Wenn sich der Himmel wieder öffnet. Nicolas Koch

Wenn sich der Himmel wieder öffnet - Nicolas Koch


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mich vor ihr. Immer noch. Warum, weiß ich gar nicht. Vielleicht, weil sie inzwischen aller Welt so eindrucksvoll erzählt, dass ich der Teufel in Person sei, dass ich langsam anfange, es selbst zu glauben. Und das kann einen Menschen zerfressen.

      Tatsächlich war ihre Stimme kalt und schneidend. Und was sie sagte, klang wie ein Befehl, dem man nicht widersprechen darf. Sie wollte gar nicht diskutieren, sie wollte auch nicht ins Gespräch kommen, sie wollte einfach mitteilen. Das hat sie dann auch getan. Ohne zu zögern.

      „Dieses Telefonat gehörte zu den schrecklichsten Erfahrungen, die ich je machen musste.“

      Obwohl ich nicht geglaubt hätte, dass sie mir überhaupt noch mehr wehtun kann, ist es ihr gelungen. Möglicherweise täusche ich mich, aber ich hatte den Eindruck, als läge da ein genussvoller, nur mühsam unterdrückter Triumph in ihrer Stimme, als sie ihre Botschaft Wort für Wort durch den Hörer tropfen ließ? Nun: Vielleicht habe ich es mir nur eingebildet. Darauf kommt es aber gar nicht an. Ihre Mitteilung war auch so verderblich. Leise sagte sie: „Er will dich nicht mehr sehen!“

      Es hat lange gedauert, bis diese Worte bei mir angekommen sind. Deine Mutter sagte mir trocken, dass du mich nicht mehr sehen willst. Und um mir ganz klarzumachen, was das bedeutet, fügte sie noch befriedigt hinzu: „Wir haben doch beschlossen, niemals etwas gegen den Willen des Kleinen zu machen.“

      Ach ja! Da warst du gerade vier Jahre alt geworden. Aber das konnte sie schon immer gut: ein Gespräch mit emotionalen Argumenten aushebeln. Ein Bekannter sagte mir kürzlich, dass deine Mutter sich mir in vielen Bereichen unterlegen fühlte. Ich bin da unsicher. Zumindest hat sie sich ein eigenes Waffen­arsenal angeschafft, mit dem sie vortrefflich umzugehen weiß. Sie versteht es, so mit ihrem Gegenüber zu reden, dass der andere sich auf jeden Fall schuldig fühlt, ganz gleich, für welchen Lösungsweg er sich entscheidet. Nein. Vergiss das. Wenn ich eines nicht will, dann, dass wir vor dir aufeinander herumhacken. Trotzdem gehört dieses Telefonat zu den schrecklichsten Erfahrungen, die ich je machen musste.

      Sie hat sogar noch einmal mit weichem, leicht vorwurfsvollem Ton hervorgehoben, dass die vorläufige Besuchspause wirklich nur dein Wohlergehen im Sinn habe: „Wenn der Kleine dich im Augenblick nicht treffen will, dann machen wir eben eine Unterbrechung der Besuche. Du willst doch auch, dass es ihm gut geht.“

      Natürlich möchte ich, dass es dir gut geht. Natürlich möchte ich nichts tun, was du nicht möchtest, aber darf sie mir daraus so einfach einen Strick drehen? „Gib ihn mir doch bitte mal!“, habe ich interveniert: „Er ist alt genug, mir das selbst zu sagen. Ich wüsste auch gar nicht, welchen Grund er dafür haben sollte. Als ich ihn dir gestern gebracht habe, war er auf der Fahrt unglaublich gut gelaunt und hat von all den herrlichen Ausflügen erzählt, die er mit mir demnächst unternehmen will. Ja, er möchte sogar mit mir in den Urlaub fahren, zu diesem eindrucksvollen Tierpark, in dem ich ihm letztes Jahr die Wildschweine und die Okapis gezeigt habe.“

      „Er will dich nicht sprechen.“

      „Wie bitte?“

      Dann hat sie aufgelegt. Sie muss mir andauernd zeigen, dass sie nun bestimmt, wie lange unsere Gespräche dauern. Kleiner Mann! Bitte, sag mir, dass das nicht wahr ist! Ich kann es nicht glauben. Verstehst du? Das kann doch nicht sein, dass du mich wirklich nicht mehr sehen willst. Oder will ich es nur nicht glauben? Was hat dir deine Mutter eingeredet, dass du so etwas überhaupt denken konntest? Wenn du es denn jemals gedacht hast.

      „Warum, warum – verdammt noch mal – solltest du mich nicht mehr sehen wollen?“

      Jetzt, da ich das hier aufschreibe, spüre ich noch deine kleine, verschwitzte Wange an meinem Hals. Du warst nach unserem Spaziergang ein richtig müder Krieger, ein furchtloser Kämpfer, der nacheinander alle Spielgeräte besiegt und sich an der Schaukel sogar eine – inzwischen längst mit Faszination betrachtete und mit einem bunten Pflaster verdeckte – Wunde eingefangen hatte.

