Wie ein Tier. Horst Bosetzky

Wie ein Tier - Horst Bosetzky


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Seit an Seit …

      Abzählen! Wenn einer nicht aufpasste, in seiner Erregung, Erschöpfung und Angst, nicht übergangslos die nächste Zahl herausschrie, konnte es sein Leben kosten.

      Gott sei Dank, heute schien alles seinen normalen Gang zu nehmen. Der jeweilige SS-Blockführer kontrollierte die Anwesenheit der gemeldeten Häftlinge. Einschließlich der Schwerkranken und der Fiebernden, einschließlich derer, die im Laufe des Tages gestorben waren. Die Leichen lagen neben den Reihen.

      Weitergabe des Ergebnisses an den SS-Rapportführer. Bertholds rechtes Augenlid begann zu zucken. Jetzt kam der Augenblick, der alles entschied. Fehlte jemand, war einer geflüchtet, dann begann das Strafstehen. Erschwert durch zusätzliche Torturen wie tausend Kniebeugen. Zum Zeitvertreib. Im Januar dieses Jahres, Berthold hatte es überlebt, hatten sie nach einer eisigen Winternacht vierhundert Tote weggetragen.

      Doch heute schienen die Zahlen zu stimmen, von den Außenkommandos war niemand geflüchtet.

      Der Rapportführer gab das Kommando: »Das Ganze stillgestanden! Mützen ab!« Dann wurde dem Lagerführer die Lagerstärke gemeldet.

      »Mützen auf!« Das war die Erlösung für diesen Abend. Dachte Borowka, denn schon gab der Lagerälteste das Kommando: »Rechts und links um, im Gleichschritt marsch!«

      Da betrat Herbert Bloh die Szene, einer der SS-Hauptscharführer. Ein schöner, ein schneidiger Mann. Weizenblond, mit der Figur eines Olympiakämpfers. Ein Gesicht, so scharf geschnitten und so ausdrucksvoll, wie es in den Babelsberger Studios nur wenige gab, und so intelligent, dass es allemal zum Professor an der Wehrtechnischen Fakultät der TU Berlin gereicht hätte. Wenn er denn gewollt hätte. Aber er wollte mehr, wie alle wussten.

      Der Hauptscharführer griff in seine schwarze Uniform und zog einen kleinen weißen Zettel heraus, auf dem eine Häftlingsnummer stand.

      »Durch übergroße Faulheit beim Arbeitseinsatz ist heute aufgefallen …«

      Es war die Nummer von Ehrenfried Rebentisch. Dieser wurde noch eine Spur blasser, dann taumelte er in Richtung Bloh. Berthold litt mit Ehrenfried, und Berthold war zugleich auch froh, dass es nicht ihn getroffen hatte, sondern den anderen. Er wusste, dass es seine Menschenpflicht war, für den anderen zu kämpfen, und er wusste auch, dass sie ihn in die elektrischen Drähte treiben und erschießen würden, wenn sie von seinem Gesicht auch nur die geringste Erregung ablesen konnten, wenn er sich abwenden wollte. Also stand er da und befahl sich: Toter Käfer, steinernes Denkmal! Kein Mensch mehr sein, nur noch ein Ding ohne Leben und Gefühl.

      Sie schnallten Ehrenfried Rebentisch auf den Bock, einen hölzernen Schemel, und peitschten ihn aus. Mit dem Ochsenziemer auf das nackte Gesäß. Fünfzig Schläge, und er hatte mitzuzählen.

      »… fünfzehn, sechzehn …« Ehrenfried Rebentisch konnte nicht mehr. Schrie, lallte, heulte und brüllte nur noch. Dann war er still, und sie hörten nur noch den zischenden Laut der niedersausenden Peitsche. Er war nur noch ein Brocken rohen Fleisches, als sie ihn davonschleiften.

      Herbert Bloh überlegte offenbar, was sich heute noch alles anstellen ließ.

      Berthold wusste, dass es für die SS tausenderlei Gründe gab, sie abzustrafen: Bei Kälte Hände in den Hosentaschen; hochgeschlagener Kragen bei Eis und Wind; zu blanke Schuhe – als Zeichen dafür, dass man sich vor der Arbeit gedrückt hatte, oder nicht gründlich gesäuberte Schuhe – bei zentimeterhohem Schlamm; einmaliges Aufrichten bei Arbeiten, die in gebückter Haltung durchzuführen waren. Dann drohten der Bock, die Stehzelle, ein enges Loch in der Erde mit einem Gitter drüber, der Zellenbau, die Schuhprüfstrecke, wo man bis zum Krepieren Wehrmachtsstiefel ausprobieren musste, oder die SK, die Strafkolonne. »In die SK kommst du leicht«, sagten sie hier, »hinaus aber nur durch den Schornstein.« Zwölf Mann pro Tag war die Sterbequote in der Strafkolonne.

      Glück ist die Summe des Unglücks, dem man entgangen ist. Berthold hatte immer mehr gewollt vom Leben. Nun wusste er, dass der Satz stimmte.

