Hotel der Alten. Regina Page
Die mit Lederpolstern eingerichtete Empfangshalle ist der Mittelpunkt für die Bewohner vom Hotel der Alten. Dort ist es hell und im Raum herrscht eine freundlich stimmende Atmosphäre. Die Alten lieben es, sich an diesem Ort zu treffen.
Zwischen den Sitzgruppen stehen verschiedene Grünpflanzen, Gummibäume und Ficus Benjamins. Die Pflanzen sind im Laufe der Jahre zu Bäumen herangewachsen und schmücken den Raum zu einer grünen Oase.
Dieser Treffpunkt ist bei den Bewohnern zu einer Wichtigen Kommunikationsstätte geworden. Ein Gemurmel hallt stets durch den Raum. Hier und da bilden sich in den Morgenstunden kleine Gruppen. Sie lachen über Witze, die ein Mitbewohner schon mehrmals erzählt hat.
Er hat nicht bemerkt, dass er den Witz schon zu oft zum Besten gegeben hat.
Es wird dann mehr über seine Vergesslichkeit, als über seine Witze gelacht. Wenn sie sich nichts mehr zu sagen haben, Neuigkeiten ausgetauscht und ihre Familiengeschichten zum wiederholten Male geschildert haben, verlassen sie, wie jeden Morgen, den freundlich stimmenden Ort.
Einige wohnen seit vielen Jahren im Hotel der Alten. Sie gehen täglich zusammen in den Speiseraum. Die Meisten begrüßen sich herzlich, andere laufen aneinander vorbei.
Doch das Treffen am Morgen ist für sie sehr wichtig und mit der Zeit für einige Bewohner zu einem bedeutsamen Ritual geworden.
Für Frühaufsteher beginnt der Tag, sobald sich der Himmel erhellt. Auch in den Wintermonaten steht für sie ab sieben Uhr früh schon der Kaffee in Thermoskannen bereits auf ihrem Platz. So stellen sich die Bewohner des Hauses unterschiedlich auf den Tag ein.
Mit der Hoffnung, dieser wird für sie etwas Schönes bringen, ein langersehnter Wunsch könnte sich plötzlich erfüllen.
Sie könnten sich wohlfühlen, wenn da nicht bei einigen die Sehnsucht nach der Familie wäre. Die Aussicht auf einen Verwandtenbesuch; die Erinnerung an die Familie stellt sich immer wieder bei ihnen ein, wenn sie sich auf den Tag freuen. Die Sehnsucht nach „früher“ ist immerfort in ihren Gedanken.
Sie versuchen Freundschaften zu schließen um etwas Nähe zu spüren. Dafür treffen sie sich im Eingangsbereich des Hauses, versuchen ein Gespräch anzufangen.
„Na, was gibt es Neues …?“ – ist der entscheidende Satz. Vieles gibt es von einem Tag auf den anderen nicht zu berichten. Und doch kommen sie jeden Morgen wieder an den Ort zurück, um sich über ihre Probleme in Gesprächen auszutauschen. Unruhe entsteht erst, wenn jemand in der Gesprächsrunde fehlt. „Warum kommt Frau K. nicht …? Sie ist nicht zum Frühstück erschienen“, fragt eines Morgens ein stattlicher Herr mit einem grauen Schnurrbart plötzlich in die Runde. Stille.
„Sie war doch gestern noch hier …“, sagt die Frau neben ihm nach einer kurzen Unterbrechung der Konversationen.
In der Stille hört man das schwere Atmen der Alten. Angst kommt auf und eine schlimme Vermutung.
Das ist der Augenblick, der sie an ihr eigenes Schicksal erinnert. Bestürzung in der Runde. Furcht, den morgigen Tag nicht mehr erleben zu können. Die gute Stimmung scheint vorbei und allen ist die Freude, Neues zu erfahren, mit einem Mal vergangen. Sie treten still und nachdenklich den Weg in ihre Wohnräume an.
Die Hoffnung auf einen schönen Tag ist wie weggeflogen.
Am nächsten Morgen scheinen die Bewohner des Hauses etwas gelangweilt.
Es ist, als wäre der Himmel eingestürzt, es regnet pausenlos. Es kommt keine gute Stimmung auf.
Das Frühstück eingenommen, gehen sie zu ihrem Treffpunkt. Eigentlich ein Morgen wie jeder andere Morgen. Doch dann … Ein Aufatmen in der Runde mit der erfreulichen Nachricht, die der Herr mit dem grauen Schnurrbart verkündet. Die vermisste Frau vom Vortag muss auch heute noch das Bett hüten. „Eine einfache Erkältung!“, berichtet er. Sie warten wieder nach dem Morgenkaffee in der Eingangshalle, dass etwas passiert – oder sie warten auf einen Gesprächspartner.
Es ist für sie von großer Wichtigkeit, noch dabei zu sein und sich die neuesten Nachrichten mitzuteilen. Es kann über Politik sein, über den Tratsch im Haus oder über die neuesten Botschaften ihrer Familien. Dabei kommt es nicht auf den Wahrheitsgrad an. Einfach wieder erzählen zu können, das ist für sie wichtig … auf der Suche nach Harmonie und jemanden, der ihnen zuhört. Was blieb ihnen sonst vom Leben, fragen sie sich. Sie sehen sich an und verstehen.
Alles, was sie sich erzählen haben, ist gesagt. Dem Witze-Erzähler fällt nichts mehr ein. Der Mann mit dem Schnurrbart ist erfreut über die gute Nachricht, die er freudestrahlend berichten konnte. Still und in sich gekehrt, schlurfen sie mit Gehwagen oder einer Gehhilfe den Flur entlang. Das Ziel ist ihr kleines Reich von sechzehn Quadratmetern.
So verlässt einer nach dem anderen im alten Trott die Kommunikationsstätte.
Von Weitem hören sie noch das Klappern der Stühle im Speiseraum. Es wird geputzt.
Bis zum nächsten Gang in den Speiseraum, zur Nahrungsaufnahme, wollen sie sich in ihren Zimmern vom Tratsch erholen.
Am nächsten Morgen, werden sie sich wieder nach dem Frühstück in der Eingangshalle vom Hotel der Alten treffen.
Hilde wartet
Während die anderen Bewohner sich angeregt unterhalten, sitzt eine Bewohnerin abseits in einem der dicken Sessel in Position. Heute ist sie in Hochspannung.
Von den anderen kaum beachtet, so verharrt sie nun schon Stunden in Erwartung und es hat sich noch nichts getan.
Hilde sitzt dort oft allein und wartet auf ein Ereignis, von dem sie sich eine Überraschung verspricht.
Heute ist es anders. Hilde hat an diesem Morgen an der Küchentür gelauscht und so in Erfahrung gebracht, dass drei Zimmer für einen neuen Einzug frei sind und noch in den Vormittagsstunden besetzt werden! Das behält sie für sich. Die Neugier hat sie gepackt.
Nun hofft sie auf eine Sensation.
Den Versuch, an den Morgengesprächen der anderen teilzunehmen, wagt sie nicht noch einmal. Deutlich haben sie es Hilde durch Gesten spüren lassen: Du bist hier nicht erwünscht; und sich von ihr abgewendet.
Dabei ist es geblieben.
Hilde harrt am heutigen Vormittag in der Empfangshalle aus, um die angekündigten Neuzugänge aus der Nähe betrachten zu können. Das Frühstück hat sie ausfallen lassen. Eine Tasse Kaffee trank sie in Eile, das reichte ihr.
Unruhig verfolgt sie jeden, der auch nur in die Nähe der Eingangstür kommt. Von ihrem Platz aus schaut sie direkt auf die Straße. Sie sieht den Menschen zu, wenn sie am Haus vorbeilaufen. Sie hofft auf einen Blick von draußen.
Einen Blick von einem Menschen will sie erhaschen, einen Blick, der nur ihr gilt. In Rückblicke versunken, denkt sie an ihren Sohn. Sie hofft, er würde sie bald besuchen. Viel zu lange wartet sie schon auf ihn. Wochen sind vergangen, seitdem er sich nicht mehr bei ihr gemeldet hat. Hilde ist traurig über sein Verhalten.
Während sie darüber nachdenkt, kommen die anderen Bewohner vom Frühstücksraum dazu. Die Halle füllt sich.
Hilde hat sich an das Gemurmel der Bewohner gewöhnt.
Sie schaut nicht mal mehr in deren Richtung.
Ihr ist nicht bewusst, warum man sie meidet. Hilde bleibt allein. Die Hausgenossen, die etwas abseits von ihr sitzen, meiden auch heute ihre Nähe. Sie nehmen kaum Notiz von ihr.
Für Hilde ist der Weg nach draußen ein Tabu, da sie die Unsicherheit auf der Straße zu laufen, auch hier nicht verloren hat. Im Haus fühlt sie sich sicher und geborgen.
Geduldig wartet sie auf die Neuankömmlinge.
Werden