleiten. Selbst der Hund konnte bei diesem Wetter nur schwer dazu bewegt werden.
Hilmars Weg führte ihn an der einzigen Kneipe im Dorf vorbei. Durch die beleuchteten Fenster konnte er die Silhouetten der Gäste erkennen, Musik und Gelächter drangen nach draußen. Sehnsucht. Gehen, um zurückzukehren.
Schlünz hatte den Schwanz eingezogen und trottete mit hängendem Kopf neben ihm her. Als sie die Straße nach Stölpchensee erreichten, traute Hilmar van Lenk seinen Augen kaum: Trotz des schlechten Wetters kam ihm jemand auf der gegenüberliegenden Straßenseite entgegen, auch er führte einen Hund mit sich. Im schwachen Licht der Gaslaternen konnte Hilmar van Lenk die Umrisse der Person nur vage erkennen, sie schien keine Notiz von ihm zu nehmen. Er beschleunigte seinen Schritt.
Plötzlich, er hatte bereits die Brücke über den Teltowkanal überquert, hörte er einen dumpfen Aufprall. Er drehte sich um und horchte. Niemand schrie, niemand machte sich bemerkbar. Angestrengt schaute er in die Dunkelheit – nichts. Dann wandte er den Blick wieder nach vorne und setzte seinen Weg in Richtung seines Hauses fort.
Er fand seine Familie vor dem