      „Wir müssen fahren. Die Mama wartet schon!“, habe ich gesagt, als du mit einem riesigen Glas Orangensaft vor mir auf dem langen blauen Sofa ausgestreckt lagst – und auf einmal hast du dich an mich geklammert, als wolltest du mich nie mehr loslassen. Und ich hatte genauso das Bedürfnis, alles Trennende ein für allemal wegzuwischen. Ich erinnere mich, wie sehr mir auffiel, dass du immer noch diesen ganz eigenen Geruch hast, den ich schon interessant fand, als du noch ein Baby warst. Eine Mischung aus Karamell, Sand und Lavendel.

      Du hast dich lange an mich gekuschelt, meinen Rücken gestreichelt und mir dann von den Dinosauriern erzählt, die du im Kindergarten gerade kennengelernt hast: Tyrannosaurus Rex, Brontosaurus, Diplodocus, Iguanodon und Triceratops. Ich kannte nur die ersten beiden Gattungen; und selbst die verwechsle ich manchmal. Warum, warum – verdammt noch mal – solltest du mich nicht mehr sehen wollen?

      Weißt du, was mich am meisten beschäftigt? Die Frage, wie ich nun auf diese zerbrochenen Jahre schauen soll, voller Groll oder mit Dankbarkeit. Deine Mutter hat sich schon entschieden. Zu schnell, wie ich finde. Für sie war unsere gemeinsame Zeit eine einzige Höllenfahrt. Als die viel zu spät aufgesuchte Paartherapeutin sie fragte, wofür sie denn im Rückblick auf unsere Ehe dankbar sei, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen: „Für nichts!“ Wenn du älter wirst, dann verstehst du vielleicht, wie weh so etwas tut.

      Ich möchte mich nicht so kalt und schäbig von dieser Zeit verabschieden. Ich habe sie auch nicht so düster und falsch erlebt. An vielen Stellen habe ich wohl den Luftschlössern mehr Aufmerksamkeit geschenkt als unserer Etagenwohnung, aber meine Freude über das bunte Miteinander, die Reisen, die Erfahrungen und die Sehnsüchte, war genauso ehrlich wie meine Hoffnung.

      „Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder an einem Spielplatz vorübergehen werde, ohne dass mir die Tränen kommen.“

      Soll ich einfach sagen, dass sie mir, dass wir einander zehn Jahre unseres Lebens geraubt haben, und es dabei belassen? Ich kann das nicht. Und vielleicht ist genau das mein Problem. Dass ich mir jedes Mal inniglich wünsche, dass eine Geschichte gut ausgeht. Das ist nun einmal ein Tick von mir. Ich bin nicht in der Lage, mitten in einem Film den Fernseher abzuschalten, bevor ich nicht weiß, wie alles endet. Ja, selbst wenn ich längst ahne, wie alles ausgeht, fiebere ich mit den Helden solange weiter, bis das Gute gesiegt hat.

      Ich wollte so gerne, dass die Geschichte von deiner Mutter und mir gut ausgeht. Vielleicht habe ich mir darum den Abgrund verschwiegen. O nein, ich sage nicht, dass sie allein schuld wäre. So einfach mache ich es mir auf keinen Fall. Ich wollte das Kaputte, den Druck, die Angst und das zunehmende Zerwürfnis nicht sehen. Und nun muss ich entscheiden: Schließe ich mich deiner Mutter an und verfluche alles, was war, oder rette ich etwas von der Schönheit, von der Leidenschaft und der Hingabe? Schneide ich die Vergangenheit weg wie eine faule Stelle an einer Kartoffel, oder finde ich meinen Frieden? Den Frieden damit, dass ich offensichtlich einen falschen Weg gegangen bin.

      Kleiner Mann! Ich laufe mindestens einmal pro Woche über unseren Spielplatz. Immer den gleichen Weg, den wir damals zusammen gegangen sind. Und manchmal ist mir dabei, als hätte ich dein Lachen gehört. Dann hebt sich mein Kopf, der es sonst nicht wagt, über den Wegrand hinwegzublicken, und ich schaue hoffnungsvoll die vielen schreienden Kinder an, die sich dort vergnügen. Und wenn ich feststellen muss, dass du doch nicht dabei bist, ist es jedes Mal so, als hätte mir jemand einen Schlag direkt in den Magen versetzt.

      Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder an einem Spielplatz vorübergehen werde, ohne dass mir die Tränen kommen. All die Spielgeräte sind für mich eine große Bibliothek der Erinnerungen. Und ich schlage sie auf, um mich daran festzuhalten. Da! Auf so einer rostigen, ehemals knallroten Rutsche bist du schon hinabgesaust, als du noch nicht einmal richtig sitzen konntest. Ein kleines Bündel Mensch mit einer lauten Stimme und zwei vorwitzigen Zähnen im Oberkiefer, die dich wie ein Hase aussehen ließen. Ich glaube kaum, dass du dich daran erinnerst. Aber ich weiß es noch. Und ich werde es nie vergessen. Die Mama hat dich oben hingelegt und losgelassen – ich habe dich unten aufgefangen. Beim ersten Mal konnte ich sehen, wie dir der Schreck in die Glieder gefahren ist und du plötzlich stocksteif wurdest. Doch mit jedem Mal hat sich dein Grinsen den Ohren mehr angenähert. Und als du dann laufen konntest, warst du jedes Mal einem Tobsuchtsanfall nah, wenn einer von uns beiden dir helfen wollte, die steilen Stufen zu


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