BRISANTES ... Worüber man(n) nicht spricht. Regina Page
Teufelsaustreibung vor dem Altar
Ein persönliches Wort der Autorin
ANNIS LETZTE LIEBE
Der Himmel wusste nicht, wie er sich entscheiden sollte. Die Nebelschwaden lösten sich an diesem Montagmorgen nicht auf. Gina hörte von Weitem Kinderstimmen. Mädchen und Jungen, die auf dem Weg zur Schule waren. Die Schüler hatten sich vom Wochenende viel zu erzählen. Ein Gemurmel von Nahem, und doch konnte sie nichts als einige Schatten erkennen. Eilige Gestalten, die alle denselben Weg einschlugen.
Gina war es gewöhnt, am Morgen allein durch die Straßen zu gehen. Sie machte ihre Spaziergänge und Besuche bei Freunden in den Vormittagsstunden. An diesem Morgen war sie früher als gewohnt unterwegs.
Je näher sie den Stimmen kam, umso lauter klangen sie in ihren Ohren. Wie von Zauberhand geführt stand Gina plötzlich vor dem Gebäude der Schule. Ein Pulk von Mädchen und Jungen, die sich durch das Tor zur Schule schubsten, verhinderte, dass sie ihren Weg fortsetzen konnte. Gina sah nach oben, aber der Himmel ließ keinen Sonnenstrahl durch die dicke Nebelsuppe.
Die Schulkinder waren im Schulgebäude angekommen, da klingelte die Glocke zum zweiten Mal. Die Stimmen verhallten. Es war still. Von Ferne hörte Gina das Hupen der Autos. Sie ging jeden Tag ebendiesen Weg, doch nur heute fielen ihr die lauten Geräusche auf. Eigentlich lag ihr das Leben in der Kleinstadt – mittlerweile. In der Großstadt aufgewachsen, war es für sie zunächst ein Gewöhnungsprozess über Jahre gewesen. Gina hatte einige Freundinnen in der Stadt, die ihr die neue Heimat angenehmer machten. Und wenn die Zeit es ihr erlaubte, machte sie auch bei Anni Besuche. Heute führte sie ihr Weg aus irgendeinem unerklärlichen Grund zu Anni.
An der Haustür angekommen, sah sie, bevor sie die Klingel betätigte, gen Himmel. Ein kleiner Sonnenstrahl, der sich durch die Wolken hindurchkämpfte, ließ Gina lächeln. Ein schöner Moment, dachte sie und blickte erneut in den verhangenen Morgenhimmel.
Die Freundinnen, die sie besuchte, lebten allein, waren verwitwet oder hatten sich von ihren Lebenspartnern getrennt – und waren allein mit ihren Sorgen des Alltags geblieben. Anni, die von der späten Liebe überzeugt war, in Glückseligkeit dahinschmolz und so träumerisch ihren Tag verbrachte, war über beide Ohren verknallt. Seit Monaten wartete sie darauf, einmal mit ihm in den Morgenstunden oder im Wechsel am Abend sprechen zu können. Die Liebe zu ihm, die tägliche Sehnsucht und die hohe Erwartung, die sie an ihren geliebten Wahrsager stellte, waren groß. „Manchmal ist er auch im Fernsehen“, erzählte sie zwischen einem kurzen Abbeißen vom Butterbrot und einem Schluck Kaffee. In dieser Erwartung blieb sie, in ihrem Morgenmantel warm verpackt, in ihrem Sessel sitzen. Dieser Wartezustand konnte schon mal den ganzen Tag anhalten.
Auch an diesem Morgen saß Anni am Tisch im Wohnzimmer und bereitete ihr Frühstück vor. Sie schmierte sich die zweite Scheibe Graubrot mit ihrer Lieblingsmargarine und etwas Marmelade obendrauf, machte sich eine Tasse Kaffee aus ihrem Kaffeeautomaten und begann den neuen Tag wie jeden Morgen. Gina war gerade erst bei ihr angekommen, da sprach sie schon mit vollem Mund – die halbe Scheibe Brot schob sie dabei noch hinterher. „Willst du auch einen Kaffee? Dann mache ich dir einen. Mit meiner Espressomaschine geht das sehr schnell.“
„Danke, gerne“, erwiderte Gina.
Etwas behäbig stand Anni an ihrem Tisch auf. „Einen kleinen oder willst du lieber einen großen?“
„Ein kleiner reicht.“
Anni schien nicht ausgeruht. Die Nacht verlief für sie kurz, erzählte sie mit mürrischem Gesicht. Sie konnte nicht durchschlafen.
Ihr Körpergewicht war weit über dem Normalgewicht einer Fünfundsiebzigjährigen. So wälzte sie sich in den Nächten hin und her. Auch bekam sie schlecht Luft. Der Morgen verlief bei ihr dementsprechend lustlos. „Was willst du denn schon hier …?“, hatte sie bereits an der Wohnungstür mürrisch gefragt.
