Das Geheimnis vom Oranienburger Thor. Horst Bosetzky
an diesem Morgen beim gemeinsamen Frühstück nicht übermäßig klagen, als sie ihn nach seinem Wohlergehen fragte. Doch ganz darauf verzichten mochte er auch nicht. »Ich habe wie immer schlecht geschlafen. Ständiger Harndrang, Nachtschweiß, Rückenschmerzen und schlimme Träume haben mich geplagt.«
»Du Armer!« Amalie Raupach streichelte voller Mitgefühl seine Hände, auf deren Oberfläche sich die Adern immer deutlicher abzeichneten. Eine ironische Bemerkung konnte sich Raupachs Ehefrau jedoch nicht verkneifen. »Bitte erzähle mir stets ausführlich von deinen Leiden! Du weißt, dass ich nach deinem Ableben eine Raupach-Biographie veröffentlichen möchte.«
»Das ist lieb von dir, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass das Buch im Himmel käuflich zu erwerben sein wird.«
Kaum hatte das Dienstmädchen den Frühstückstisch abgeräumt und Amalie Raupach sich zum Schreiben zurückgezogen, wurde am Klingelzug gerissen, und Ludwig Rellstab erschien zu einer kleinen Plauderei. Rellstab, geborener Berliner, war ein bedeutender Musikkritiker der Vossischen Zeitung, hatte aber auch schon historische Romane, Novellen, Dramen, Reiseschilderungen und Gedichte veröffentlicht und sich als Buchhändler versucht. In Berlin kannte ihn nahezu jeder, denn zum einen hatte er während der Märzrevolution 1848 den König Friedrich Wilhelm IV. – leider vergeblich – überreden wollen, sich für eine Einigung zwischen Militär und Volk einzuset- zen, und zum anderen hatte er sich musikalische Heroen wie Donizetti, Rossini, Wagner und Meyerbeer durch ätzende Kritiken zu Erzfeinden gemacht und war von ihnen obendrein verklagt worden. Der Komponist und Berliner Generalmusikdirektor Gaspare Spontini hatte es sogar geschafft, Rellstab für sechs Wochen hinter Gitter zu bringen. Da Rellstab großes Geschick darin bewies, Künstler lächerlich zu machen, deren Werke ihm nicht zusagten, war Raupach bei aller Freundschaft immer etwas befangen, wenn der Musikkritiker zu ihm nach Hause kam. Und richtig, kaum war Rellstab eingetreten, hatte er im Bücherregal Raupachs sechzehnteiligen Hohenstaufen-Zyklus entdeckt. »Nun«, fragte Rellstab mit einem maliziösen Lächeln, »jetzt arbeiten Sie an den Folgen siebzehn bis fünfundzwanzig?«
Raupach antwortete ernst: »Nein, denn in diesem Fall müsste ich weit in die Zukunft denken, und wir haben leider kein Orakel in der Stadt.«
»Ich fände es großartig, könnten wir eines erschaffen! Vielleicht könnte man es in den Müggelbergen beheimaten.«
Raupach überhörte das. »Was gibt es Neues in Berlin?«
Rellstab schien diese Frage in gereizte Stimmung zu versetzen. »Alles jammert über die obwaltenden Zustände und den angeblichen Stillstand, aber das ist nicht gerechtfertigt! Industrie und Handel entwickeln sich prächtig. Siemens & Halske sind, was die Telegraphie betrifft, das führende Unternehmen in Europa, und Borsig baut eine Lokomotive nach der anderen.«
»Sehr schön.« Mehr fiel Raupach dazu nicht ein.
»Und woran arbeiten Sie gerade, lieber Raupach?«, fragte Rellstab nun endlich.
»Ich schreibe an einem Stück über eine Giftmischerin aus der Antike«, verriet Raupach.
Rellstab staunte. »Wie sind Sie auf ein solches Thema gekommen?«
»Nicht nur Siemens und Borsig werden in Zukunft Berlins Wirtschaft bestimmen, sondern auch unsere Apotheker. Sie wollen große Fabriken zur Herstellung von Medikamenten erbauen lassen, unterstützt von Chemikern wie diesem Friedlieb Ferdinand Runge aus Oranienburg. In der Literatur werden Apotheker mitunter als zwielichtige Giftmischer dargestellt. So kam mir die Idee zu meinem neuen Stück.«
Rellstab zeigte sich beeindruckt. »Sie erschließen sich also gerade ein neues Feld.«
»In der Tat. Und ich will die Menschen vor Giftmischerinnen und Giftmischern aller Art warnen, obwohl mir hier in Berlin gottlob nichts von Giftmorden bekannt ist. Meine Protagonistin ist die Lucusta, eine Giftmischerin aus dem alten Rom. Ich sehe die Weltgeschichte geradezu als eine Geschichte der Giftmorde.«
Rellstab sah lächelnd zu Raupach hinüber. »Sie müssen sich über die Giftzubereitung in der antiken Welt ausführlich kundig gemacht haben.«
»Davon können Sie ausgehen. Viele Stunden habe ich in den verschiedensten Bibliotheken zugebracht, und ich habe auch einige Forschungsreisende befragt, zum Beispiel Alexander von Humboldt. Als gesichert darf gelten, dass die ersten Gifte, gewonnen aus Kräutern und Pilzen, aus dem Orient nach Europa gekommen sind. An vielen griechischen und hellenischen Höfen soll es gang und gäbe gewesen sein, lästige Konkurrenten zu vergiften.«
Rellstab nickte. »Davon habe ich gehört. Attalos III., der letzte König von Pergamon, soll eigens einen Garten angelegt haben, um Giftpflanzen zu züchten.«
»Bilsenkraut, Nieswurz und Schierling hat er der Überlieferung nach angebaut«, ergänzte Raupach.
