Mathematik – Management – Meditation. Bruno Buchberger
ein Blitz, fast ein bisschen wie ein Scherz oder ein Aufstand gegen den Intellekt, der Entscheidungen gerne mit hehren Gründen begleiten möchte. Mittels des Aufstands gegen den Intellekt habe ich mich also damals entschieden, das Fach, das den Intellekt in den Mittelpunkt stellt, zu wählen!
Ich war dann in einer fast feierlichen und trotzigen Stimmung, als ich auf die Frage des Inskriptionsbeamten, was ich studieren wolle, „Mathematik“ sagte. So quasi: „Ich mache das jetzt, habe keine Ahnung, was da herauskommen wird, und ich möchte weder Gründe noch Gegengründe hören, erzeugen oder abwägen.“ Vielleicht war es auch ein erster starker Impuls der Freiheit, die mich umfing, als ich Universitätsboden betrat. Eine Freiheit, die in krassem Gegensatz stand zu den Beklemmungen, Verunsicherungen, Regulativen, Maßregelungen, Autoritätsdiktaten meiner Jugend in der Tiroler Nachkriegsgesellschaft.
Natürlich waren meine damaligen Gedanken über die Biologie – beziehungsweise was ich geglaubt habe, wie Leute über Biologie denken – völlig naiv. Die Biologie (wie viele andere moderne Fächer) war damals schon und ist heute noch mehr – einer der kompliziertesten Bereiche, die den schärfsten Intellekt brauchen. Aber darum geht es hier nicht. Vielmehr darum, dass man unter Druck Entscheidungen fällt, bei denen man endlich einmal den Intellekt außer Acht lässt und seiner Intuition folgt. Ohne dass ich es wissen konnte, hat mir diese Entscheidung für das einerseits „belächelte“ und andererseits „gefürchtete“ Fach Mathematik ein aufregendes, anregendes, herausforderndes, reichhaltiges Leben beschert. Ein Leben im Zentrum und an den Grenzen der heutigen Zeit mit allen ihren wissenschaftlichen, technologischen, wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und philosophischen Vibrationen. Ich genieße dieses Leben mit steigender Intensität und in vollen Zügen bis heute und ich habe noch lange nicht genug davon. Vielmehr habe ich das Gefühl, erst am Anfang zu stehen und erst langsam zu verstehen, wie sich die Welt dreht.
Mathematik hat ja bei vielen einen schlechten Ruf. Was ist Mathematik?
Mathematik ist im Prinzip nur kultivierter Hausverstand.
Mathematik ist die über die Jahrhunderte verfeinerte Kultur, Wissen durch Denken zu erlangen und Probleme durch Denken zu lösen.
Mathematik ist die Kunst des Erklärens: Wie kann man Kompliziertes auf Einfaches und Unbekanntes auf Bekanntes zurückführen?
Mathematik ist die Kunst des effizienten Handelns: Wie kann man Ziele mit möglichst kleinem Aufwand erreichen?
Mathematik ist Denkökonomie: Einmal gründlich nachdenken, damit man (potenziell) unendlich oft nicht mehr nachzudenken braucht.
Mathematik ist das Auge im Hurrikan der Innovationsspirale, die von der mathematikbasierten Wissenschaft über die Technologie zur Wirtschaft und zurück geht.
Mathematik ist abstrakte Demokratie: Es gelten nicht Religion, Geschlecht, Macht, Alter, Stand, sondern nur das Argument.
Mathematik ist Rechnen mit Gedanken.
Mathematik ist abstrakte Praxis.
Mathematik ist das Extrem abstrakter Kunst.
Mathematik ist „am Puls der Zeit leben“.
…
Nach einem langen Leben mit und für Mathematik könnte ich diese „Litanei“ beliebig fortsetzen. Meine Kollegen weltweit würden vielleicht andere Litaneien singen, meine belächeln oder sogar wütend bekämpfen. Mathematik ist auch Krieg mit Papier und Bleistift (heute mit Computer und Web). Ich erinnere mich zum Beispiel an eine Episode, als ich als Keynote-Speaker bei einer internationalen Konferenz1 über die Rolle der Computer-Mathematik für das Erfinden und Verifizieren mathematischer Formeln sprach und in der Diskussion forderte, dass jeder Universitätsprofessor für Mathematik heute nicht nur das Beweisen, sondern selbstverständlich auch das Programmieren beherrschen müsse. Da sprang einer der veranstaltenden „Kollegen“ (ein sogenannter „reiner Mathematiker“) auf und schrie mir quer durch den Hörsaal entgegen: „Take a bodyguard!“ Frei übersetzt hieß das: „Ich springe dir an die Gurgel, wenn du noch einmal etwas so Profanes über meine hehre Mathematik sagst!“
So ist Mathematik! Mathematik ist so reichhaltig in ihren Inhalten, aber noch mehr in der Art, wie man sie sieht, betreibt und im Rahmen der gesellschaftlichen Evolution versteht, dass jeder Mathematiker sein eigenes „Buch der Mathematik“ schreiben könnte. Nur das Integral dieser Bücher ist Mathematik und dieses Integral lebt, entwickelt sich rasant mit immer größerer Geschwindigkeit auf immer höheren Ebenen der Sophistikation weiter … und ist mathematisch beweisbar niemals fertig. Das Erleben der Beschäftigung mit Mathematik ist wie Kunst. Die Materialien der Mathematik – die Gedanken – sind allerdings einerseits viel flexibler und freier als die Materialien der Kunst. Andererseits setzen sie uns sehr viel mehr Widerstand entgegen als der Granit des Bildhauers, denn die intersubjektive Überprüfbarkeit der Argumente ist bestimmender Kodex. Auch wenn eine Formel noch so schön ist: Wenn sie falsch ist, ist sie mathematisch wertlos.
Nach Ihrer Litanei möchte man ja meinen, es gäbe so viele „Mathematiken“ wie Mathematiker: Können Sie Ihre eigene Sicht etwas systematischer beschreiben?
Ich sehe Mathematik im Rahmen eines vereinfachten „Bildes von der Welt“ so:
Beobachten – Denken – Handeln: Das sind die drei Schritte, mit denen wir uns mit der Welt um uns auseinandersetzen. Beobachten: Durch Kontakt der Sinne mit der Außenwelt entsteht ein Bild der Außenwelt in uns (physiologisch betrachtet in unserem Nervensystem). Denken: Aus den Fakten, die wir beobachtet haben, erschließen wir – ohne Beobachten – in uns (innerhalb unseres Nervensystems) neue Fakten, die helfen können, zielorientiert in der Außenwelt zu handeln.
Sehr vereinfacht könnte man sagen, dass die Naturwissenschaften (Physik, Chemie, Biologie etc.) die über die Jahrhunderte verfeinerte Kultur sind, Wissen durch Beobachten (Experimente, Messungen …) zu erlangen. Handeln: Die technischen Wissenschaften sind die verfeinerte Kultur des zielorientierten Handelns.
Die Mathematik steht in der Mitte, sie verbindet die Naturwissenschaften mit den technischen Wissenschaften: Aus Fakten, die beobachtet wurden, werden andere Fakten erschlossen, die wir nicht beobachtet haben (oder nicht beobachten könnten). Diese bilden die Grundlage von immer genauerem, effizienterem, kontrollierbarerem Handeln.
Natürlich sollte ein guter Naturwissenschaftler, Mathematiker, Techniker (ganz gleich ob er in der Forschung, in der Lehre oder in der Anwendung arbeitet) alle drei Aspekte – Beobachten, Denken, Handeln – in gleicher Weise pflegen und beherrschen. Das ist auch historisch bei den Großen unseres Fachs immer der Fall gewesen und als Ausbildungs- und Arbeitsideal heute wichtiger denn je. Aber für die Klarheit dessen, was die Rolle und die Funktion der Wissenschaft mit all ihren Disziplinen heute ausmacht, ist es wichtig zu sehen, dass:
die Erkenntnismethode „Beobachten“ (bei der die Sinne in Kontakt mit dem Erkenntnisobjekt in der Außenwelt kommen) von der Erkenntnismethode „Denken/Schließen/Beweisen“ (bei der die Sinne bewusst nicht benutzt werden, sondern nur „das Hirn“ arbeitet) verschieden ist,
auch „Beobachten“ und „Schließen“ verschieden vom „Handeln“ sind (bei dem unser Körper durch die „Aktoren“ wieder in Kontakt mit der Außenwelt kommt, aber in umgekehrter Richtung wie beim „Beobachten“).
Landläufig versteht man unter Mathematik „Rechnen mit Zahlen“, allenfalls noch das Manipulieren geometrischer Figuren. Das ist ein sehr limitierter Eindruck. Mathematik ist vielmehr das „Rechnen mit Gedanken“, das Spielen mit Argumenten, um die Konsequenz von beobachteten oder angenommenen Fakten zu erforschen, ohne dass diese Konsequenzen in der Realität beobachtet oder ausprobiert werden müssen. Mathematik ist damit eine universelle Denktechnik, von der auch eine kleine Dosis bereits sehr viel Klarheit, Durchsicht, Effizienzgewinn, Gefahrenvermeidung … bringen kann.
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