Wehre dich deiner Haut. Sigrid Uhlig
Paradies und zurück
VORWORT
Eine Familie, nennen wir sie Lehmann, lebte während der Teilung Deutschlands immer auf dem Gebiet der DDR. Nach der Wiedervereinigung mussten sich die Bürger neu orientieren. Viele Lebensumstände kannten sie nur aus Lehrbüchern und den meist verhassten Unterrichtsfächern Marxismus/Leninismus, Politische Ökonomie und Gesellschaftswissenschaften.
Nachdem die Euphorie abgeklungen war, stellten viele fest, dass die Gesellschaftsordnungen richtig beschrieben und interpretiert worden waren.
Die Kinder der Familie Lehmann zogen der Arbeit hinterher. Herr Lehmann starb, bevor er sein Rentnerdasein genießen konnte.
Erna Lehmann blieb allein zurück. Die Seniorin bemühte sich mit den täglichen, teils unbekannten Situationen klarzukommen.
ROTWEIN
Das Telefon klingelte. Erna nahm den Hörer ab. Eine angenehme Frauenstimme fragte: „Sind Sie Frau Lehmann, Erna Lehmann?“
„Ja.“
Mein Name ist Schumann vom Weingut Exzellenter Geschmack. Sie haben beim Preisausschreiben gewonnen. Unsere Vertreter sind in ihrer Nähe und möchten ihnen einen Präsentkorb überreichen mit allerlei Kostproben, extra für unsere Weinsorten entwickelt, gesalzene Nüsse, Kartoffelchips, verschiedene Käsehäppchen …“
Es folgten weitere Aufzählungen. Erna hatte Mühe, der Rednerin zu folgen und kam selbst gar nicht zu Wort. Schließlich wurde sie gefragt, was sie lieber trinken würde, Rot- oder Weißwein?
„Rotwein“, antwortete Erna, von dem Redeschwall immer noch ganz benommen. „Aber ich habe an keinem Preisausschreiben teilgenommen!“
„Es ist schon etwa ein Jahr her“, antwortete die angenehme Stimme. Wir haben eine Umfrage gestartet und der Computer hat per Zufall die Gewinner ermittelt. Darf unser Vertreter, Herr Klein, sie am ersten April um 15.00 Uhr besuchen?“
Erna warf einen Blick auf ihren Terminkalender. Nein, an diesem Tag geht es erst ab 18.00 Uhr.“
„Kein Problem“, meinte Frau Schumann, „18.00 Uhr, sie werden begeistert sein.“ Damit war das Gespräch beendet.
Erst jetzt kam Erna zum Nachdenken. Eigentlich blockte sie telefonische Gespräche sofort ab. Woher kannte diese Frau ihre Telefonnummer? Sie stand nicht im Telefonbuch. Zweifel machten sich breit. War es richtig, einen fremden Mann in ihre Wohnung zu lassen? Man las so oft in der Tageszeitung von Betrügereien. Sie rief eine Bekannte an und bat darum, sie möge bei dem Treffen dabei sein.
Am ersten April hatte Erna einen anstrengenden Tag hinter sich. Kurz nach 16.00 Uhr war sie nach Hause gekommen. Gerade hatte sie den Mantel ausgezogen, als es an ihrer Wohnungstür läutete. Sie öffnete. Ein Mann, etwas kleiner als sie selbst, aber von kräftiger Statur, bepackt wie ein Lastesel, begrüßte sie schmierig, freundlich. „Ich komme vom Weingut Exzellenter Geschmack.“ Und während er noch redete, schob er sie sanft zur Seite, ging durch den Flur ins Wohnzimmer, geradeso als würde er sich auskennen, lud alles auf dem Sofa ab und stand im nächsten Augenblick vor der Hausbar. Er wollte diese bereits öffnen, als Erna völlig überrumpelt fragte: „Was machen sie denn da?“
„Aber gnädige Frau, wir waren doch verabredet. Wie ich sehe, haben sie nichts vorbereitet. Holen sie eine weiße Tischdecke aus dem Schrank und ich suche mir aus ihrem Bestand die passenden Weingläser aus.“
Was zu viel war, war zu viel. Erna wurde laut: „Wagen sie nicht, auch nur eine meiner Schranktüren zu öffnen.“
„Gnädige Frau, sie haben doch der Weinverkostung zugestimmt.“
„Ja, aber nicht jetzt, sondern um 18.00 Uhr. Ihre Frau Schumann sagte, dass sie alles mitbringen würden. Und nun gehen sie, bitte!“
„Dann muss ich ihnen die entstandenen Kosten in Rechnung setzen.“
Erna rang nach Luft. „Das ist ja wohl der Gipfel der Unverschämtheit. Seit wann bezahlt man für Gewinne? Nehmen sie ihre sieben Sachen und verschwinden sie, sonst schreie ich ganz laut um Hilfe und rufe die Polizei.“ Sie griff nach dem Telefon.
