Die Hirntod-Falle. Richard Fuchs
stark. Anlässlich der Preisverleihung an Barnard beim 5. Europäischen Kongress der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS), 1985, sprach er sich für die passive und aktive Sterbehilfe aus. Im Kongressbericht wird er mit den Worten zitiert:
»Ich schäme mich nicht, einzugestehen, dass ich passive Sterbehilfe praktiziert habe. Ich weiß nicht wie oft, ich habe das nicht gezählt; ich schäme mich jedoch nicht, es zu sagen, und bitte niemanden dafür um Vergebung, dass ich zugebe, passive Sterbehilfe praktiziert zu haben. Ich habe sie sogar bei meiner eigenen Mutter angewandt.« Und weiter: »Was ist eigentlich der Unterschied zwischen passiver und aktiver Sterbehilfe? Es ist schwierig, einen echten Unterschied zwischen diesen beiden Begriffen herauszuarbeiten (…). Ich sehe sehr wenig Unterschied zwischen dem bewussten Akt der Unterlassung, der ausschließlich den Tod bezweckt, oder dem bewussten Akt einer begangenen Handlung, die dem gleichen Ziel dient. (…)
In einigen Ländern kann es für die Familie zu einer enormen finanziellen Belastung werden, wenn man einen Patienten mit allen Mitteln am Leben erhält – eine Belastung, die völlig sinnlos ist. Ich glaube also, dass Sie mir zustimmen werden, dass es für die aktive Sterbehilfe durchaus einen Bedarf gibt. Wir brauchen sie. (…) Ich glaube nicht, dass es richtig ist, wenn die Familie allein die Entscheidung trifft. Ich finde, dass die Familie damit unnötig belastet wird, und ich halte es auch für falsch, mit ihr den Augenblick der aktiven Sterbehilfe zu bestimmen. Das ist etwas, was allein von den Ärzten entschieden werden sollte, und die Injektion sollte gegeben werden, ohne dass die Familie oder der Patient weiß, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, wo der Arzt eine Spritze gibt, die es dem Patienten erlauben wird, zu sterben.«
1985: Hochkonjunktur für Zyankali in Deutschland
1985 war die Zeit, als in Deutschland Zyankali Hochkonjunktur hatte und Millionengewinne versprach. Im selben Jahr wurde die Frage offiziell gestellt, ob der § 216 des Strafgesetzes (»Tötung auf Verlangen«) novelliert werden sollte. Ausgelöst durch Gerichtsurteile hatte der Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages zu diesem Zweck Experten geladen.49 Es lag sogar ein Änderungsentwurf für § 216 StGB vor, der ein Jahr später publiziert wurde. Geladen waren u. a. auch die damaligen Protagonisten der aktiven Sterbehilfe, Hans Henning Atrott, Präsident der DGHS, der später verurteilt wurde, Prof. Dr. Julius Hackethal (1921 – 1997) (ging später auf Distanz zur aktiven Sterbehilfe) und Prof. Dr. Herbert Jäger (1928 – 2014) von der Humanistischen Union. Letzterer verstieg sich ganz im Sinne von Barnard zu dem Vorschlag: »Ernstlich zu überlegen ist, ob in Fällen, in denen eine tödliche Erkrankung einen endgültigen, durch Heilbehandlung nicht mehr zu beeinflussenden Verlauf genommen hat, der Arzt nicht sogar zu Maßnahmen indirekter, auch lebensverkürzender Sterbehilfe verpflichtet sein soll, wenn der Patient sie nicht ausdrücklich abgelehnt hat.«50 Analog zu Jägers heimtückischem Vorschlag ist die gesetzliche Widerspruchslösung bei der Organtransplantation zu sehen. Man könnte sie auch als eine Art Falle betrachten.
Christiaan Barnard: Fetozid bei Neugeborenen mit Missbildungen
In seiner Rede zur Preisverleihung der DGHS befürwortete Barnard mehrfach die Verletzungen des deutschen Strafrechtes, das Töten von Menschen unter Strafe stellt. Während der australische Bioethiker Peter Singer, wann immer er eine Deutschlandtournee plante, mit heftiger Kritik zu rechnen hatte, sprach sich Barnard ebenso wie Singer öffentlich für einen Fetozid bei Neugeborenen mit »angeborenen Missbildungen« aus, die »mit der Lebensqualität unvereinbar sind«. »Ich würde ein solches Kind sterben lassen, weil es nicht die Aufgabe des .Arztes ist, Leben zu verlängern, sondern die Lebensqualität zu verbessern. Und wenn mir das nicht möglich ist, würde ich dieses Leben, dieses Dasein, enden lassen.« Demselben Kongressbericht sind Theorien zu »Das Recht auf einen selbstbestimmten Tod« des Düsseldorfer Philosophieprofessors Dieter Birnbacher zu entnehmen.