»Das erinnert mich an Sokrates!«, rief Rellstab. »Der hat doch den Schierlingsbecher leeren müssen.«
Raupach überlegte. »Dann gab es in der Antike noch Akonit und Dorycnium.«
»Das kenne ich nicht.«
»Akonit ist Eisenhut, und Dorycnium meint nichts anderes als Backenklee. Man gewann im Altertum aber auch Tieren Gifte ab, etwa Schlangen, Kröten und Salamandern. Eine Reihe mineralischer Gifte war ebenfalls bereits entdeckt und ausprobiert worden, etwa Grünspan, Bleiweiß oder Quecksilber, obwohl Letzteres in der Antike auch als Heilmittel Verwendung fand.«
Rellstab hatte Bedenken, was Raupachs Bühnenstück anging. »Wenn die Berliner durch Sie erfahren, was in der Giftmischerei alles möglich ist, kann man nur hoffen, dass Ihre Zuschauer nicht in Versuchung geraten. Ich sehe das Szenario schon vor mir: Eine Frau, die durch Ihre Geschichte auf den Geschmack gekommen ist – die Giftmischerin von Berlin.«
Raupach lachte. »Wozu haben wir unseren trefflichen Gontard? Der würde sie schon in kürzester Zeit überführt haben.«
Oberst-Lieutenant Christian Philipp von Gontard hatte Weihnachten 1851 und den Jahreswechsel mit seiner Frau Henriette und den beiden herangewachsenen Kindern auf dem Familiengut Wutike verbracht, das etwas abseits in der Prignitz gelegen war. Da entfernte Verwandte ganz in der Nähe lebten, in Wolfshagen und Groß Pankow, hatte man auch in der Einsamkeit genügend Gesellschaft gehabt. Nun ging es zurück nach Berlin, wo Gontard an der Vereinigten Artillerie- und Ingenieurschule unterrichtete – noch, hätte man hinzufügen müssen, denn der Oberst-Lieutenant hatte im Jahre 1848 trotz seiner Verpflichtung zur Königstreue auf den Barrikaden gestanden und war dem Polizeipräsidenten von Hinckeldey schon lange ein Dorn im Auge. Doch enge Freunde im Umkreis des Königs hatten sich immer wieder für Gontard eingesetzt. Wie lange würde das noch gutgehen?
Von Hamburg nach Berlin fuhren nur wenige Züge am Tag, und so war es ratsam, pünktlich in Wittenberge zu sein, wo man zusteigen wollte. Gontard trieb die Seinen an: »Beeilt euch bitte! Der Kutscher wartet schon, es ist kalt!«
»Wir sind noch viel zu müde, wir können nicht so schnell!«
Von Wutike nach Wittenberge waren es fast sieben preußische Meilen, also etwa fünfzig Kilometer. Dafür brauchte eine Kutsche mit zwei Pferden rund fünf Stunden, die nötigen Pausen eingerechnet. Wenn sie am späten Nachmittag in Berlin eintreffen wollten, mussten sie in aller Herrgottsfrühe aufbrechen, denn von Wittenberge bis in die preußische Hauptstadt waren es noch einmal über 150 Kilometer. Borsigs Lokomotiven erreichten eine Geschwindigkeit von 35 Kilometern pro Stunde. Endlich saßen alle in der Kutsche, die Gontard im nahen Dorf Gumtow gemietet hatte.
»Hü!« Es ging los. Der Gutsinspector und das Gesinde winkten. Gontard setzte sich nach vorn auf den Bock, um ein wenig mit dem Kutscher zu plaudern. Das sollte er bald bereuen, denn der Mann aus Gumtow war alles andere als gesprächig. Außerdem war es im Fahrtwind so bitterkalt, dass Gontard Angst hatte, ihm würde die Nase abfrieren. Er fragte den Alten, ob die Menschen in der Prignitz über den Ausgang der Revolution enttäuscht seien.
Die Antwort kam nach einem Moment der Stille. »Bloots nich noch rechts un links kieken!«
Gontard musste das erst für sich aus dem Plattdeutschen übersetzen, um es zu verstehen. »Nur keine Veränderung!«