Schamanismus bei den Germanen. Thomas Höffgen

Schamanismus bei den Germanen - Thomas Höffgen


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      Das Aussehen dieser externsteiner Irminsûl ist höchst bedeutungsvoll. Es handelt sich um eine sogenannte Gabelsäule, also einen Stamm, der sich am oberen Ende in zwei Richtungen ausbreitet und eine Art „T“ bildet, eben eine columna universalis, eine „Säule, die das All trägt“. Bedeutsam deshalb, weil exakt dieselbe Form im Schamanismus bei den zirkumpolaren Kulturen Eurasiens vorkommt: Bei den Lappen lassen sich solche Gabelsäulen bis ins 17. Jahrhundert nachverfolgen, bei den sibirischen Schamanen sogar bis ins 20. Jahrhundert.

       Odin erklettert den Schamanenbaum

      Dass der Weltenbaum auch in der germanischen Mythologie eine schamanische Funktion erfüllt, belegt der Mythos von Odin und Yggdrasil. Wie ein Schamane erklettert dieser Gott den Weltenbaum und verharrt neun Tage und neun Nächte kopfüber in den Zweigen, vom eigenen Speer verwundet, hungernd, dürstend:

      Ich weiß, dass ich hing am windigen Baum

      neun ganze Nächte,

      vom Speer verwundet und Odin geopfert,

      selber mir selbst,

      an dem Baum, von dem niemand weiß,

      aus welchen Wurzeln er wächst.

      (Hávamál 138)

      Im körperlichen und geistigen Ausnahmezustand – in Ekstase – gelangt Odin zur Erleuchtung:

      Da begann ich zu gedeihn und klug zu sein

      und zu wachsen und mich wohl zu fühlen;

      Wort gab mir Wort aus dem Wort,

      Werk gab mir Werk aus dem Werk.

      (Hávamál 141)

      Sakrales Wissen offenbart sich ihm, Runen fallen von den Zweigen. Er wird eingeweiht in die geheimen Künste der Magie, lernt zu ritzen und zu röteln, lernt magische Lieder und Zaubersprüche:

      Weißt du, wie man ritzen soll, weißt du, wie man raten soll?

      Weißt du, wie man färben soll, weißt du wie man prüfen soll?

      Weißt du wie man beten soll, weißt du wie man opfern soll?

      Weißt du wie man darbringen soll, weißt du wie man vernichten soll?

      (Hávamál 144)

      Man zählt dieses Gedicht der Edda zur Weisheitsliteratur. Die Neunzahl (neun Nächte) ist wohl symbolisch zu verstehen: Es sind die neun Welten, die Odin am Stamm des Weltenbaumes durchwandert. Sein Geist durchdringt den Kosmos und gelangt noch in die letzten Winkel der neun Welten. Nach neun Tagen und neun Nächten kehrt er als „weiser Mann“ zurück – als ša-man.

      Der germanische Mythos erinnert deutlich an die Selbstopfer, die anzugehende Schamanen im Zuge ihrer Ausbildung erbringen müssen: durch isoliertes Fasten in der Einsamkeit des tiefen Waldes, umgeben von den Tieren und den Geistwesen der Wildnis. Sie sind am ganzen Körper angemalt, stigmatisiert, und für den Rest des Stammes verkörpern sie die ‚Anderen‘, die ‚Toten‘ und die ‚Ahnen‘. Sie sind „aus-der-Kultur-ausgetreten“. Irgendwann beginnt der Initiand zu ‚fantasieren‘ und mit den Waldgeistern zu ‚sprechen‘; diese werden dann zu seinen Freunden und Verbündeten, Krafttieren und Hilfsgeistern. Schließlich wird er selbst zum wilden Tier, dann ist er ein Schamane.

      Bei den Burjat-Mongolen in Sibirien gibt es einen schamanischen Initiationsritus, bei dem der Einzuweihende – er ist am ganzen Körper angemalt mit dem Blut eines geopferten Bockes – auf eine Birke klettert, in die neun Einkerbungen geritzt sind, welche die neun Welten symbolisieren. In der Hand trägt der Initiand ein Schwert (bei Odin ist es der Speer). Auf dem Baum sitzend fällt der Jungschamane in Ekstase. Nicht nur in Sibirien, auch bei den amerikanischen Indianern gibt es diese rituellen Baumbesteigungen. Deshalb haben einige Forscher vermutet, dass es sich bei Odins Runenlied und Weltenbaumgeschichte um das mythische Modellverfahren einer Initiation zum Odinskrieger und Ekstasekünstler handelt – eine ‚Proto-Initiation‘. Odin hat es vorgemacht, er ist der erste Eingeweihte und der Ur-Schamane, nun gilt es, es ihm gleichzutun.