DIE GEBURT DES »HIRNTODES«
»Der Tod als die Gränze der natürlichen Rechtsfähigkeit ist ein so einfaches Naturereignis, daß der selbe nicht, wie die Geburt, eine genauere Feststellung seiner Elemente nöthik macht.«
Friedrich Carl von Savigny (1779 – 1861), in: System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 2, 1840, S. 17.
»Der von der Bundesärztekammer geforderte Nachweis von Koma, fehlende Atmung und Ausfall der sogenannten Hirnstammreflexe beweist – auch bei peinlicher Verfolgung aller Ausschlusskriterien – nicht den Ausfall sämtlicher Hirnfunktionen.«
Dr. med. Martin Klein, Arzt für Neurologie, Stellungnahme zur Anhörung des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestages am 25. 9. 1996. Ausschussdrucksache 579/13.
Wann immer in einer rechtlichen Grauzone normative Fakten geschaffen werden, sind Ethikkommissionen als Dienstleistende mit Argumentationshilfen nicht weit, wie z. B. bei der Rechtfertigung der Gleichung Hirntod = Tod. Dennoch verbieten de facto und auch per definitionem sowohl der hippokratische Eid als auch die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, die das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG garantiert, das Töten von sterbenden Patienten. Das bestätigt auch das Strafgesetz. Jede andere Sichtweise würde auf eine sanktionierte Tötungshandlung hinauslaufen. Diese Feststellung hinderte den Gesetzgeber aber nicht daran, diese Hürden mit terminologischen Tricks zu überspringen: Nach seiner Ansicht sind noch lebende Organspender bereits »Verstorbene«, wie die folgende Argumentation zeigt.
Während des Gesetzgebungsverfahrens 1996 hatte das Bundesministerium des Innern in einem Schreiben51 die Bundesministerien für Gesundheit und für Justiz darauf aufmerksam gemacht, dass die Entnahme von Organen nur bei zweifelsfrei nicht mehr Lebenden gesetzlich zugelassen werden dürfe. Wer aber eine rechtlich logische Konsequenz erwartete, die sich aus dieser Aussage hätte ergeben können, sah sich getäuscht. Dr. Dieter Schnappauf, der Verfasser des Schreibens, empfahl nach allem vorher Gesagten im Hinblick auf die strittige Todesdefinition, man solle die Überschriften des entsprechenden Abschnitts im Gesetzentwurf eindeutiger formulieren als »Spende und Entnahme von Organen bei Verstorbenen«. Wenn die Definition des Todes offengelassen würde und der Lebensschutz des erstrebten Vorteils willen relativiert werde, sei die Wirkung, die davon ausgehe nicht nur »verfassungspolitisch fatal, sondern im Hinblick auf die vorgenannten Anforderungen aus dem Rechtsstaatsprinzip verfassungsrechtlich nicht haltbar«.
Die Empfehlung zeigte Wirkung, nicht nur als Formulierungshilfe für Wortbeiträge in den darauffolgenden Anhörungen, der 1., 2. und 3. Lesung des Transplantationsgesetzes, sondern vor allem bei der Abfassung des Änderungsantrages vom 24. 6. 199752, der frühestens einen Tag vor der Abstimmung im Deutschen Bundestag von den Abgeordneten zur Kenntnis genommen werden konnte. Die Tatsache, dass sich der überwiegende Teil der herbeigeeilten Abgeordneten erst kurz vor der Abstimmung im Foyer des Plenarsaals bei den dort ausgelegten Drucksachen bediente, lässt die Vermutung zu, dass ein Teil von ihnen nicht im Detail darüber informiert war, über welche Antragsinhalte er abzustimmen hatte. Die Details des Änderungsantrages aber machten deutlich, dass die Antragsteller den Empfehlungen von Dr. Schnappauf gefolgt waren.
»Es ist nicht Sache des Staates, zu entscheiden, wann das Leben des Menschen endet«
Zu der Frage, ob der Gesetzgeber generell befugt ist, hier Entscheidungen zu treffen, äußerten sich verschiedene Staatsrechtler kritisch, wie zum Beispiel Professor Hans-Ullrich Gallwas aus München in der Anhörung des Gesundheitsausschusses im Deutschen Bundestag am 28. Juni 1995: »Es ist nicht Sache des Staates, zu entscheiden, wann das Leben des Menschen endet, ob der Hirntote schon ein Toter oder noch ein Sterbender ist.« Und später heißt es: »Dem Staat ist wegen der Verfassung verwehrt, menschliches Leben zu bewerten und je nach dem Ausgang der Bewertung das Grundrecht des einen dem Grundrecht des anderen zu opfern.53 Der Staat verpflichtet sich vielmehr zum Schutz der Persönlichkeit umso intensiver, je geringer der zeitliche Abstand zum Todeszeitpunkt ist. Denn der Patient vermag sich nicht mehr zu wehren.« In Deutschland wurde während des Gesetzgebungsverfahrens 1995/96 ausführlich debattiert und auch berichtet. In Harvard, USA, war es 1968 ad hoc in Fragen der Todesdefinition zu einer schnellen Lösung gekommen.
Unbeschadet