Noch schneller als Herr Klein in der Wohnung drin war, war er wieder draußen. Die Tür ließ er auf. Wütend knallte Erna sie zu. Dann schüttelte sie über sich selbst den Kopf und sagte: „Entschuldige bitte, du kannst nichts dafür. Warum war ich so blöd und habe geöffnet? In Zukunft muss ich eben durch den Spion sehen, wer vor der Wohnungstür steht. Möchte nur wissen, wer solche Leute immer ins Haus lässt?“
Einige Jahre waren vergangen. Von einer Bekannten erhielt ich einen Anruf. Empört teilte sie mir mit: „Stell dir mal vor, eben hat mich doch jemand von einem Weingut angerufen. Die haben sich ganz genau so benommen, wie du es beschrieben hast.“
KEIN APRILSCHERZ
Herr Klein war fort. „Jetzt ein verspätetes Nachmittagskäffchen“, dachte Erna. Doch bevor sie diesen genießen konnte, läutete es erneut an der Wohnungstür. „Doch nicht etwa wieder dieser Klein?“, dachte sie und sah sich um, ob er etwas vergessen haben könnte. Er hatte alles mitgenommen.
Sie schaute durch den Spion. Ein seltsamer Typ von Mann stand vor der Tür, elegant gekleidet im schwarzen Anzug, aber unrasiert. „Sie wünschen?“
„Machen sie bitte auf, junge Frau, ich möchte mich mit ihnen unterhalten. Für sie habe ich einen Katalog mitgebracht. Haben sie schon mal was von der Firma „Ever clean“ gehört? Machen sie doch bitte auf! So kann ich ihnen doch unsere Angebote nicht zeigen. Wir bieten die qualitativ besten und preisgünstigsten Teppiche und Auslegwaren und dazu Staubsauger, mit denen sie mühelos jeden Fussel und jedes Tierhaar beseitigen können.“
„Danke, ich brauche nichts“, sagte Erna.
„Sie haben sich noch gar nicht vom Wert unserer Waren überzeugt.“
Erna reagierte nicht. Sie wollte nur noch gemütlich im Sessel sitzen, Kaffee trinken und ein paar Minuten die Stille genießen.
Der Mann klopfte noch einige Male. Als er merkte, dass es zwecklos war, stieg er laut schimpfend in die nächsten Etagen hinauf und beschwerte sich bei jedem, der ihm die Tür öffnete, über Ernas ungebührliches Benehmen. Darüber wurden einige Mieter sehr ungehalten. Frau Lehmann wäre eine sehr liebe alte Dame. Er solle keine Lügen verbreiten und knallten ihm die Tür vor seiner Nase zu. Noch lauter schimpfend und Flüche ausstoßend verließ er das Haus.
Welch eine himmlische Ruhe! Zu früh gefreut, Erna.
Das Telefon klingelte. „Guten Tag, Frau Lehmann, ich bin Friederike Wohlfeil und arbeite am Institut „Volkswissen“. Ihre Stadtverwaltung hat uns beauftragt eine Befragung durchzuführen.“
„Tut mir leid“, unterbrach sie Erna, „telefonisch gebe ich generell keine Auskünfte, schicken sie mir bitte die Unterlagen zu.“
„Es gibt keine Unterlagen“, belehrte sie Frau Wohlfeil, „es handelt sich um eine mündliche Befragung. Ihre Antworten werden gleich in den Computer eingegeben und später von der Stadtverwaltung ausgewertet. Lassen sie es uns doch bitte versuchen.“
Die Sache begann ganz harmlos. Name, Anschrift, Geburtsdatum und die Größe der Wohnung wurden verglichen. Als jedoch die Frage kam, wie viele Personen im Haushalt leben, durchzuckte sie ein Gedanke. Wenn es doch keine Befragung der Stadtverwaltung war? Warum sollte sie sagen, dass sie allein in der Wohnung lebte? So antwortete sie: „Drei Personen.“
„Wie hoch ist das gesamte Einkommen?“
„Ich glaube nicht, dass unsere finanziellen Verhältnisse die Stadtverwaltung interessiert“, meinte Erna.
Frau Wohlfeil wurde patzig: