Tragödie im Courierzug. Uwe Schimunek

Tragödie im Courierzug - Uwe Schimunek


Скачать книгу
sagen, doch er schüttelte nur den Kopf und hob wortlos den Helm auf.

      »Los, wir fechten noch eine Runde!« Ferdinand begab sich in die Ausgangsstellung.

      »Och nee! Muss det sein?«, quengelte Quappe.

      »Ich möchte den Sprung mit dem anschließenden Ausfallschritt noch einmal üben, diese Balestra.«

      »Da krieg ick doch nur wieda det Ding anne Omme.« Quappe zeigte mit seinem Degen auf Ferdinands Waffe.

      »Los jetzt!«

      »Könn’ wa nich wenigstens erst ma een paar Meter Richtung Heimat laufen?«

      Ferdinand seufzte. »Meinetwegen. Aber nur so weit, dass uns von der Neustadt aus keiner sehen kann.« Das fehlte ihm gerade noch, dass einer der Vorgesetzten aus der Breslauer Garnison ihn hier bei seinen heimlichen Fechtübungen mit dem Stallburschen beobachtete.

      »Det is doch klar, Herr Ferdinand.« Schon trabte Quappe los.

      Ferdinand lief hinterher. An diesem Freitagmorgen war er froh, dass der Vater dem Burschen nach einigem Betteln den Posten im Stall der Breslauer Garnison verschafft hatte. Selbst das Stapfen im tiefen Schnee fiel mit einem Bekannten aus der Heimat leichter. Bei jedem Schritt versanken die Stiefel bis zum Knöchel. Durch den Wind, der Ferdinand ins Gesicht blies, fühlte sich die Luft an, als wolle sie sich in die Haut fressen. Dabei konnte es so kalt gar nicht sein. Die Oder floss zäh vor sich hin. Kurz bevor Ferdinand zu Weihnachten nach Berlin gereist war, hatte noch eine dicke Eisschicht den Fluss bedeckt. Nun weilte Ferdinand schon wieder über eine Woche in Breslau, fern der Familie. Mit jedem Abschied wurde die Reise in die Garnisonsstadt, in der er seit ein paar Monaten seine erste Dienststelle als Offizier Seiner Majestät hatte, mehr zur Gewohnheit. Seit der Schnellzug zwischen Berlin und Breslau fuhr, schien auch die Entfernung geschrumpft.

      Sie erreichten die Flussbiegung. Hier war der Blick auf die Oderbrücke durch einen Hügel mit Sträuchern verdeckt. In der verschneiten Winterwelt wirkte das Gestrüpp wie eine bizarre Festungsanlage für Gnome.

      »Hier üben wir weiter!«, befahl Ferdinand.

      »Aba …«

      »Jetzt!« Ferdinand hob den Degen.

      Quappe verdrehte die Augen und tat es ihm gleich. Die Klingen kreuzten sich.

      Ferdinand ließ es ruhig angehen. Mit einfachen Stößen hielt er Quappe in Schach, so dass der Bursche seinerseits zu keinem Angriff ansetzen konnte. Schritt für Schritt trieb Ferdinand Quappe den Hügel hinauf in Richtung des Gestrüpps. Dort waren ihre Übungen gut vor etwaigen Passanten verborgen.

      Ein paar Meter vor den Sträuchern verstärkte Ferdinand seine Vorstöße. Dennoch gelang es Quappe, sie zu parieren und Ferdinands Klinge geradezu mustergültig zu binden. Der Stallbursche schien mindestens genauso von den Zusatzübungen zu profitieren wie er selbst, stellte Ferdinand fest. Das brachte einerseits Vorteile mit sich, denn so lohnte sich das Üben, und die Fortschritte stellten sich schneller ein. Andererseits zweifelte Ferdinand zunehmend an seinem Talent für die Fechterei, wenn schon ein Bursche, der im Stall der Breslauer Garnison zum wiederholten Male Anlauf für eine militärische Laufbahn nahm, zu einem ernsthaften Gegner heranreifen konnte.

      Ferdinand wehrte einen Angriff Quappes gerade so ab. Er durfte nicht träumen. Nach einem Ausfallschritt startete er eine Serie von Stößen. Quappe wich zurück. Lange würde Ferdinand diese Intensität im Kampf nicht durchhalten, aber der Knecht stand bereits beinahe mit dem Rücken zum Gestrüpp.

      Quappe schien den Hieben kaum noch etwas entgegensetzen zu können. Wie schnell sich das Blatt doch drehte! »Junger Herr, haltet ein!«, quetschte Quappe heraus.

      Ferdinand setzte zu dem Sprung an, den er unbedingt noch üben wollte. Doch zu spät, Quappe stolperte rücklings in die Sträucher. Als er zu Boden ging, jaulte der Knecht wie ein Hund, dem man auf den Schwanz getreten hatte. Sein Gestrampel bot ein bizarres Bild. Plötzlich verstummte er und hielt in der Bewegung inne.