Gina störte sich nicht daran.
Obwohl sich Anni des Nachts an ein Atemgerät anschließen sollte, vergaß sie es oft. Sie schlief einfach ein und so wurde aus dem Auflegen der Atemmaske nichts. Zwar hatte sie eine ärztliche Anordnung erhalten, aber sie nahm es mit ihrer gesundheitlichen Vorsorge nicht so genau. Der Fernseher lief den ganzen Tag. Selbst wenn das Abendprogramm vorbei war, saß Anni noch in den Nachtstunden vor dem Apparat und verfolgte die Astro Show. Der Versuchung konnte sie nicht widerstehen.
Maria wartete auf den Auftritt von Hermann. Vor drei Jahren hatte sie aus Verdruss in der Show angerufen. Nun wollte sie wissen, wie es weiterging in ihrem Leben. Die Verlockung war groß gewesen und der erste Anruf kostenfrei. Doch beim ersten Anruf blieb es nicht, sie wollte mehr wissen über ihr Leben. Wie ging es weiter mit ihr und ihrer Liebe zu ihm?
Gina hörte ihr zu. „Er ruft einfach nicht mehr an“, sagte Anni traurig. „Es ist bestimmt Schluss mit ihm.“
Gina fragte nach: „Wen meinst du? Hast du dich verliebt?“
Anni gestand ihre Liebe zu Hermann. „Wir sind jetzt zusammen.“
„Wie – du bist mit ihm zusammen?“, fragte Gina nach.
„Ich weiß einfach nicht, warum er sich nicht mehr bei mir meldet, es sind schon Wochen vergangen, seit wir uns das letzte Mal gesprochen haben“, erzählte Anni weiter. Er hatte ihr beim letzten Gespräch eine Menge versprochen. „Wir bleiben zusammen, nur habe ich viel zu tun“, hatte Hermann versichert. „Daher kann nicht immer anrufen.“
Anni war unglücklich, erzählte weiter von „ihrem Hermann“. Sie würde ihn jetzt beim Sender anrufen, sie wollte endlich wissen, wie es um ihre Liebe stand und wie es weitergehen sollte. Wollte wissen, ob er auch so wie sie empfand. „Da muss etwas passiert sein, sonst hätte er sich gemeldet“, sagte Anni, als sie Gina beim Abschied zur Tür brachte.
Auf dem Weg nach Hause kam Gina der Gedanke, dass Anni wohl einem Abzocker auf den Leim gegangen war. Was gaukelt dieser Hellseher nur dieser Frau vor? Anni ist fünfundsiebzig Jahre alt und der erzählt ihr etwas von Zusammensein, erzählt ihr etwas von einer gemeinsamen Zukunft. Macht ihr große Hoffnung, sie würde bald zu Geld kommen und in Kürze die große Liebe erfahren.
Es machte Gina wütend und sie fragte sich, was sie gegen diesen Hermann unternehmen könnte. Es war ihr Optimismus. Anni glaubte dem Wahrsager. In ihr wurden Sehnsüchte geweckt, von denen sie bis dahin nicht einmal geahnt hatte, dass es diese Gefühle überhaupt gab. Anni konnte es nicht einordnen. Sie spürte es. Erotik spielte beim Gespräch mit ihm eine große Rolle. Ein Feuer, das in ihr zu brennen begann, sobald sie seine Stimme hörte. Das alles war neu für sie. Hoffnungen, die Anni in Rechnung gestellt wurden. Beim nächsten Besuch wollte Gina Anni vorsichtig fragen, wie sie sich das vorstellte. Ein Mann erzählte ihr das alles am Telefon, ein Mann, den sie noch nie gesehen hatte. Er weckte unerfüllte Wünsche in ihr. Vielleicht könnte sie Anni dazu bringen, dass sie diesen Menschen nicht mehr anrief.
Gina besuchte Anni schon nach wenigen Tagen. In Sorge um sie wollte Gina sie nach ihrem Telefonfreund fragen.
„Hallo, wie geht es dir? Schön, dass du kommst“, wurde Gina freudestrahlend begrüßt. Anni war in heller Aufregung: „Wir wollen uns treffen, stell dir das mal vor. Ich fahre in die Hauptstadt und er kommt etwas später dazu.“
„Du hast ihn doch noch nie kennengelernt. Wie willst du wissen, ob das gut geht?“
„Ja, ja, ich habe ihn im Fernsehen schon gesehen, als ich mit ihm telefoniert habe“, antwortete Anni. Sie war voller Enthusiasmus. „Er hat mir noch einmal gesagt, dass wir zusammenbleiben, erst gestern sagte er es.“
Er weckte in ihr das, was sie in