      Herbert Bloh suchte sich zwei Dutzend Häftlinge heraus, die am morgigen Tag den Bau eines Schießstandes für die SS voranbringen sollten.

      Berthold war dabei. Er wusste, was das bedeutete, es hieß Bärentanz. Der Gefangene musste einen Schaufelstiel umklammern, den Kopf auf den Stiel legen, die Augen schließen und sich auf Kommando hin immer schneller drehen. Wenn Bloh dann diesen Bärentanz abrupt unterbrach, stellte er sich so hin, dass der orientierungslos taumelnde Gefangene ihn unweigerlich rammte. Das war dann der Vorwand für ihn, den Häftling »wegen Angriffs auf einen SS-Mann« zusammenzuschlagen oder anderweitigen Strafen zuzuführen.

      Vielleicht kam er auch in Blohs Kabuff …

      Alberts Hand schlich sich heran, um unter Emmis Nachthemd zu kriechen.

      »Hör auf damit!« Sie stieß ihn zurück und machte vollends dicht.

      »Bist du nun meine Frau oder nicht?«

      »Ich kann jetzt nicht. Ich muss immer noch an Helga denken …«

      In den letzten zweieinhalb Jahren hatte es zwei Dutzend Sittlichkeitsverbrechen in den Laubenkolonien ringsum gegeben, und gestern Nacht hatte es Emmis Freundin erwischt.

      »Und wie ich ihm neulich gerade noch entkommen bin …« Die Erinnerung daran riss sie mit wie die starke Strömung eines Flusses einen schwachen Schwimmer. Sie begann, am ganzen Körper zu zittern.

      »Ich bin doch nicht der …« Albert wälzte sich wieder auf die andere Seite des Bettes, um Emmi zu streicheln und mit seinem Körper zu wärmen. Dann schrie er auf, denn ihre abwehrende Hand hatte sein schon hartes Glied wie mit einem Sichelhieb getroffen.

      »Du Unhold!« Sie glaubte, er hätte die Vergewaltigungsszene vor Augen gehabt und sich seine Lust dabei geholt.

      Albert wusste wie sich die meisten Männer in einer solchen Lage verhielten: Sie schlugen ihre Frauen windelweich und zwangen sie danach, ihnen zu Willen zu sein. Er nicht. Er war ein sanfter Charakter und sich absolut sicher, dass Emmi ihn liebte und keine Schuld an allem hatte. Die Verhältnisse, die waren halt so. Und was konnten sie beide dafür, dass sie so waren.

      Aber dennoch war er von Emmis Zurückweisung erheblich gekränkt. Und der Samen wollte ausgestoßen werden. Außerdem: Morgen konnte er im Felde stehen, und was dann, wenn er fiel, ohne vorher Manfred gezeugt zu haben oder Marianne.

      Emmi weinte. Albert knipste die 15-Watt-Nachttischlampe an und starrte gegen die Decke. Wenn es noch lange regnete, konnte der Wasserfleck um Mitternacht Moskau eingenommen haben. Warschau, Budapest, Belgrad, Rom, Bordeaux, London, Kopenhagen und Oslo waren schon erfasst. So oft er sein Dach auch teerte, immer wieder lief es durch, und in der weißen Schlemmkreide zeichneten sich nach dem Trocknen viele schmutzigbraune Linien ab. Mit einiger Phantasie ließen sie sich als die Umrisse verschiedener Kontinente deuten. Über Alberts Augen dehnte sich Europa, und genau da, wo man sich Berlin zu denken hatte, war die undichte Stelle.

      Er versuchte, auf andere Gedanken zu kommen. Wie er als Kind vorn im hölzernen Boot seiner Eltern gesessen hatte und wie sie überall umhergepaddelt waren. Von Schmöckwitz, wo es gelegen hatte, den Zeuthener See hinunter. Durch die Schleuse bei Neue Mühle hindurch, die Bootsschleppe benutzt. Dann über den Krimnick- und den Krüpelsee die Dahme hinauf. Bis zum Dolgensee. Der konnte, wenn Sturm aufkam, gefährlicher als die Ostsee werden. Einmal waren sie auch umgekippt, als sie die Ausfahrt bei Dolgenbrodt nicht mehr erreichen konnten. Wenn er da nun ertrunken wäre … Was machte es für einen Unterschied, ob man als Vierjähriger starb oder jetzt mit einunddreißig Jahren, wenn einen eine Fliegerbombe traf oder die Kugel eines SS-Mannes im KZ. In dem Moment, in dem man gestorben war, konnte es einem doch völlig egal sein, ob man vier oder vierundneunzig Jahre gelebt hatte.

      Albert erschrak. Wie aufgebahrt lag seine Frau jetzt da. Er strich ihr mit den Fingerspitzen über Kinn, Lippen und Wangen.

      »Lass mal, es wird schon wieder.«

      »Ich hab Onkel


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