      Schwungvoll stieß Ferdinand seinen Degen in den Schnee und eilte zu Quappe.

      Der Knecht lag im Geäst und rührte sich nicht. Seine linke Hand umklammerte etwas. Es sah aus, als versuche Quappe, sich an einem Stück Erdreich festzukrallen. Nein, eher erinnerte die braune Masse in seiner Hand an ein Pfund Sülze. Oder an Grützwurst – mit einem Stück Knochen darin.

      »Wat is denn det?«, schrie Quappe ein wenig angewidert. Er rollte zur Seite, von der Sauerei weg, und wischte beim Aufstehen mit der Hand einzelne Klumpen von seiner Uniform.

      Ferdinand schaute in das Gestrüpp. Dort, wo Quappe durch seinen Fall den Schnee beiseitegedrückt hatte, war noch mehr von der brauen Masse zu sehen. Es musste sich um Kot von einem Pferd handeln. Doch welcher Gaul kackte Knochen? Ein solcher lag zweifelsohne inmitten des Haufens. Wie sollte ein Pferd außerdem so weit vom Weg abkommen und in diesem Gestrüpp landen?

      »Ick will hier weg!«, jammerte Quappe.

      Ferdinand schüttelte den Kopf, nahm seinen Degen und stocherte vorsichtig in dem Brei herum. Unter dem Schnee lag gefrorenes Herbstlaub. Es pappte so fest zusammen, dass Ferdinand fast den Eindruck hatte, eine Holzplatte wegschieben zu müssen. »Helfen Sie mir doch mal, Quappe!«

      »Machen Se det nich, junger Herr!«

      »Haben Sie sich nicht so mädchenhaft, Quappe!«

      Der Bursche brabbelte etwas Unverständliches, nahm aber seine Waffe und half, das Laub beiseitezuschieben. Darunter kamen noch mehr Brei, Knochen und Klumpen zum Vorschein.

      »Weiter! Aber vorsichtig!«, befahl Ferdinand.

      Quappe stöhnte. Stück für Stück entfernten sie Schnee, Eis und Laub. Zeichneten sich dort Fetzen von Kleidungsstücken an einem verwesten Leib ab?

      »Reicht det nich?«

      »Da oben muss der Kopf sein. Ich glaube, in dem Gebüsch liegt ein toter Mensch.« Ferdinand stocherte an einem kleinen Erdhügel herum. Das Gemisch aus Schnee, Eis und Laub war an dieser Stelle besonders hartnäckig und zu ungünstig der Winkel, aus dem Ferdinand es zu entfernen versuchte.

      Ferdinand stapfte um die Sträucher herum, bis er eine Lücke im Geäst fand. Dann trat er eine Schneise ins Gesträuch. Die Äste splitterten zur Seite. Dennoch kam er dem Ziel nur langsam näher. Zudem ließ er Vorsicht walten. Wenn hier tatsächlich eine Leiche lag, wollte er keine Spuren verwischen. Also kämpfte er sich mit Geduld vorwärts. Die restlichen Teile des Gehölzes entfernte er mit der Klinge. Er beugte sich nach vorn, und es gelang ihm, die Schneedecke von hier aus mit dem Degen zu entfernen.

      Unter dem Weiß bot sich ihm ein grauenhafter Anblick. Da lag ein Schädel. Die Augenhöhlen waren leer, und doch schienen die schwarzen Löcher zum Himmel zu starren. An den Seiten des Kopfes erinnerten die Haarsträhnen an modriges Stroh. Die Wangen waren eingefallen, der Mund war fratzenhaft verzerrt und schien sich nicht entscheiden zu können, ob er grinsen oder die Zähne fletschen wollte. Ferdinand schluckte und sagte: »Kommen Sie, Quappe. Das müssen wir melden!«

      Oberst-Lieutenant Christian Philipp von Gontard betrat den Hörsaal in der Vereinigten Artillerie- und Ingenieurschule. Die dicken Wolken über Berlin verdunkelten den Raum und ließen die jungen Offiziere an den Studierbänken grau und damit um einiges älter erscheinen. Gontard wollte lieber nicht wissen, wie er selbst aussah. Der Winter raubte ihm die Lebensfreude, von Jahr zu Jahr mehr. Und bis zum Frühling blieben wenigstens noch zwei Monate.

      Die Offiziere standen stramm. Gontard gab den Befehl zum Setzen, und die Männer fielen in sich zusammen, als hätte jemand die Luft aus ihnen herausgelassen. Einer in der letzten Reihe, ein dicklicher Kerl von altem Adel aus dem pommerschen Hause derer von Ahlewitz, gähnte sogleich. Das konnte ja eine heitere Vorlesung werden!

      Gontard schlug sein Skript auf. In letzter Zeit hielt er sich bei den Vorlesungen immer mehr an seine Blätter, besonders an Tagen wie diesen. Er strich über das oberste Blatt und begann seinen Vortrag. »Wie Sie wissen, soll es heute um den Einsatz neuartiger Waffen in Sinope am Schwarzen Meer


Скачать книгу