      Durch die Initiation wird der junge Mann zum Krieger Odins und eingeweiht in die ‚wütige‘ Schar, das ‚wilde Heer‘ der Toten. Das Ritual enthält: Scheinhängen und Speermarkierung und (vielleicht) Mutproben. Durch Speermarkierung (Ritzen mit einem Speer, der Waffe Odins) wird der Initiand Eigentum des Kultgottes. Und Scheinhängen ist eine Technik, ekstatische Erlebnisse zu induzieren (andere Kulturen bedienen sich dazu asketischer und meditativer Praktiken, bestimmter Körperhaltungen, des Tanzes, verschiedener Rauschgifte und narkotischer Getränke): der Einzuweihende wird an einem Strick (um den Hals) hochgezogen, bis er das Bewusstsein verliert, dann wieder heruntergelassen. Er erfährt an sich den ‚kleinen Tod‘, eine neue, tiefere Dimension des Seins, das Außer-sich-Sein, die spirituelle Wirklichkeit. […] Der Mythus von der Einweihung Odins dürfte die wichtigsten Elemente des männerbündischen Aufnahmerituals und seiner Wirkungen – auf menschliches Maß reduziert – wiedergeben. Die Initiation in den Männerbund eröffnet dem jungen Mann den Zugang zum Training bestimmter Ekstatsetechniken, die ihn befähigen, an sich die sog. Berserker-Wut zu erzeugen, eine Kampfekstase, die mit Unverwundbarkeit durch Eisen und Unempfindlichkeit gegen Feuer und mit Gestaltwandel oder Seelenexkursion verbunden ist: der Kämpfer vermag sich in ein wildes Tier (Bär oder Wolf) mit dessen Eigenschaften zu verwandeln oder seelische Kräfte in Tiergestalt (Bär) von seinem Körper zu trennen und in den Kampf auszusenden, während der Körper in Untätigkeit (Schlaf) verfällt.15

       Das Trommelpferd

      Das altnordische Wort drasil heißt „Pferd“. Yggr ist ein Beiname des Odin. Yggdrasil heißt also „Odins Pferd“. Wieso ist der Weltenbaum nach einem Reittier benannt? Er ist das Schamanenpferd, auf dessen Rücken Odin in das Jenseits und durch die neun Welten reitet. Das Ross des Gottes trägt eigentlich den Namen Sleipnir, hat acht Beine und ist schnell wie der Wind. Es führt die wilde Jagd an, ein wütiger Gaul, ein feuriger Hengst. In Niedersachsen war es noch lange Sitte, dem Pferd des Wotan ein Ernteopfer darzubringen, indem man einiges vom Korn des Feldes stehen ließ: Unter „Wode! Wode!“-Rufen wurde Wodelebier gereicht und sich berauscht. In der germanischen Überlieferung wird mehrfach davon berichtet, dass einer der Götter – zumal Odin und sein Sohn Hermod – Sleipnir sattelt und in die Unterwelt reitet, um von den Toten Auskunft einzuholen oder mit der Todesgöttin Hel über eine Seele zu verhandeln. Die Geschichten von und mit Sleipnir – Jenseitsreisen und Unterweltfahrten – tragen klassische schamanische Züge.

      Für Eliade ist das Pferd das Schamanentier par excellence. Es diene dem Schamanen zur Herbeiführung der Ekstase; der Ritt symbolisiere den ekstatischen Flug, die Trance und den mystischen Tod. Er berichtet von Ritualen in Sibirien, bei denen die Schamanen einen Stock mit Pferdekopf zum ekstatischen Tanz benutzen, und von einem indischen Todesmythos, bei dem die Seele des Verstorbenen von einem achtbeinigen Pferd ins Jenseits getragen wird:

      Nun ist das achtbeinige Pferd, wie wir wissen, typisch schamanisch. [ ] Die Pferde mit acht Füßen oder ohne Kopf sind in den Riten und Mythen der ‚Männerbünde‘ bezeugt und zwar im germanischen wie im japanischen Bereich. In allen diesen Kulturzusammenhängen haben die mehrfüßigen und Gespensterpferde zugleich die Funktion eines Toten- und Ekstasetiers.16

      Im Tengrismus, das ist die schamanische Weltanschauung Zentralasiens (Mongolen, Turkvölker), wird die Seele des Menschen allegorisch als „Windpferd“ bezeichnet; der Sitz des Pferdes ist die Brust des Menschen. In der mongolisch-türkischen Überlieferung gibt es ein achtbeiniges Pferd, das fliegen kann. Es gilt als die Kraft des Menschen, Himmel und Erde harmonisch zu verbinden. Stärken lässt sich diese Kraft durch Rituale, Gebete und Opfer sowie das Inhalieren bestimmter Zauberkräuter.

      In Sibirien ist der Weltenbaum fest mit dem Schamanenpferd verbunden – im wahrsten Sinne


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